Lieber Freitag.
Ich schreibe dies ihm und seinem Schicksal zum Gedenken, und es ist ein trauriges Kapitel, das ich schreibe.
Mein armer Vater.
Ich hatte seine Seele einmal in einer Schreibtischschublade gefunden. Skizzen und Pläne, einen ganzen Haufen, ich habe geweint. Pläne für Schlafsäcke, für Polsterstiefel, für warme Mützen, Körperhüllen zum Überleben in Eiswüsten. Man bedenke, Eiswüsten! Ausgemessen, berechnet, sorgfältig beschriftet, eine Arbeit zum Weinen.
Da ist dieser Mensch, der sich anscheinend nichts sehnlicher wünscht, als dorthin zu gehen, wohin ihm niemand folgen kann. Im Eissack, in der Polarausstattung, man bedenke. Es war nicht so sehr die völlig unsinnige Vorstellungskraft, die mich weinen machte — die Amundsens und Eriksons hatten auch ihre Einfälle —, es war die Sorgfalt, mit der hier ein eisiger Traum geplant worden war. Die unbeirrbare väterliche Präzision.
Die Arktis.
Sie ist nicht stumm, sie singt. Sie verspricht immerwährende Einsamkeit, es sind die feinen Eiskristalle, die aneinanderreiben, ein immerwährendes Sirren, in das überlaut knirschend ein Tritt hineinfährt. Die anderen sind dann kaum noch zu sehen, anfangs hatten sie aufgeholt, später sind sie zurückgeblieben, bald werden sie im flachen Licht verschwunden sein. Du gehst, du gehst immer weiter.
Sie können dir nicht folgen, weil ihnen Eiszapfen unter der Nase wachsen, bei sechzig Grad Minus. Als Beispiel. Du hast dir erfindungsreich einen Tropfenfänger gebaut, ein Töpfchen in der Kopfhaube, so daß dir keine Eiszapfen wachsen. Du gehst, gehst immer weiter, fernab das Jaulen der Verfolger.
Immer nach Norden, in die Nacht hinein, in den weißen Tod (die Nacht ist weiß), hier kann kein lebend Wesen, nicht einmal Milzbrandbakterien können hier bestehen.
Hast du das gewußt?
Daß die Eiswüste nachts trommelt?
Selbst dem Eis ist es bei Minus achtzig Grad zu kalt, es zieht sich zusammen, es reißt und fegt in Splittern davon. Und du gehst hinein in den dröhnenden Horizont, wo die weiße Sonne eine Handbreit hoch steht (es ist Mitternacht), dein Todesurteil an dir selbst zu vollstrecken. Ist das genügend unwirtlich? Ich glaube nicht, daß es etwas noch Unwirtlicheres geben könnte. Und dann bleibst du stehen, neben einer Eisbarriere etwa, oder einem Gletscherturm und legst dich schlafen.
Du legst dich …???
Ja. Du bist müde vom Fußmarsch, du gähnst, hier oder hundert Schritte weiter, es ist gleich, wo du dich hinlegst. Hauptsache, es ist gemütlich. Denn du bläst dich kugelrund auf, ziehst Hände und Füße aus den Zipfeln und machst dir einen heißen Tee hier drinnen. Einen Grog. Und wenn du noch etwas lesen willst, vor dem Einschlafen, knips die Leselampe an. Du kannst dich sogar an- oder ausziehen, es ist genügend Platz, tagsüber bist du sowieso im Unterzeug gelaufen, jetzt ist Zeit für einen Wechsel. Und dann schläfst du. Weich? Weich und sicher, Weiß in Weiß, von außen bist du sogar unsichtbar, und du träumst von der Südsee.
Hier muß ich allerdings um viel Nachsicht bitten.
Für meinen armen Vater.
Und um technisches Verständnis muß ich auch bitten, denn ein solches Unternehmen ist heutzutage mit den heutigen Materialien ohne weiteres möglich. Da schneidert er sich einen Körpersack, ein geräumiges Viereck mit vier Zipfeln an den Ecken und einer Kopfhaube obenauf — die sieht bei Vater wie ein übergroßer Kaffeewärmer aus. Die Weltraumfolie hält nachweislich zwanzig Grad Minus ab, er nimmt sie aber nicht doppelt, er nimmt sie fünffach, sechsfach, das dürfte wohl ausgereicht haben. Zehnfach?
Soweit ist es doch durchaus machbar?
Die vier Zipfel sind dann für Hände und Füße gedacht, besonders die unteren Zipfel, mit denen er dann wandelt, der wandelnde Schlafsack. Es kann ja noch ein kleiner Schlitten hinterhergezogen werden, ein Kinderschlitten zum Transport, von Pemikan und konzentriertem Bohnentopf. Und ja, etwas Energie brauchen wir auch noch, in Form dieser superflachen Leichtbatterien, die eine Menge Saft speichern.
Das wandelnde Körperhaus (mein Vater).
Die Nacht trommelt.
Die Verfolger jaulen von fern.
Der Vater schreitet in gemütlichem Zuhause.
Hast du gewußt, daß selbst die blasseste Polarsonne, knapp über der Horizontlinie, immer noch ein paar Zellen bewegt, so daß es wenigstens für das Leselämpchen ausreicht? Also gähnst du und läßt dich in eine passende Mulde rollen. Und das alles in dieser wundervollen Tarnfarbe.
Weiß in Weiß.
*
Eines Tages kam ich von meiner Banktätigkeit im Crédit Lyonnaise nach Hause und fand die Haustür offen. Ich erinnere mich, es war ein unverantwortlich schöner Spätnachmittag, die Straße still, die Luft seidig und voller Verheißung. Oder nein, es lief doch anders. Eigentlich hatte ich gedacht, Vater nach Bankschluß im Scène Noir oder wenigstens im Fleur de Lit anzutreffen, wo wir als Stammkunden sogar eigene Serviettenringe hatten und wo man draußen sitzen konnte, um die Touristen zu begutachten — die Luft war voll von Verheißung. Aber anscheinend war Vater schon früher nach Hause gegangen. Als ich in unsere Straße einbog, war sie völlig leer, ich sah gleich, daß die Haustür nur angelehnt war, ich stieß sie an, das Schloß war im Block herausgebrochen. Ich glaube nicht, daß es noch reparabel war.
Dieses Mal hatten sie die Palme aus dem Kübel gerissen, sie lag mitsamt dem Ballen vor der Treppe, gründlich zerstochert, der Ballen. Ich weiß nicht, was er ihnen erzählt hatte, es muß das Falsche gewesen sein. Und das Dröhnen im Haus, das ich hörte, hörte ich wohl in meinem Kopf.
Ich fand ihn in seinem Arbeitszimmer ausgebreitet auf dem Boden, eigentlich sah er ganz friedlich aus. Mit Ausnahme des roten Flecks auf der Stirn waren keine Zeichen von Gewalt zu entdecken. Ein starkes Herz hatte er nie gehabt.