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Lieber Freitag.

Ein Umstand bereitet mir Sorge. Wieso hatte ich die beiden Gangster nicht frühzeitig entdeckt. In Grevesmühlen sieht jeder jeden mindestens einmal am Tag, spätestens am Nachmittag, auf der Otto-Grotewohl-Straße. Ich wußte doch, wie sie aussehen, ein Dicker und ein Dünner, also wieso. Dafür gibt es nur eine Erklärung.

Man mußte sie ausgewechselt haben.

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Sie wechseln sie aus!

*

Ich gebe zu, es macht mir Angst. Bisher habe ich mich einigermaßen darüber hinweggesetzt, das sollte man mir zugestehen. Einigermaßen fröhlich. Ich habe meine Brüder Karamasow einigermaßen lächerlich gemacht (ich darf sie doch so nennen), ich habe mit Entsetzen gespielt, gewissermaßen.

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Ich werde dir sagen, wovor ich Angst habe. Vor der Fingerfolter. Davor habe ich Angst, da beschleicht mich das Entsetzen, vor der ganz gemeinen und simplen Methode. Daß sie mir zusetzen, daß sie mir die Finger zerquetschen. Es soll Stunden um Stunden dauern, wie man hört, und es gibt nicht einmal die Möglichkeit, gnädig das Bewußtsein zu verlieren, weil es nur die Finger sind.

Lieber Freitag, erkennst du die Tragweite?

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Dazu muß ich aber weiter ausholen …

Mein Vater hat gesagt, «wer dich nicht kennt, kann dich nicht verraten». Damit meinte er seine heißgeliebte Anonymität, die er Zeit seines Lebens vertrat. Und auch weiterhin zu vertreten versuchte, im Umgang mit Leuten, in der Wahl seiner Adresse, obwohl sich einiges bezüglich unserer Vermögensverhältnisse verändert hatte. Vater war fein geworden, er trug nun bestes Tuch, maßgeschneiderte Hemden, er fuhr einen Maybach, der ja auch nicht gerade billig ist, hechtgrau speziallackiert, blank wie eine Glasscheibe. Verstieß damit eigentlich gegen seine eigenen Prinzipien. Unsere liebe Mutter, Ehefrau, Schwester, Schwägerin und ehemals weißer Geist des Hauses war nur noch bettlägerig, ein Trauerspiel. Ich hatte meine Lehre als Bankkaufmann beendet und war, wenn man so wollte, tätig, wenn auch zeitlich begrenzt. Denn wir sind sehr oft umgezogen damals, nach Essen, nach Ludwigshafen, später nach Berlin. Es hielt meinen Vater leider nicht sehr lange an einem Ort, er kutschierte in seinem Maybach umher, und dann waren wir wieder umgezogen.

Zuletzt nach Luxemburg.

*

Luxemburg stellte eine Art Kulmination dar, in Luxemburg war man angekommen, und nicht nur finanziell. Wir bewohnten eine kleine «Obere Villa», die Vater zu einem, wie ich annehme, beträchtlichen monatlichen Preis gemietet hatte, einen viereckigen Turmbau mit seitlichem Flügel in massisch pompejanischem Stil. Es gab viele solcher Villen wohlsituierter Leute in dieser Lage, alle mit Blick über das Alzette Tal. An sich war das Haus viel zu groß für uns, und seit Mutters Tod herrschte Lotterwirtschaft, die jeder Schönheit abträglich war. Überall lag Zeug herum, das schöne Goldmosaik im Eingang war mit nassen Mänteln zugehängt und die Figuren des Treppenaufgangs im Staub vergraut. Überhaupt wurde Vater zunehmend nachlässiger, seit diese große lymphatische Frau von uns gegangen war. Ihre stille weiße Gegenwart füllte noch immer die Räume, ein ans Fenster gerückter Stuhl, den niemand fortgerückt hatte, eine geklebte Tischdecke, in die sie mit dem Brotmesser gefahren war, ein Handtuch (ihr Handtuch) am Haken. Ich glaube, zu Lebzeiten hatte Vater sie nie völlig wahrgenommen. Jetzt finde ich ihn plötzlich im Badezimmer, wo er selbstvergessen auf eine Haarbürste schaut, die dort liegt. Oder er steht in der Halle, steht dort mit geneigtem Kopf und horcht, horcht auf was? Weißt du nicht, daß ich schlafe? Ich muß das leider sagen, weil die Dinge eben doch nicht ganz so lagen, wie sie lagen, und die letzte Konsequenz — Gott steh mir bei — definitiv die letzte sein würde. Mein Vater, «Der Eismann» oder «Der Mann im Eis».

Einmal, als ich von meiner Arbeit in der Bank nach Hause kam, stürzte er mir mit einem anscheinend allzu hastig gepackten Koffer entgegen, ein Hemdsärmel hing heraus, und den Hut hatte er sich verkehrt herum übergestülpt. Er brüllte mir etwas zu und ich dachte, er hätte vielleicht einen eiligen Auftrag und der Flieger startete in wenigen Minuten. Es dauerte aber fast sechs Wochen, in denen ich vor Angst verrückt wurde — bis er zurück kam, und das ohne große Erklärung. Ich gebe aber zu, daß ich damals bereits meine eigene Erklärung hatte, eine sehr bestimmte sogar, schließlich hatten sich ja genügend Hinweise angesammelt. Nein, bezüglich Mitwisserschaft bekenne ich mich durchaus schuldig, immerhin war ich in diesen fast sechs Wochen nicht zur Polizei gegangen.

Oh, das habe ich vergessen. Zwischendurch kamen zwei Herren, die sich höflich nach meinem Vater erkundigten, beide viel zu gut gekleidet, es klingelte, und da standen sie vor der Tür. Sie erschienen sogar zweimal, ein Kleiner und ein Großer, der Kleine hatte Schuhe aus weißem und braunem Leder, die wie Tiere im Zoo aussahen. Die Höflichkeit reichte auch nur bis zur Mitte des zweiten Besuches, brach dann abrupt ab, und beim Verlassen des Hauses tat der Größere der beiden etwas Eigenartiges, er drehte sich plötzlich um und zeigte mit dem Finger auf mich. Was immer das bedeuten sollte.

*

Luxemburg war zu dieser Zeit gerade entdeckt worden, ich meine das Luxemburg der Steuermüden, der braven kleinen Betrüger, die hier Tag für Tag eintrafen und honorig durch die Stadt liefen. Voller Angst, versteht sich, aber auch voller Bedeutung und Gewicht, weil sie sich für reich genug hielten, von dem Umstand, der sie herführte, Gebrauch machen zu müssen. Mit gesetztem Kinn und feinem Lächeln und möglichst unerkannt, natürlich, daran erkannte man sie.

Genauer gesagt gab es drei Sorten, die sich im Stadtbild abzeichneten: Die teure Sorte, die mit rothaarigen Sekretärinnen im «Grand» oder im «Imperial» abstieg — mit schwindelerregendem Blick auf die Unterstadt —, wobei diese, die Sekretärinnen, eine Nacht lang ungeniert laut stöhnten (ich habe es gehört). Die zweite, die mittlere Sorte hingegen, war eigentlich die interessantere. Es waren Ehepaare, ältliche oder mittelalterliche, Hand in Hand, er hellgrau mit Mütze, sie im Kostüm von Hertan (nicht Hertie). Das war das Interessante, daß sie sich an der Hand hielten, wohl weniger aus Liebe: Sie kamen im Auto mit Düsseldorfer Kennzeichen und wurden hier für einen Tag kriminell. Und dann gab es noch die wirklich Kriminellen, die mit kleinen Schachteln im Bahnhofsviertel abstiegen, klar erkennbar als untere Sorte. Sie trugen feine Anzüge, nein, keine Streifen, derzeit trugen sie Hahnentritt, dazu Schuhe aus weißem und braunem Leder, naja, das ist natürlich ein dummes Klischee, in Wahrheit waren sie nicht zu erkennen, außer daß sie im Hotel Rio oder im Great Western abstiegen. Der Bahnhof in Luxemburg übrigens ist ein phantasievolles Gebäude im Ananas-Stil der Jahrhundertwende mit wuchernden Säulen, Türmen und Figuren, und insofern schon eine Reise wert.

*

Es kam der Tag, an dem mein Vater zusammenbrach, laut und scheppernd in der Küche, wo er Kartoffelkroketten für sich in der Pfanne briet. Ich hörte das Geräusch vom oberen Stockwerk her, es war ein Stapel Geschirr, der zertrümmert am Boden lag, daneben mein Vater mit ausgebreiteten Armen. Ich glaube, er hatte zusammenbrechen w o l l e n, angesichts der fürchterlichen Lage, in die er sich gebracht hatte, das glaube ich heute, damals dachte ich zunächst, er hätte einen Herzschlag erlitten.

«Vater!»

Er betrachtete mich, als ob er mich zum ersten Mal in seinem Leben sähe, dann richtete er sich auf.

«Erinnerst du dich an das Haus in Minden, in dem wir wohnten? Mit Mutter?»

«Vater!» rief ich, «beruhige dich doch!»

«Mit Mutter.»

«Es ist ja gut, Vater», rief ich in meiner Angst, «es ist nicht schlimm, es ist gar nicht schlimm, du bist gestürzt.»

«Nein, nein», beharrte er, «in Minden, weißt du, was da im Hof war, was ich da gemacht habe?» Was hatte er gemacht, den Dreck von einer Seite auf die andere gekehrt, wie ich mich erinnerte, von einer beschissenen Seite auf die andere.

«Nein, nein, was ich da hatte?»

«Was hattest du.»

«Einen Briefkasten!»

Einen Briefkasten, das machte mir nun wirklich Angst, daß er darauf bestand. Ich holte ein nasses Tuch, ein Glas Wasser, seine Herztropfen, hatte er überhaupt Herztropfen? Ich glaube nicht.

«Nein, nein», er richtete sich auf.

«Jetzt leg dich wieder schön hin, am besten aufs Sofa, siehst du, da kannst du mir in aller Ruhe die Geschichte von deinem Briefkasten erzählen.»

«Im Hof», krächzte er.

«Ja, ja, im Haus, eine ganze Reihe», beruhigte ich ihn, «für jede Wohnung einer.»

«Nein, nein», jetzt krächzte er wirklich.

– –

«Der Briefkasten im Hof!!!»

Oh, Gott, es war heraus, Vater war wirr im Kopf geworden. — In diesem Augenblick schlug die Uhr in der Diele zwölf, und wie durch Zauberei schlugen kurz hintereinander auch die Uhren von St. Michael, von St. Jean und die der von hier aus nicht sichtbaren großherzoglichen Residenz — dazu muß man wissen, daß Luxemburg ein höchst dramatisches Stadtbild hat, reich gebaut, imponiert es vor allem durch dramatische Höhenunterschiede. Von den Festungswällen schaut man senkrecht zweihundert Meter in die Tiefe, wo kleine Eisenbahnen fahren, wo Parks und Obstgärten sich erstrecken, Kinderspielplätze mit ganz winzigen Kindern ohne Laut bei diesem Höhenunterschied. Das erklärt auch, daß die Stadt selbst niemals, weder von den Habsburgern, noch den Franzosen oder Niederländern je erobert wurde. Man saß hier immer in Sicherheit.

Zwölf Uhr. –

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