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Liebe Freitag.

Es ist unübersichtlich, man kriegt hier im Immobiliengeschäft keinen Fuß auf den Boden, und wenn, dann höchstens mit Angeboten, die nicht wirklich abgelehnt werden können. Eine unübersichtl. Situation.

Die Adresse ist 1281, 36ste Straße, West. Der Wyman Tower, Produkt der frühen Dreißiger, in einem Art-déco-Stil erbaut, aber zurückhaltend mit geraden senkrechten Linien in rötlicher Granitverblendung. Achtundsechzig Stockwerke. Stahlskeletthaus. Oder besser Stahlrasterskelett, eine Konstruktionsweise, die den oberen Abschnitten bei weniger Gewicht größere Stabilität verleiht. Das spielt hier keine Rolle.

Ich kaufe die oberen sechs Stockwerke, verhandele mit Blum von der Firma Blum & Shearl, mit Blum selber. Genauer gesagt, ich kaufe den Teil des Luftraumes, in dem sich die oberen sechs Stockwerke befinden. Das ist auch eine Eigenart New Yorks, die Aufteilung des Luftraumes: Je nach Zone hat jedes Grundstück ein festgeschriebenes Luftvolumen, einen, sozusagen, aufgesetzten imaginären Kubus, den man nach dem Gesetz beliebig ausfüllen kann. Etwa flach und breit bis an die Grundstücksgrenze reichend, oder schlank und entsprechend hoch — es darf nur das Gesamtvolumen nicht überschritten werden. Und dieses richtet sich nach der Zone. In Manhattan zum Beispiel ist es zehnmal größer als beispielsweise in Queens.

Und das Merkwürdigste: Man kann vom Nachbarn Luftraum dazukaufen, falls der den seinen nicht voll ausfüllt. Und vom anderen Nachbarn auch noch, notfalls bis zu den Wolken wachsend!

Fünf Stockwerke benötige ich für den Umbau und einen als Pufferzone. Im Augenblick befinden sich dort oben nur ein paar Chefetagen und ein Betriebsrestaurant. Ich werde mit meinen sechs ein größeres Gewicht im «Board» haben — das ist das Aufsichtsgremium für das Gebäude —, es zählen dann noch Worldnews Incop. mit zehn, Brockman limit. mit acht, und Amstel, Tell & Kirschbaum, eine Anwaltsfirma von cc. dreihundert Anwälten, Haftungsrecht (das sind die gefährlichsten), mit sieben Stockwerken.

Derzeit wohne ich im Chelsea Hotel in der 23sten Straße, einem ziemlich miesen Kasten mit einem zerbrochenen großen Spiegel in der Eingangshalle — angeblich soll hier einst Allan Ginsberg seinen Anhängern die Hand zum Kuß gereicht haben. Die Ringhand. Ich werde hier als Mr Dobs geführt, nicht ganz ohne Risiko, doch das muß hingenommen werden, solange sich das Penthaus im Bau befindet. Morgens verlasse ich um sechs das Hotel und gehe verläßlich zur Arbeit, abends kehre ich ausgemergelt und ausgepowert zurück, aber verläßlich. Mr Dobs aus Witchita, Massachusetts, dem im Leben nichts geschenkt wurde. Tagsüber arbeitet er als Reinigungskraft, Frau oder Kinder scheint es nicht zu geben, auch keine Verwandten, die hier aufgekreuzt wären. Mr Dobs hat sogar seine eigene Historie im Hotel: Eines Tages war sein Gebiß verschwunden.

Ja, das war eine leidige Geschichte, die allen noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Es war eine Oberkieferprothese, die er sich unter großen Opfern hatte machen lassen. Eines Morgens vergaß er, sie aufzustecken und merkte es erst, als er sich über die Geringschätzigkeit gewundert hatte, mit der er behandelt wurde. Selbst nette alte Damen, denen er im Bus seinen Platz anbot, achteten ihn nicht.

Als Mr Dobs ins Hotel zurückstürmte, kam er gerade noch zurecht, oben den Servicewagen in den Fahrstuhl rollen zu sehen. Sein Zimmer war bereits gemacht, das Gebiß fehlte. In der Rezeption nichts. Das Zimmermädchen war beleidigt, niemand beklaue hier niemanden (nobody steals no teeth). Im Abfall? Also, das wäre immerhin möglich gewesen, im New Yorker Abfall befinden sich die absurdesten Gegenstände: Handschuhe mit noch darin befindlichen Fingern.

Solche Geschichten haften (das Gebiß fand man später in der Küchentonne, das Gold fehlte).

Mr Dobs?

Oh, der, dem sie die Zähne herausgebrochen hatten, im Schlaf. Armes Schwein.

*

Du solltest nicht zuviel riskieren.

Ich riskiere gar nichts.

Nur den Mann aus Witchita, Mass.

Und den kann ich jederzeit verschwinden lassen.

Du hast doch gar kein Gebiß!

Nein, erwidere ich, aber ich kann mir jederzeit eins aufstecken.

*

Um aber auf das Risiko zurückzukommen. Vielleicht ist es von Interesse, sich die Sicherheitsvorkehrungen im Wyman Tower anzusehen, die bestehenden Vorkehrungen. Da ist zunächst die blendend in Messing gefaßte Drehtür zur Straße, die auf Knopfdruck blockiert werden kann. Da sind zwei Portiers am Empfangstisch, uniformiert, ausgestattet mit einem Bildschirm zur Identifizierung der Bewohner, und da ist noch ein dritter Mann in Zivil, plaziert im Clubsessel vor den Fahrstuhltüren, mit Zeitung. Fahrstühle selbst nur benutzbar nach Freigabe vom Empfang her, drei von ihnen separat nur mit Privatschlüssel zu den oberen Etagen — und einer, meiner, ganz und gar durchgehend bis zum dreiundsechzigsten Stock. Mit zusätzlichem Privatcode, der noch dazu verändert werden kann, dem Zugangsritus einer Bank nicht unähnlich. –

Obwohl immer noch weit entfernt etwa von dem der Chase Manhattan, wo den Benutzern von Schließfächern Maschinenwaffen aus Schießscharten entgegensehen und wo sich der gesamte Fußboden, ein Stahlfußboden, erst absenken muß, um überhaupt die Türen freizugeben. Soweit sind wir hier noch nicht, es herrschen immer noch weißer Marmor und Kristallleuchter vor. Und feine Mahagonisessel mit Chippendalegeflecht.

New York.

Die sicherste Stadt der Welt, es gibt keine sicherere.

Wenn ich morgens meinen Bus nehme, fahre ich zwölf Blocks nördlich auf der Lexington bis zur Haltestelle Fünfunddreißigste, gehe dann aber nicht bis zur Sechsunddreißigsten vor, sondern biege vorher in die rückwärtige Straße, die Back Alley ein, betrete den Wyman Tower durch den Lieferanteneingang. Mit Dienstausweis.

Die Korridore des Wyman Towers haben eine Gesamtlänge von fast sechs Kilometern, durchgehend mit beigefarbenem Teppichboden und Sternenhimmel ausgestattet. Von denen ich allerdings nur die acht Meter kurz vor der Eingangshalle zu sehen bekomme. Hier unten im Servicebereich herrscht blanker Beton und schlechte Luft, kein Himmel! Eimer und Besen finde ich in der Bereitstellung sowie die nötigen Putzscheuer- und Poliermittel sowie ein frisches Poliertuch. Jetzt bin ich fit.

Nachdem ich vorne am Eingang geklärt worden bin — Dienstausweis, Brille und kleine Warze unter der Lippe —, erhalte ich Zugang zum Fahrstuhl, den Schlüssel habe ich. Wobei ich achtgeben muß, daß die Warze immer an der gleichen Stelle sitzt, ich habe gelernt, daß es die Unebenheiten sind, auf die die Leute sehen.

Die Warze sitzt rechts.

Der Fahrstuhl hebt mich dann zusammen mit Eimer, Besen und Putzmittel in achtzehn Sekunden auf das dreiundsechzigste Stockwerk, wo wir in einem Vorraum münden. Einem privaten Vorraum. Er ist oval und fensterlos, getäfelt in Dengueholz, und teefarben — jawohl, teefarben — beleuchtet. Es erklingt leise Musik. Das bewundere ich jedes Mal, diese Art musikalischer Beruhigung. Denn hier sitzt ein Wächter auf dem Stuhl, oh, hergerichtet als Butler mit dunkelgelb gestreifter Weste und bösem Blick. Ich wünsche einen guten Morgen.

Erhalte keine Antwort.

«Ist er zu Hause?»

– –

«Ist Don Marco oben?»

Keine Antwort.

Ich sage: «Bumm!!»

Da ist er aufgewacht, er haßt mich.

Die andere Fahrstuhltür, zu den restlichen fünf Stockwerken, befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ovals. Dazu muß ich aber an ihm vorbei, und böse ist der Blick auch nicht, er ist nur tödlich.

Ich bin einmal draußen gewesen, denn es gibt noch eine dritte Tür, die aus dem Oval herausführt. Draußen ist das ganze Stockwerk völlig leer, kalt und grau, von einem Ende bis zum anderen völlig überschaubar, keine Zwischenwände, nur Stahlpfeiler, Fenster ringsum blicklos grau, man nennt das «sanded». Der Eindringling, der hier durchbrechen will, hat keinerlei Chance, vor allem hat er keinerlei Deckung, und die braucht er auch nicht — ich würde sagen, wer auch nur den Gedanken faßt, kann sich von vorneherein als abgeschrieben betrachten. Der ovale Raum um den Fahrstuhl herum fungiert dann nämlich als Schießstand. Ich denke, das könnte vielleicht von Interesse sein.

Doch, einen Gegenstand gibt es in dem leeren Stockwerk, er steht ganz in der fernen Ecke. Eine Badewanne, eine unmotiviert dastehende weiße Wanne, darin sitzt eine Puppe, sehr lebensecht gemacht, bis zu den Schultern in hellgrünem erstarrten Badeschaum. Ich habe nie herausfinden können, was sie bedeutet.

Kunst?

*

Ich nehme dann den zweiten Fahrstuhl nach oben. Er ist noch luxuriöser als der erste, im Abheben und Anbremsen wie ein Luxuskissen. Fahre bis zum Küchentrakt hinauf, wo ich gleich vorne in einem kleinen Waschraum verschwinde, und hier nun, aufgepaßt, geschieht eine merkwürdige Verwandlung. Jeden Morgen.

Hineingeht ein Mr Dobs. Herauskommt Marco Marconi, auch genannt Don Marco oder einfach M.M., und den sollte man besser nicht kennen.

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