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Lieber Freund, meine Damen und Herren.

Dies ist der Ort, wo wir das Licht der Welt erblicken.

Du und ich, und alle miteinander.

Auf den weiten Ebenen der Festplatten, im Elektronendunst und den schwülen Dschungeln der Digitalanimatoren. Wo wir lieben und hassen, uns von Herzen gehen lassen, wo wir überhaupt erst existieren — insbesondere du, lieber Freund, der du dich ja weiterhin bedeckt hältst. Soweit es dein Vorhandensein betrifft. Übrigens, was heißt eigentlich virtuell (virtual)?

Ahhh, das heißt es eben nicht.

Es heißt, übersetzt, «beinahe, eigentlich, fast». Das heißt es.

*

Ich erinnere mich, es war an einem jener grauen Tage, als wir uns zum ersten Mal begegneten, ein Sonntag, in Grevesmühlen war es, wenn der Passantenstrom den Nullpunkt erreicht hat und die Einwohnerzahl insgesamt beim Schweinebraten sitzt. Ein kühler regnerischer Tag mit einem einzigen Fußgänger weit und breit.

Ich gehe die Otto-Grotewohl-Straße hinunter bis ganz zum Ende, und dann gehe ich wieder zurück. Es hätte ja sein können, daß auch eine Käthe — irgendeine Käthe — die Otto-Grotewohl-Straße hinabgeht. Der Geruch von Kohlenstaub. Die zugigen Straßenecken. Kein Zeitungsstand ist offen, soll ich die Depression noch vertiefen? Ein einsamer Hund? Ein klapperndes Straßenschild? Da erscheinen die drei goldgelb erleuchteten Vierecke gegenüber der Raiffeisenkasse doch als tröstliche Oase: «Bodos Internet-Café». Drinnen leicht überheizt, leicht parfümiert, das Publikum schweigt, sitzt an nicht mehr als sieben einzelnen Tischen auf einer erhöhten Stufe für einen Euro pro Stunde, während man unten an der Theke den ganz guten Kaffee bekommt. Jawohl, wenig Sahne und etwas Kakaopulver obenauf, habe ich das erwähnt? Publikum ruhig, in sich gekehrt, mit offenbar fremden Welten in Verbindung, vielleicht sind es aber bloß Rechnungen, die sie lesen. Der einzig Laute in diesem Lokal ist der Besitzer selbst, ein Exote, der für seinen eigenen Bedarf Musik auflegt, denn ich glaube nicht, daß hier irgend jemand etwas mit den stark verschleppten Rhythmen anfangen kann, die er auflegt.

Also gut, ich trete in den «Chat»-Raum ein.

14:20, 4. April, sonntags.

Ich erinnere mich, es war kein Ruhmesblatt. Als einzige Entschuldigung kann ich nur die Anonymität anführen, die Gesichtslosigkeit, ohne Gesicht wird der Mensch waghalsig und schämt sich nicht. Das heißt, heute schäme ich mich, wenn auch nicht sehr, ich schäme mich virtuell, fast oder beinahe. So wie es gelaufen ist. Trat also über das Freenet in das Forum ein und hätte nun auf der Startseite die freie Wahl gehabt:

Angeln

Briefmarken

Flirt

Hexenkessel

40er

Esoterik

Plauderecke

Rollenspiele

Buchklub

Friends 4 ever

Höllenpforte

– –

Ich öffne meine Maske — Nickname: Robinsonsuchtfreitag, Passwort: Fidschi, ich klicke kurz mein Profil an, zu sehen, ob es eingeloggt ist, es ist eingeloggt. Lieblingskleidung: Angelo Litrico, Lieblingsgetränk: Scotch, ich bin schlank, 186 cm, Haare braun, Augen blau, Typ: klassisch elegant, Gelegenheitsraucher (stimmt nicht), keine Kinder, positiv: phantasievoll, negativ: geizig (so, jetzt will niemand mit mir sprechen). Lieblingsessen: Wiener Würstchen, Lieblingsbeschäftigung: Salsa tanzen.

Ich betrete den R a u m, alle wissen jetzt, daß ich anwesend bin, es sind weiterhin anwesend: Engelchen, Ava 1975, Clyde X, Altmarkboy Milchschnitte, Picknicker, Weblost, Partytobias, Patrick-Gotha, 100%ige Böse. Ich sage: Hi, Böse. Sie antwortet nicht, ich verlasse den R a u m, alle wissen jetzt, daß ich den Raum verlassen habe.

Aber ich kann auch wieder eintreten.

Hallo!

Wer ist da (anklopfen)?

Wer bist denn du?

Keine Antwort.

Und wer bist du?

Ich bin neu hier.

Hallo Neuhier.

Das Thema ist, wie erwartet, ein schlüpfriges: Frühkindliche Sexualschäden mit allem Zubehör, Pinkeln, Einkoten, Eßsucht und Eßverweigerung, das Innere Kind und das Äußere Kind, Liebesverweigerung und als besonderes Anliegen der Milchschnitte: Geschlechterhaß.

Wer ist Scheiß Robinson?

Wer scheißt da?

Ich mußte ja unbedingt die Höllenpforte wählen, of all places.

Bist du Soziologe?

Ich bin Proktologe.

Auhh.

Was, auhh.

Mit dem Finger im Geschehen. — Das war jetzt die 100%ige Böse.

Können wir ernsthaft reden? Ein Mann namens Frischfleisch — er ist auch noch Bayer und sagt: Paßt schon. Sein Problem ist eine früh-, in seinem Fall vielleicht besser spätkindliche Hodenmassage, die ihm von der Freundin seiner Mutter (im Beisein der Mutter) wegen eines Hodenbruchs verabreicht worden war. Und zwar des öfteren. Wie oft? Wie oft hast du diese Geschichte schon erzählt? Seitdem habe er ein gespaltenes Verhältnis.

Zum Hodenbruch?

Zur Mutter.

Auhh.

– –

Es handele sich um einen inneren Schaden, der von der Freundin gesetzt worden war. Von innen, versteht ihr mich. Die Freundin — eine Heilpraktikerin, anscheinend — gäbe es nicht mehr, den Hodenbruch wohl.

– –

Das ist ja entsetzlich (also wie oft?).

Vielleicht, daß sich der Frischfleisch eine andere Mutter zulegen sollte, sage ich, eine, die keine Freundin hat. Vielleicht, daß dann das Verhältnis weniger gespalten ist. Oder vielleicht, daß du rausgehen solltest, sagt jemand, der es sicherlich nicht böse mit mir meint. Oder vielleicht, sage ich, eine andere Freundin, daß er sich eine andere Freundin zulegt, eine, die keine Mutter hat, oder wohlmöglich doch eine Mutter hat, die ihn dann massiert. Die Freundin?

Nein, die Mutter.

– — (Raus!)

You are wicked.

I am Robinson.

You are a wicked Robinson. — Das kam jetzt von einer Seite, die sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hatte.

Who are you?

I am Friday.

Hallo, Friday (where have you been).

– –

– –

I was here before you.

Hallo Beforeyou.

Und hier wären wir wahrscheinlich schon wieder geschiedene Leute gewesen. Außerdem stellten die frühkindlichen Schäden für mich eigentlich kein sehr ergiebiges Thema dar — eigentlich nicht — und ich war tatsächlich im Begriff, den R a u m zu verlassen. Doch schien der Freitag irgendeine Art Humor zu haben.

Bist du ein schöner Mann?

Nein — bist du schön?

Nein.

– –

Ja, und damit allerdings hatte er einen wunden Punkt berührt — m e i n e n (frühkindlichen) wunden Punkt. Ich darf das hier einmal ohne jedes Pathos in den Raum stellen. Denn eigentlich hatte ich nie Robinson sein wollen, nicht der bärtige Mann mit dem häßlichen Borkenhut und den plumpen Fellschuhen, wie er in meinem Robinsonbuch abgebildet war. Viel lieber wäre ich der glatthäutige Freitag gewesen, der auf Seite dreißig glatt und braunglänzend die Palme erklimmt. Feingliedrig und frei und nicht eingenäht in lauter Tierfelle, die noch dazu, soweit ersichtlich, steinhart waren. Aber ist es immer nur der Neid gewesen oder war es vielleicht die Erkenntnis, daß alles menschliche Bemühen, alle Stein- und Eisenzeit durch einen einzigen perfekt ausbalancierten Sprung des Panthers aufgewogen wird. Unerreichbar und in zwanzigtausend Jahren nicht zu verbessern. Und wenn mich jemand fragte, warum ich lieber Freitag gewesen wäre, weil er einfach schöner war, deshalb.

Bist du noch da?

Ja.

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