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Gehen konnte die Ostrakowa gerade noch, und gehen war das einzige, was sie wollte. Gehen und auf den Magier warten. Nichts war gebrochen. Wenn auch ihr kleiner stämmiger Kör­per, nachdem man sie gebadet hatte, schwarzfleckig wurde wie eine Karte von den sibirischen Kohlefeldern, so war doch nichts gebrochen. Und ihr armes Kreuz, das ihr im Lagerhaus immer ein bißchen zu schaffen gemacht hatte, sah bereits so aus, als hät­ten die vereinten Geheimarmeen Sowjetrußlands sie mit Fußtrit­ten quer durch Paris gejagt: Doch gebrochen war nichts. Sie hat­ten jeden einzelnen Teil von ihr durchleuchtet, sie wie Fleisch zweifelhafter Qualität nach inneren Blutungen abgetastet. Nur um ihr schließlich düster zu erklären, daß sie das Opfer eines Wunders sei.

Sie hatten sie trotzdem behalten wollen. Zur Behandlung ihres Schocks, zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln - wenig­stens für eine Nacht! Die Polizei, die sechs Zeugen ermittelt hat­te, mit sieben einander widersprechenden Aussagen (War der Wagen grau oder blau? ein Marseiller oder ein ausländisches Nummernschild?), die Polizei hatte sie lange vernommen und gedroht, zwecks weiterer Einvernahme zurückzukommen. Doch die Ostrakowa hatte trotz allem ihre Entlassung aus dem Krankenhaus durchgesetzt.

Ob sie denn wenigstens Kinder habe, die sich um sie kümmern würden, hatten sie gefragt. Oh, gewiß, massenhaft, sagte sie. Töchter, die ihr den geringsten Wunsch von den Augen ablesen, Söhne, die sie die Treppe hinauf und hinunter bringen würden! Jede Menge - so viele sie wollten! Den Schwestern zu Gefallen lieferte sie sogar die Lebensläufe ihrer Kinder, obwohl ihr der Schädel dröhnte wie eine Kriegstrommel. Sie hatte sich Kleider besorgen lassen. Ihre eigenen waren in Fetzen, und der liebe Gott mußte höchst persönlich rot geworden sein, als er sah, in welchem Zustand man sie aufgelesen hatte. Sie gab eine falsche Adresse an, die zu ihrem falschen Namen paßte; sie wollte keine Nachbehandlung, keine Besucher. Und um Schlag sieben Uhr abends wurde die Ostrakowa durch einen reinen Willensakt zur Ex-Patientin, als sie vorsichtig und äußerst mühsam die Auffahrt des großen, schwarzen Krankenhauses hinunterging, um die­selbe Welt wiederzufinden, die an eben diesem Tag alles getan hatte, um sie für immer los zu werden. Sie trug ihre Stiefel, die wie sie selbst verbeult, aber wunderbarerweise ganz waren; und sie war mächtig stolz auf die Art, wie sie ihr Halt gegeben hatten. Sie trug sie immer noch. Im Dämmerlicht ihrer eigenen Woh­nung, während sie in Ostrakows zerschlissenem Sessel saß und sich geduldig mit seinem alten Armeerevolver plagte, zu ergrün­den versuchte, wie er sich laden, entsichern und abfeuern ließ, trug sie ihre Stiefel wie eine Uniform: >Ich bin eine Einmannar­mee. < Am Leben bleiben, das war ihr einziges Ziel, und je länger ihr dies gelänge, desto größer würde ihr Sieg sein. Am Leben blei­ben, bis der General käme oder ihr den Magier schicken würde.

Ihnen entkommen, wie Ostrakow? Nun, das hatte sie fertig ge­bracht. Sie zum Narren halten, wie Glikman, sie in Ecken drän­gen, wo ihnen nichts anderes übrig blieb, als ihre eigene Obszö­nität zu betrachten. Seinerzeit, erinnerte sie sich wohlgefällig, hatte sie das auch ein bißchen betrieben. Aber überleben, wie dies keiner ihrer beiden Männer getan hatte, sich ans Leben klammern, gegen all die Bemühungen dieser seelenlosen und er­drückenden Welt von stumpfsinnigen Funktionären; ihnen jede Stunde des Tages ein Stachel im Fleisch sein, nur indem sie lebte, atmete, sich bewegte, bei Verstand blieb - das, hatte die Ostra­kowa entschieden, war eine Beschäftigung, die ihres Kampf­geists, ihres Glaubens und ihrer beiden Lieben würdig war. Sie hatte sich sofort mit gebührender Hingabe ans Werk gemacht. Schon hatte sie diese Närrin von Hausmeisterin zum Einkaufen geschickt: Auch Kranksein hatte seine guten Seiten.

»Ich habe einen kleinen Anfall erlitten, Madame« - ob sie eine Herzschwäche, ein Magenübel oder die russische Geheimpolizei angefallen hatte, band sie der alten Ziege nicht auf die Nase -, »ich soll ein paar Wochen mit der Arbeit aussetzen und mich schonen - ich bin erschöpft, Madame -, es gibt Zeiten, da will man nichts als allein sein. Hier Madame, nehmen Sie - ich weiß, Sie sind keine geldgierige Schnüfflerin.« Madame la Pierre schloß die Hand um die Banknote und linste nur auf eine Ecke des Scheins, ehe sie ihn in ihrem Rockbund verschwinden ließ. »Und noch etwas, Madame, falls jemand nach mir fragt, sagen Sie bitte, ich sei verreist; ich werde auf der Straßenseite kein Licht machen. Sensible Frauen wie wir haben schließlich das Recht auf ein biß­chen Ruhe, meinen Sie nicht auch? Doch, Madame, bitte, mer­ken Sie sich diese Besucher und sagen Sie mir, wer es war - der Gasmann, jemand von der Caritas -, sagen Sie mir alles, es tut mir gut, wenn ich höre, wie das Leben draußen weitergeht.« Die Concierge kam zu dem Schluß, daß Maria Ostrakowa ver­rückt sei, aber ihr Geld war normal, und nichts mochte die Con­cierge lieber als Geld, und außerdem war sie selber verrückt. In­nerhalb weniger Stunden war Maria Ostrakowa gerissener ge­worden, als sie es jemals in Moskau gewesen war. Der Mann der Concierge kam herauf - gleichfalls ein Bandit, schlimmer noch als die alte Ziege - und montierte, durch weitere Zahlungen an­gespornt, Sperrketten an die Wohnungstür.

Morgen würde er ein Guckloch anbringen, gegen Bezahlung. Die Concierge versprach, die Post für sie entgegenzunehmen und zu verabredeten Zeiten herauf zubringen - um Punkt elf Uhr vormittags, um sechs Uhr nachmittags, zweimal kurz klingeln, -, gegen Bezahlung. Wenn sie die Lamellen des winzigen Venti­lators in der Toilette auseinanderbog und auf einen Stuhl stieg, konnte die Ostrakowa jederzeit den Hof überblicken und sehen, wer kam und ging. Sie hatte an das Lagerhaus geschrieben, daß sie unpäßlich sei. Ihr Doppelbett konnte sie nicht vom Fleck rücken, also trug sie Kissen und Federbett zum Diwan und stellte ihn so, daß er wie ein Torpedo durch die geöffnete Tür des Wohnzimmers direkt auf die Flurtür zielte. Sie brauchte sich nur noch hinzulegen, die Stiefel gegen den Feind gerichtet, und ge­nau über die Spitzen hinweg zu feuern, und wenn sie sich dabei nicht den eigenen Fuß abschoß, so würde sie den Eindringling im ersten Augenblick der Überraschung erwischen, ehe er sich auf sie stürzen konnte: Sie hatte alles bedacht. Ihr Schädel dröhnte und tobte, bei jeder jähen Kopfbewegung wurde ihr schwarz vor den Augen, sie hatte hohes Fieber und war manchmal einer Ohnmacht nahe. Aber sie hatte alles bedacht, sie hatte ihre Vor­kehrungen getroffen, und bis zur Ankunft des Generals oder des Magiers würde es wieder ganz so sein wie in Moskau. »Du bist auf dich allein gestellt, du alte Närrin«, schalt sie sich laut. »Du mußt dir schon selber helfen, also tu's auch.«

Mit einem Foto von Glikmann und einem von Ostrakow rechts und links von ihr auf dem Boden, und einer Ikone der Heiligen Jungfrau unter der Bettdecke schickte Maria Ostrakowa sich zu ihrer ersten Nachtwache an, flehte während der langen Stunden eine Armee von Heiligen an - nicht zuletzt den heiligen Josef-, sie möchten ihr den Retter schicken, den Magier.

Niemand klopft mir eine Botschaft über die Wasserleitung durch, dachte sie. Nicht einmal ein Wärter kommt, der mich mit Beschimpfungen aufweckt.

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