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Lieber Freitag.

Jetzt weiß ich, wo du bist, du bist im Gefängnis.

– –

Gib es zu, entweder im Krankenhaus oder im Gefängnis, eins von beiden, anders ist es nicht zu erklären, wenn ich die Abstände nehme, die du angibst.

– –

Lieber Freund, da hilft kein Heulen und kein Zähneklappern, ich habe dich erraten, nein besser, ich habe dich errechnet, ohne jeden Zweifel, da hilft nichts.

– –

Entweder Sanatorium oder Strafanstalt, da sitzt du ein. In Neustrelitz?

Nein.

Ich glaube, doch!

– –

Du sagst, dein Nachbar schnarcht. Wie kannst du das wissen? Du sagst, er sei ein furchtbarer Prolet, er schnarche den Putz von den Wänden. Wenn er den Putz von den Wänden schnarcht, muß er ziemlich nahe liegen, gib es zu. Du bist in der Strafanstalt Neustrelitz (Justizvollzugsanstalt).

Nein.

Du bezeichnest deinen Nachbarn, der dir anscheinend sehr am Herzen liegt, als Proletarier ohne Vorhänge am Fenster, ohne Bilder an der Wand, ohne einen Blumentopf, den er haben könnte. Welches bedeutet, daß du einen hast. Einen Blumentopf.

Nein.

Mir ist bloß nicht klar, wie du tagtäglich an einen Computer kommst. Wahrscheinlich hast du einen Druckposten in der Anstaltsbibliothek, oder vielleicht in der Rechnungsstelle?

Du hast einen Kanarienvogel, sagst du, der Nachbar habe keinen, obwohl er sich einen zulegen könnte, der Prolet. Er habe sogar gedroht, deinem Vogel den Hals umzudrehen (den verdammten Hals), weil ihn das Gepiepse störe. Habe er gedroht!

– –

Was ist das? Stehen bei euch die Türen offen? Im Sanatorium sind die Türen zu, und es gibt keine Kanarienvögel, oder doch?

Ich weiß es nicht.

Bis zum Bahnhof sei es ein guter Spaziergang von zweitausend Schritt, sagst du, zweitausend. Anscheinend geben sie euch Brüdern viel zu viel Freigang. Neulich vor dem Bahnhof, wo du dir am Zeitungsstand jeden Samstag deine Zeitung kaufst, sagst du, komme dir der Kerl grinsend entgegen, grinse auf ganz gemeine Weise, tippe sich an die Stirn und dann quer über den Hals. Aha. Das bedeutet doch in einem Rotwelsch: Du hast einen Vogel, den werde ich kaltmachen. Das heißt es doch, gib es zu, und wieso kriegt ihr überhaupt so oft Hafturlaub, nächstens kriegt ihr noch Urlaubsreisen nach Kühlungsborn verordnet.

Wir kriegen gar nichts.

Ach nee.

Und den Kanari kannst du dir auch noch reinschieben.

Menschenskind, du sitzt in Neustrelitz, willst du das nicht endlich zugeben.

– –

Da käme höchstens noch eine Kleingartenkolonie in Frage. Die armen Schweine dürfen ja auch nichts, keine Bäume, keine Sträucher, und Kanarienvögel schon gar nicht.

*

Ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, nach Neustrelitz zu fahren, weit war es ja nicht, um die Strecke vom Bahnhof bis zur Haftanstalt abzuschreiten: Es waren zweitausend Schritt.

Aber zuvor noch ein kleines Geständnis. Es war nicht das erste Mal, daß ich mir Neustrelitz ansah, und es war auch nicht das einzige Neustrelitz. Ich hatte von jeher eine Neigung zu Gefängnissen, sind sie doch, meiner Meinung nach, der einzig sichere Ort, an dem man sich aufhalten kann — ich meine, der wirklich sichere Ort, ich übertreibe gar nicht. Ich denke an die ungeheuerlichen Sicherheitsmaßnahmen, die zu bezahlen kein normal lebender Mensch in der Lage wäre, die Schutzmauern, die Schutzgitter, Messerdrähte, Stahltüren, der ganze ungeheuerliche Eisenbeton, den sollte man sich einmal vor Augen führen. Ganz zu schweigen von Alarmeinrichtungen, Besucherschleusen, Körperscannern, Schußkanälen, Wachttürmen, Geländeradar und Pupillenerkennungsmaschinen, ich kann die Aufzählung gar nicht beenden, und ich spreche noch nicht einmal von den Personalkosten, die zu zahlen sind. Die Kosten für die teuerste Hollywoodvilla wären ein Pappenstiel gegen diesen ungeheuerlichen Luxus.

Der umsonst zu haben ist! Auf Staatskosten!

Ein einziger zu Recht oder zu Unrecht ausgelöster Alarm mit all den weitgreifenden und auch weiträumigen Konsequenzen, habe ich errechnet, entspricht ohne weiteres dem Äquivalent einer Hochseeyacht. Und das möglicherweise zweimal am Tag. Denn das gleiche Instrumentarium, gedacht, um Leute am Ausbrechen zu hindern, ist natürlich gleichsam geeignet, Leute am Einbrechen zu hindern: Jemand drinnen ist gleich jemand draußen. Ich möchte behaupten, selbst die ehrenwerteste Gesellschaft (!) dürfte nicht in der Lage sein, dort einen Killer hineinzuschicken, außerdem wollen sie mich ja lebend und nicht tot. Soviel zum Lob deutscher Gefängnisse.

Größten Respekt zum Beispiel habe ich immer diesen rollenden Stachelwalzen über Türen und Mauern gezollt, die man nicht zu fassen kriegt. Hellblau, hellrosa, beige, irgendwie pädagogisch.

*

Habe also die zweitausend Schritt abgezählt. Durch den leicht aufwärts führenden Tunnel in die Schelfstraße links hinunter bis zum Mühlplatz vorbei am Gasthof Altendorfer Schleuse auf die Pinnower Chaussee und dann immer geradeaus. Stand mit dem zweitausendsten Schritt direkt vor dem Eingang. Der Beweis.

Es ist ein langgestreckter mehrflügeliger Komplex, flach in die Landschaft gesetzt und gar nicht augenfällig. Mehr wie eine große Chaussee wirkend. Die umgebenden Mauern gar nicht hoch, weil tief in das Gelände gesetzt, man sieht nicht, daß es sich um zwei konzentrische Ringe handelt, die ringsum Laufbahnen für Wachhunde umschließen. Eine eigentlich ganz hübsche Anlage, vor dem Pinnower Wäldchen. Ich habe sie in weitem Bogen umrandet, indem ich darauf achtete, nicht ins Schußfeld der sicherlich vorhandenen Gefechtsstände zu kommen. Habe mich auch hier über die auf den Mauerkranz gesetzten rotierenden Stachelrollen gefreut, die in der Sonne glitzerten. Wie Spielzeug eigentlich. Es herrschte ausgesprochen schönes Wetter an diesem Tag, die Birkenstämme des Wäldchens sahen sonntäglich frisch gewaschen aus, behagliche Stille, und ich konnte mir gut vorstellen, wie ich jetzt mit den Wärtern drinnen einen kleinen Umtrunk nahm. Wobei es sicherlich nicht schadete, auch einmal einen Champagner auffahren zu lassen, nicht wahr, auch einmal ein Kaviarbrötchen zum guten Beginn.

Ich habe das Projekt seinerzeit sehr wohl durchdacht, habe die vorhandenen Möglichkeiten aber auch Unmöglichkeiten durchgespielt und bin zu dem Schluß gekommen, mit Geld läßt sich alles machen. Man müßte versuchen, zwei, vielleicht sogar drei Zellen nebeneinander zu bekommen, in möglichst ruhiger Lage, also nicht gerade neben irgendwelchen Krakeelern. Ein paar Durchbrüche wären notwendig, ein paar Umbauten. Ich gehe davon aus, daß es sich um die genormte Zellengröße von drei mal dreieinhalb Metern Grundfläche handelt, mit Waschbecken, Klo, Bett, Stuhl und Tisch. Das muß natürlich gestaltet werden, ich brauche keine drei Klos. Und dann die Beleuchtung, die ist ganz unmöglich, also Leitmotiv: Bernstein. Dann die Materialien. Wir befinden uns immerhin im Gefängnis (Hochsicherheitsgefängnis), und da gibt es naturgemäß wenig Auswahl. Also gut, ich habe meine Gefängnisliteratur gelesen, in Falladas «Blechnapf» verwenden sie gekautes Brot in größeren Mengen, Schuhwichse, Teile von Kehrbesen. Naja. Im «Chateau d’If» ist es ausgekratzter Mauerstaub, ganze Wagenladungen davon, Gesteinssplitter, Splitter von Särgen. Ich weiß nicht, ob man in Neustrelitz so sehr viel davon erwarten kann. Es ist nur ein Spaß, obwohl ich hier tatsächlich ganz gern ernsthafte Überlegungen anstellen möchte. Im «Alcatraz» ist die Grundsubstanz, mit der gebaut wird, schon sehr viel realistischer, es sind Beziehungen! Es sind politische, lokale oder sonstwelche Beziehungen, die sich zum Einsitzen günstig auswirken. Nicht nur bestes Essen betreffend, auch Vorhänge, Mobiliar, selbst Wandverkleidungen, Gipsplatten zur Raumaufteilung und sanitäre Einrichtungen. Die Gefängnisleitung ist involviert, aber auch behördliche Einrichtungen außerhalb. Am deutlichsten wird die Antwort im «Goodfellah’s» gegeben, dort ist es Geld. Blankes, solides, ganz vordergründiges Geld, in genügender Menge und an den richtigen Stellen plaziert, wobei selbst diese, die Plazierung, einem soliden, festgeschriebenen Code unterliegt. That does the Job. Da werden selbst Glasfenster und Polstertüren geliefert. Eine Spiegel-Bar? Selbstverständlich. Es ist alles eine Frage der Größenordnung.

Jawohl, ich habe mich umgetan. Ich habe die Anstalten Malchow und Neuruppin in Betracht gezogen, die Anstalten Pritzwalk und Güstrow. Habe die Entfernung zum Bahnhof abgeschritten, dreitausend, viertausend, fünftausend Schritt, alles gute Spaziergänge. Alle Anstalten zumutbar, wenn auch atmosphärisch unterschiedlich. Malchow zum Beispiel zeigte sich sehr besucherfreundlich mit farbig gestalteten Schleusen und großem luftigen Besucherraum, eher an eine Kindertagesstätte erinnernd, auch mit entsprechendem Gebrüll erfüllt. Sagte mir nicht sonderlich zu. Atmosphärisch gab es natürlich noch ganz andere Kriterien, etwa die Geruchskulisse von säuerlich reinlich bis dumpfig angsterfüllt. Teilweise zugedeckt von frischen Farbanstrichen, trotzdem — das muß ich leider sagen — immer vorhanden. Oder die Geräuschkulisse, die allerdings war sehr unterschiedlich, und deshalb gebe ich alles in allem Neustrelitz den Vorzug: Das spezifische Knallen beim Einklinken der schweren eisernen Rollgitter. Welches man Besuchern im allgemeinen vorenthält, indem man zu Besuchszeiten eben nicht einklinkt. Nun, in Neustrelitz hatte man Gummistopper verwandt, und die minderten den Gesamtpegel natürlich ganz gewaltig.

Darf ich sagen, daß ich meine Hausaufgaben gemacht habe, ich glaube, ich darf.

Und nun frage ich dich noch einmal ernsthaft: Bist du (oder bist du nicht) im Gefängnis?

– –

Nein (was nein).

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