20

In den Wochen nach seiner Unterredung mit Enderby war George Smileys Stimmung so komplex und vielschichtig wie die Skala der Vorbereitungsarbeiten, die er in Angriff genommen hatte. Er fand keine Ruhe; alles an ihm war in undefinierbarer Bewegung, die einzige Konstante war seine zielgerichtete Ent­schlossenheit. Jäger, weltabgeschiedener Liebhaber, Einsamer auf der Suche nach Ergänzung, subtiler Teilnehmer am Großen Spiel, Zweifler auf der Suche nach Bestätigung - Smiley verkör­perte abwechselnd jede dieser Rollen und manchmal sogar meh­rere zugleich. Wer immer sich später an ihn erinnerte - Mendel, der Polizist im Ruhestand, einer seiner wenigen Vertrauten; eine gewisse Mrs. Gray, Besitzerin einer bescheidenen Frühstücks­pension für alleinstehende Herren in Pimlico, wo er aus Sicher­heitsgründen vorübergehend sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte; Toby Esterhase, alias Benati, der distinguierte, auf Arabi­ca spezialisierte Kunsthändler, alle sprachen auf ihre Art von ei­ner ominösen Insichgekehrtheit, einer Ruhe, einer Knappheit an Worten und Blicken, und sie beschrieben es je nach dem Grad ih­rer Vertrautheit mit ihm und ihrer eigenen Lebenslage.

Mendel, ein springlebendiger, scharf beobachtender Mann mit einem Hang zur Bienenzucht, sagte rundheraus, daß George sich für seinen großen Kampf warm trainiere. Als ehemaliger Amateurboxer, der seinerzeit im Mittelgewicht die Farben seiner Abteilung vertreten hatte, machte er sich anheischig, die Zeichen eines bevorstehenden Kampfes zu erkennen: eine Nüchternheit, eine klärende Einsamkeit, die bewiesen, daß Smiley »an seine Hände dachte«. Mendel scheint ihn gelegentlich eingeladen und ihm Mahlzeiten gekocht zu haben. Aber Mendel war zu klar­sichtig, um nicht auch Smileys andere Seiten zu bemerken: die Ratlosigkeit, oft als gesellschaftliche Verpflichtung getarnt; seine Gewohnheit, sich unter einem fadenscheinigen Vorwand da­vonzumachen, als halte er das Stillsitzen nicht mehr länger aus, als brauche er Bewegung, um sich selbst zu entrinnen.

Für seine Zimmerwirtin, Mrs. Gray, war Smiley ganz einfach ein Hinterbliebener. Sie wußte nichts von ihm, außer daß er Lori­mer hieß und pensionierter Buchhändler war. Doch sie sagte zu den anderen Herren, sie könne spüren, daß er einen Verlust erlit­ten habe, denn warum sollte er sonst seinen Frühstücksspeck stehen lassen; sehr oft, aber immer allein, ausgehen und bei an­gemachtem Licht schlafen? Er erinnere sie an ihren Vater, nach >Mutters Heimgang<. Und damit traf sie ins Schwarze, denn die beiden Morde setzten Smiley während dieser Kampfpause im­mer noch zu, wenn sie auch in keiner Weise die Schnelligkeit sei­ner Hände minderten, im Gegenteil. Sie hatte auch recht, wenn sie ihngeteilt nannte, denn in kleinen Dingen wechselte er dau­ernd seine Meinung: Wie der Ostrakowa fielen ihm die neben­sächlichen Entscheidungen des Lebens zunehmend schwerer. Toby Esterhase, der viel mit ihm zu tun hatte, kam zu einer sachkundigeren Beurteilung, in die sich natürlich seine eigene freudige Genugtuung darüber mischte, wieder am Ball zu sein. Die Aussicht, Karla >am großen Tisch< auszuspielen, wie er es nannte, hatte einen neuen Menschen aus Toby gemacht. Mister Benati war jetzt wirklich international geworden. Zwei Wochen lang kämmte er die Niederungen von Europas mieseren Städten durch und musterte seine bizzare Armee von abgehalfterten Spe­zialisten: die Pflastertreter, die Tondiebe, die Fahrer, die Foto­grafen. Er rief, wo immer er auch war, täglich Smiley an, wählte jeweils einen anderen Teilnehmer, der von der Pension aus be­quem zu Fuß zu erreichen war, und berichtete in einem verabre­deten Wortcode über den Fortgang seiner Arbeit. Wenn Toby durch London kam, fuhr Smiley zu einem Flugplatzhotel und ließ sich in einem der ihm nun wohlvertrauten Zimmer informie­ren. George machte, wie Toby erklärte, eine Flucht nach vorn, aus Verzweiflung, wegen der Schwäche seiner Rückendeckung

oder ganz einfach, weil er seine Schiffe hinter sich verbrannt hat­te. Was der eigentliche Grund war, konnte er nicht genau be­schreiben. >Hören Sie<, pflegte er zu sagen, >George hat es immer auf die Sachte gemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Man sieht eine Menge - die Augen gehen einem über. Möglich, daß George einfach zuviel gesehen hat.< Und in einem Satz, der sei­nen bescheidenen Platz in der Circus-Folklore gefunden hat, fügte er hinzu - >George hat zuviele Köpfe unter seinem Hut<. An Smileys Führungsqualitäten dagegen hegte Toby nicht den mindesten Zweifel. >Gründlich bis zum Exzeß<, erklärte er re­spektvoll, selbst wenn dieser Exzeß bedeutete, daß man seine Reiseabrechnung bis auf den letzten Rappen überprüfte, eine Prozedur, die er mit resigniertem Wohlwollen über sich ergehen ließ. George war nervös, sagte er, wie sie alle, und seine Nervosi­tät erreichte ihren Höhepunkt, als Toby begann, seine Teams in Zweier- oder Dreiereinheiten auf die Zielstadt Bern zu konzen­trieren und sehr, sehr vorsichtig die ersten Schritte in Richtung auf das Wild zu tun. >George stieg zu sehr in die Einzelheiten ein<, beklagte sich Toby. >Als wollte er mit uns auf dem Pflaster sein. Als altem Fall-Berater fiel es ihm schwer zu delegieren.< Selbst als die Teams alle zusammengestellt, abgesegnet und in­struiert waren, bestand Smiley von seiner Londoner Basis aus auf drei Tagen praktischer Untätigkeit, während derer alle sich in die Stadt einleben, sich ortsübliche Kleidung und Transportmittel zulegen und das Kommunikationssystem nochmals durchpro­ben sollten: >Nur keine Überstürzung, Toby<, wiederholte er be­sorgt. >Je länger nichts passiert, desto sicherer wird Karla sich fühlen. Ein einziger vorschneller Zug, und Karla gerät in Panik, und wir haben das Nachsehen.< Nach dem ersten operativen An­lauf wurde Toby von Smiley wieder zur Berichterstattung be­fohlen: >Sind Sie sicher, daß kein Augenkontakt stattgefunden hat? Haben Sie wirklich alle Eventualitäten berücksichtigt? Brauchen Sie mehr Wagen, mehr Leute?< Dann, sagte Toby» mußte er nochmals mit ihm das ganze Manöver anhand von Stra­ßenkarten und Aufnahmen des Zielhauses durchgehen, genau erklären, wo die statischen Posten standen, wo ein Team vom nächsten abgelöst wurde. >Warten Sie, bis Sie sein Muster ha­ben<, sagte Smiley, als sie sich trennten. >Wenn Sie sein Verhal­tensmuster haben, komme ich. Vorher nicht.<

Toby sagte, er ließ sich wirklich verdammt Zeit.

Über Smileys Besuche im Circus während dieser aufreibenden Zeit gibt es natürlich keine offiziellen Unterlagen. Er betrat das Gebäude wie sein eigener Geist, schwebte wie unsichtbar durch die vertrauten Korridore. Auf Enderbys Anraten kam er um ein Viertel nach sechs Uhr abends, gerade nach Beendigung der Tag­schicht und bevor die Nachtmannschaft ins Geschirr gegangen war. Er hatte Hindernisse erwartet, war darauf gefaßt gewesen, daß Pförtner, die ihn seit zwanzig Jahre kannten, sich durch Rückfrage in der fünften Etage absichern würden. Doch En­derby hatte die Dinge anders arrangiert, und als Smiley sich ohne Durchlaßschein an der hölzernen Sperre einfand, dirigierte ihn ein Junge, den er nie zuvor gesehen hatte, mit einem sorglosen Kopfnicken zum offenen Lift. Er fuhr unangefochten in das Un­tergeschoß. Beim Aussteigen sah er als erstes das schwarze Brett des Freizeitklubs, und die Anschläge, die daran hingen, hatten sich seit seiner Zeit um kein Wort geändert: Kätzchen unentgelt­lich abzugeben an Tierliebhaber; die Nachwuchs-Theatergruppe würde am Freitag The Admirable Crichton, falsch geschrieben, in der Kantine in einer Lesung zum besten geben. Das gleiche Squash-Turnier, mit Spielern, die aus Sicherheitsgründen unter ihrem Arbeitsnamen aufgeführt waren. Dieselben Ventilatoren gaben ihr stotterndes Summen von sich. So daß er, als er schließ­lich die Drahtglastür des Archivs öffnete und den Geruch von Druckerschwärze und verstaubten Büchern einatmete, halb und halb erwartete, seinen eigenen rundlichen Schatten zu sehen, im Licht der grünbeschirmten Leselampe über den Eckschreibtisch geneigt, wie damals in den vielen Nächten, in denen er Bill Hay­dons hektischen Zickzackkurs eines Verräters nachvollzog, ver­suchte, durch die Umkehrung eines logischen Prozesses die Fehlstellen in der Rüstung der Moskauer Zentrale aufzuspüren.

»Ah, wie ich höre, schreiben Sie jetzt an der Geschichte unserer glorreichen Vergangenheit«, bemerkte die Nachtarchivarin nachsichtig. Sie war ein großes Mädchen vom Lande und hatte einen Gang wie Hilary: Selbst im Sitzen schien sie dauernd vornüber zu kippen. Sie knallte einen alten, blechernen Akten­behälter auf den Tisch. »Mit vielen Grüßen von der fünften Eta­ge«, sagte sie. »Geben Sie Laut, wenn Sie was brauchen, ja?« Die Aufschrift auf dem Griff lautete >Memorabilien<. Smiley hob den Deckel in die Höhe und sah einen Haufen gebundener Ak­ten, die mit einer grünen Kordel umwickelt waren. Er löste sacht die Umschnürung und schlug den ersten Band auf, und sofort starrte Karlas verschwommenes Foto zu ihm auf, wie eine Leiche aus der Dunkelheit ihres Sarges. Er las die ganze Nacht, rührte sich kaum von seinem Platz. Er las sich ebenso weit in seine ei­gene Vergangenheit hinein wie in die Karlas, und manchmal schien es ihm, als sei das eine Leben ganz einfach die Ergänzung des anderen; als seien sie die Ursachen derselben unheilbaren Krankheit. Und wie schon so oft zuvor fragte er sich wieder, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er Karlas Kindheit gehabt hätte, durch die gleichen Feueröfen revolutionärer Erschütte­rungen gegangen wäre. Und wie schon so oft zuvor, erlag er der Faszination, die das schiere Ausmaß des Leidens, die bedenken­lose Barbarei und der Heldenmut des russischen Volkes auf ihn ausübten. Im Vergleich dazu fühlte er sich klein und zahm, wenn er auch der Ansicht war, daß es seinem eigenen Leben nicht an Leid gebrach. Als die Nachtschicht endete, saß er immer noch da und starrte auf die vergilbten Seiten, >wie ein Pferd, das im Ste­hen schläft<, wie es die Nachtarchivarin formulierte, die an Reit­turnieren teilnahm. Selbst als sie die Akten wegnahm, um sie wieder zur fünften Etage hinaufzubringen, starrte er noch weiter vor sich hin, bis sie ihn sanft am Ellbogen berührte.

Er kam die nächste Nacht und die übernächste, verschwand dann und tauchte eine Woche später wortlos wieder auf. Als er mit Karla fertig war, ließ er sich die Akten über Kirow, über Mikhel, über Willem und über die Gruppe im allgemeine kommen, und sei es auch nur, um rückblickend die Leipzig-Ki­row-Affäre - alles, was er gehört hatte und woran er sich erin­nerte - dokumentarisch zu belegen. Denn da lebte noch etwas anderes in Smiley, ein Gelehrter oder meinetwegen ein Pedant, für den die Akte die einzige Wahrheit war und alles übrige pure Extravaganz, solange es sich nicht in die Aufzeichnungen fügte. Er ließ sich auch die Unterlagen über Otto Leipzig und den Ge­neral kommen und fügte, zur Ehrung ihres Andenkens, wenn schon zu nichts anderem sonst, jeweils eine Notiz hinzu, aus der die wahren Umstände ihres Todes erhellten. Schließlich ließ er sich als letzte die Akte über Bill Haydon kommen. Man zögerte zuerst, sie herauszugeben, und der Diensthabende in der fünften Etage, wer immer es auch war, ließ Enderby aus einer privaten Dinner-Party bei einem Minister herausrufen, um die Frage mit ihm zu klären. Enderby war, das muß zu seiner Ehre gesagt wer­den, wütend: »Mann Gottes, er hat doch das verdammte Ding in erster Linie verfaßt, oder nicht? Wenn George seine eigenen Be­richte nicht mehr lesen darf, wer zum Teufel soll's dann dürfen?« Smiley las eigentlich nicht, berichtete die Archivarin, die den heimlichen Auftrag hatte, alles, was er sich bringen ließ, zu no­tieren. Es war mehr ein Schmökern, sagte sie, und beschrieb ein langsames und nachdenkliches Umblättern, >wie jemand, der nach einem Bild sucht, das er irgendwo gesehen hat und nicht wiederfinden kann<. Er behielt die Akte nur eine Stunde oder so und gab sie dann mit einem höflichen >Danke sehr< zurück. Da­nach kam er nicht mehr, aber die Pförtner wissen zu berichten, daß er in jener Nacht, nachdem er die Unterlagen geordnet, sei­nen Arbeitsplatz abgeräumt und die wenigen hingekritzelten Notizen in den Behälter >Material für den Papierwolf< gesteckt hatte, kurz nach elf Uhr beobachtet wurde, wie er lange im Hin­terhof stand - einem trübseligen Platz voll weißer Fliesen, schwarzer Regentraufen und Katzengestank - und auf das Ge­bäude starrte, das er nun verlassen wollte, und auf das schwache Licht in seinem ehemaligen Büro - so wie alte Männer auf die Häuser schauen, in denen sie geboren, die Schulen, in denen sie erzogen, und die Kirchen, in denen sie getraut wurden. Und von Cambridge Circus, es war inzwischen elf Uhr dreißig geworden, fuhr er, zu jedermanns Verblüffung, mit einem Taxi nach Pad­dington und stieg in den Schlafwagenzug nach Penzance, der kurz nach Mitternacht abfährt. Er hatte die Fahrkarte weder vorher gekauft noch telefonisch bestellt; auch hatte er keine Nachtsachen bei sich, nicht einmal einen Rasierapparat - den borgte er sich am nächsten Morgen vom Schaffner. Sam Collins hatte damals ein bunt zusammengewürfeltes Team von Obser­vanten auf ihn angesetzt, einen zugegeben amateurhaften Hau­fen, die hinterher nur sagen konnten, er habe von einer Zelle aus telefoniert, und ihnen sei keine Zeit mehr geblieben, um irgend­etwas zu unternehmen.

»Verdammt komischer Zeitpunkt, um Urlaub zu machen, was?« bemerkte Enderby verdrießlich, als ihm diese Information prä­sentiert wurde zusammen mit viel Gestöhne seitens des Perso­nals von wegen Überstunden . . . Fahrzeiten und Prämien für Einsatz zu unchristlichen Zeiten. Dann erinnerte er sich und sag­te: »Oh, du großer Gott, er besucht seine Hurengöttin. Hat er denn nicht schon genug Probleme damit, daß er Karla ganz allein angehen muß?« Die ganze Geschichte ging Enderby ungewöhn­lich auf die Nerven. Er schäumte den ganzen Tag und be­schimpfte Sam Collins vor versammelter Mannschaft. Als ehe­maliger Diplomat hatte er einen Horror vor unumwundenen Kurzverlautbarungen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, dau­ernd welche von sich zu geben.


Das Haus stand auf einem Hügel, in einem Dickicht aus kahlen Ulmen. Es war groß und aus verwittertem Granit, mit einer Menge Giebel, die wie schwarze, zerrissene Zelte über die Baumwipfel ragten. Mehrere Hektar kaputter Gewächshäuser führten darauf zu, verfallene Ställe und ein verwahrloster Küchengarten lagen unterhalb im Tal. Die Hügel, einstige Befesti­gungen, waren olivbraun und kahl. Harrys kornischer Haufen, nannte sie das Ganze. Zwischen den Hügeln sah man das Meer, das an diesem Morgen unter den tief hängenden Wolkenbänken hart wie Schiefer wirkte. Ein Taxi, ein alter Humber, der wie ein Generalstabswagen aus dem Krieg aussah, fuhr ihn den holpri­gen Weg hinauf. Hier hat sie ihre Kindheit verbracht, dachte Smiley; und hier hat sie die meine adoptiert. Die Auffahrt war voller Löcher, Stümpfe gefällter Bäume lagen wie gelbe Grab­steine an beiden Seiten. Sie wird im Haupthaus sein, dachte er. Das Cottage, wo sie zusammen ihren Urlaub verbracht hatten, lag jenseits des Bergrückens, doch wenn sie allein war, wohnte sie im Haus, in ihrem ehemaligen Jungmädchenzimmer. Er sagte zum Fahrer, daß er nicht zu warten brauche und ging auf den Vordereingang zu, wobei er vorsichtig einen Weg zwischen den Pfützen suchte, um seine Londoner Schuhe nicht in Gefahr zu bringen. Es ist nicht mehr meine Welt, dachte er. Es ist Anns Welt und die der Ihren. Er ließ seinen Blick forschend über die vielen Fenster der Vorderfassade gleiten und versuchte, ihre Sil­houette hinter einem davon zu erhaschen. Sie hätte mich sicher am Bahnhof abgeholt, aber sie hat wieder einmal die Zeit nicht richtig mitgekriegt, dachte er, nach dem Motto >Im Zweifel für den Angeklagten<. Aber ihr Wagen war in den Ställen geparkt und noch mit dem Morgenreif bedeckt; er hatte ihn erspäht, während er den Taxifahrer bezahlte. Er läutete und hörte Schritte auf den Fliesen, doch es war Mrs. Tremedda, die ihm öffnete und ihn in einen der Salons führte - Rauchzimmer, Früh­stückszimmer, Wohnzimmer -, er hatte sie nie recht auseinan­derhalten können. Ein Kaminfeuer brannte.

»Ich hole sie«, sagte Mrs. Tremedda.

Wenigstens brauche ich mich nicht mit dem verrückten Harry über Kommunisten zu unterhalten, dachte Smiley, während er wartete. Wenigstens brauche ich mir nicht anzuhören, daß die ganzen chinesischen Kellner von Penzance nur auf Order aus Peking warten, um ihre Gäste zu vergiften. Oder daß die ver­dammten Streiker an die Wand gestellt und erschossen gehören - was ist denn das für eine Auffassung von Pflichterfüllung, um Himmels willen? Oder daß Hitler zwar ein Schuft gewesen ist, daß aber seine Ansichten in puncto Juden goldrichtig waren oder irgendeine ähnlich monströse, doch ernsthaft vorge­brachte Meinung.

Sie hat der Familie Anweisung gegeben, sich fern zu halten dachte er.

Er konnte den Honig durch den Holzrauch riechen und fragte sich, wie immer, woher dieser Geruch kam. Vom Möbelwachs? Oder war da irgendwo in den Katakomben ein Honigzimmer, so wie da ein Gewehrzimmer, ein Angelzimmer, ein Boxraum und, soviel er wußte, ein Liebeszimmer waren? Er schaute nach der Tiepolo-Zeichnung, die immer über dem Kamin gehangen hatte, eine Szene aus dem venezianischen Leben. Sie haben sie verkauft, dachte er. So oft er kam, war die Sammlung um irgendein weite­res hübsches Stück ärmer geworden. Wofür Harry das Geld aus­gab, konnte niemand sagen: Sicher nicht für den Unterhalt des Hauses.

Sie ging durch das Zimmer, und er war froh, daß sie auf ihn zu­kam und nicht er auf sie, denn er wäre sicher über irgendetwas gestolpert. Sein Mund war trocken, und er hatte einen Kaktus­klumpen im Magen, er wollte sie nicht zu nahe an sich haben, ihre Wirklichkeit war plötzlich zu viel für ihn. Sie sah schön und keltisch aus, wie immer hier unten, und ihre braunen Augen ver­suchten, als sie auf ihn zukam, seine Stimmung zu erforschen. Sie küßte ihn auf den Mund, legte ihre Finger um seinen Nacken, um ihn zu führen, und Haydons Schatten fiel zwischen sie wie ein Schwert.

»Du hast nicht zufällig die Morgenzeitung am Bahnhof gekauft, nein?« fragte sie. »Harry hat sie wieder einmal abbestellt.«

Sie fragte, ob er schon gefrühstückt habe, und er log und sagte ja. Vielleicht könnten sie einen kleinen Spaziergang machen, schlug sie vor, als sei er gekommen, um sich das Gut anzusehen. Sie führte ihn in das Gewehrzimmer, wo sie nach passenden Stiefeln für ihn suchten. Da waren Stiefel, die wie Roßkastanien glänz­ten, und Stiefel, die immer feucht wirkten. Der Küstenpfad führte in beiden Richtungen aus der Bucht heraus. Harry hatte in regelmäßigen Abständen Stacheldrahtabsperrungen angebracht oder Schilder aufgestellt mit der Aufschrift »LEBENSGE­FAHR! SELBSTSCHÜSSE«. Er lag mit dem Stadtrat in heftiger Fehde wegen der Genehmigung zur Errichtung eines Camping­platzes, und die abschlägigen Bescheide brachten ihn manchmal zum Rasen. Sie wählten den Nordhang und den Wind, und sie hatte sich bei ihm eingehängt, um besser zuhören zu können. Der Norden war windiger, aber am Südhang mußte man hinter­einander durch den Stechginster gehen.

»Ich muß ein bißchen weg, Ann«, sagte er und versuchte ihren Namen natürlich auszusprechen. »Ich wollte am Telefon nicht darüber reden.« Er hatte seine >Ich-zieh-in-den-Krieg-Stimme< angenommen und kam sich wie ein Idiot vor, als sie ihm in den Ohren klang. »Ich muß weg, um einen Liebhaber zu erpressen«, hätte er zu ihr sagen sollen.

»Weg irgendwohin Bestimmtes, oder nur weg von mir?«

»Ich muß etwas im Ausland erledigen«, sagte er und versuchte vergeblich von seiner Rolle als Kriegsheld wegzukommen. »Ich glaube nicht, daß du während meiner Abwesenheit in die Bywa­ter Street kommen solltest.«

Sie hatte ihre Finger in die seinen verschränkt, aber das gehörte eben so zu den Dingen, die sie tat: Sie verhielt sich natürlich den Leuten gegenüber, allen Leuten. Unter ihnen, in der Felsenkluft, brach sich die See und bildete wütend Muster aus Gischtschlan­gen.

»Und du bist den ganzen Weg hierher gekommen, nur um mir zu sagen, daß das Haus unzugänglich ist?« fragte sie. Er gab keine Antwort.

»Ich werde es anders versuchen«, schlug sie vor, nachdem sie eine Weile gewandert waren. »Wenn die Bywater Street noch zugänglich wäre, hättest du dann vorgeschlagen, ich solle kommen? Oder willst du mir sagen, daß sie endgültig unzugänglich ist?«

Sie blieb stehen und schaute ihn an, hielt ihn von sich und ver­suchte seine Antwort zu lesen. Sie flüsterte >Um Himmels willen<, und er konnte zugleich den Zweifel, den Stolz und die Hoffnung auf ihrem Gesicht sehen und fragte sich, was sie in sei­nem sah, denn er selbst wußte nicht, was er fühlte, außer, daß er nirgendwo in ihre Nähe gehörte, nirgendwo in die Nähe dieses Ortes, sie war wie eine Frau auf einer schwimmenden Insel, die sich schnell von ihm wegbewegte, inmitten der Schatten all ihrer Liebhaber.

Er empfand Liebe für sie, Gleichgültigkeit, er beobachtete mit dem Fluch der Leidenschaftslosigkeit, wie sie ihn verließ. Wenn ich mich selbst nicht kenne, wie kann ich dann sagen, wer du bist? Er sah die Linien des Alters und des Leidens und des Kamp­fes, die ihr gemeinsames Leben gezogen hatte. Sie war alles, was er wollte, sie war nichts, sie erinnerte ihn an jemanden, den er einst vor langer Zeit gekannt hatte; sie war ihm ein Rätsel, er kannte sie genau. Er sah den Ernst auf ihrem Gesicht und fragte sich eine Minute lang, wie er dies je hatte für Tiefe halten kön­nen; in der nächsten Minute verachtete er sich wegen seiner Ab­hängigkeit von ihr und wollte nur noch frei sein. Er wollte rufen >Komm zurück< tat es aber nicht: Er streckte nicht einmal eine Hand aus, um zu verhindern, daß sie von ihm wegglitt.

»Du hast doch gesagt, daß ich immer wieder nach dir schauen soll«, sagte er. Diese Feststellung klang wie der Vorspann zu ei­ner Frage, doch die Frage kam nicht.

Sie wartete, dann bot sie ihrerseits eine Feststellung an.

»Ich bin eine Komödiantin, George«, sagte sie. »Ich brauche ei­nen vernünftigen Mann. Ich brauche dich.«

Doch er sah sie wie aus weiter Ferne.

»Es ist wegen der Sache, die ich erledigen muß«, sagte er.

»Ich kann nicht leben mit ihnen. Ich kann nicht leben ohne sie.« Er vermutete, daß sie wieder von ihren Liebhabern sprach »Nur eins ist schlimmer als der Wechsel, und das ist der Status Quo. Ich wähle nicht gern. Ich liebe dich. Verstehst du?« Es folgte eine Pause, während der er irgendetwas gesagt haben mußte. Sie stützte sich nicht auf ihn, aber sie lehnte an ihm, während sie weinte, denn das Weinen hatte ihre ganze Kraft aufgezehrt. »Du hast nie gewußt, wie frei du bist, George«, hörte er sie sagen. »Ich mußte für uns beide frei sein.«

Dann schien sie sich ihrer eigenen Absurdität bewußt zu werden, und sie lachte.

Ann ließ seinen Arm los, und sie gingen eine Weile dahin, wäh­rend sie versuchte, klar zu kommen, indem sie einfache Fragen stellte. Er sagte: »Wochen, vielleicht länger.« Er sagte: »In einem Hotel«, sagte aber nicht in welcher Stadt oder in welchem Land. Sie schaute ihn wieder an, und die Tränen liefen plötzlich von neuem, schlimmer als zuvor, doch sie rührten ihn noch immer nicht so, wie er es gewünscht hätte.

»George, das ist alles, was noch bleibt, glaube mir«, sagte sie und blieb stehen, um sich Gehör zu verschaffen. »Der Zug ist abge­fahren, in deiner Welt und in meiner. Wir sind beieinander ge­landet. Damit hat's sich. Am Durchschnitt gemessen, gehören wir zu den glücklichsten Menschen der Welt.«

Er nickte, schien es als gegeben hinzunehmen, daß sie irgendwo gewesen war, wo er nicht gewesen war, ohne es jedoch als end­gültig zu betrachten. Sie gingen wieder eine Weile dahin, und er bemerkte, daß er mit ihr verbunden war, solange sie nicht redete, doch nur in dem Sinn, daß sie ein anderer lebender Mensch war, der denselben Pfad entlangging, wie er selbst.

»Es hat mit Leuten zu tun, die Bill Haydon auf dem Gewissen haben«, sagte er zu ihr, entweder als Trost oder als Entschuldi­gung für seinen Rückzug. Aber er dachte: >Die dich auf dem Gewissen haben.<


Er verpaßte den Zug und mußte zwei Stunden totschlagen. Es war Ebbe, und so ging er den Strand entlang bei Marazion, erschrocken über seine Gleichgültigkeit. Der Tag war grau, die Seevögel hoben sich blendendweiß gegen das Schiefermeer ab. Ein paar wackere Kinder planschten in der Brandung. Ich bin ein Geistdieb, dachte er niedergeschlagen. Ich habe keinen Glauben und verfolge einen Anderen wegen seiner Überzeugung. Ich versuche, mich am Feuer anderer Leute zu wärmen. Er sah den Kindern zu und erinnerte sich an einen Gedichtfetzen aus lang vergangener Zeit:

Wie Schwimmer, die in reine Fluten springen.

Wend ich mich froh von einer Welt, die alt und kalt und müd ge­worden.

Ja, dachte er düster, das tu ich.


»Nun, George«, fragte Lacon. »Glauben Sie, daß wir unsere Frauen einfach zu hoch einschätzen, daß wir Burschen aus der englischen Mittelschicht hier auf dem Holzweg sind? Glauben Sie - ich will's mal anders ausdrücken -, daß wir Engländer mit unseren Traditionen und Schulen von unserem Weibervolk er­warten, daß sie für eine Menge stehen, und sie dann dafür tadeln, daß sie für nichts einstehen? Wir sehen sie als Konzepte und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut. Hakt's da bei uns?«

Smiley sagte, das könne wohl sein.

»Wenn's dasnicht ist, warum verknallt sich dann Val dauernd in solche Scheißkerle?« schnappte Lacon aggressiv, zur Überra­schung des Paares, das am Nachbartisch saß.

Sie hatten miserabel in dem Steakhaus gegessen, das Lacon vor­geschlagen hatte, hatten offenen, spanischen Burgunder getrun­ken, und Lacon hatte sich weidlich über das politische Dilemma in Großbritannien ereifert. Sie tranken nun Kaffee und einen verdächtigen Brandy. Die Kommunistenfresserei sei überholt. Lacon war sich da ganz sicher. Die Kommunisten seien ja schließlich auch nur Menschen. Sie seien keine Ungeheuer mit Messern zwischen den Zähnen, nicht mehr. Die Kommunisten wünschten, was jeder wünschte: Wohlstand und ein bißchen Ruhe und Frieden. Die Chance, mit dieser verdammten Feindse­ligkeit Schluß zu machen. Und wenn sie das nicht wollten - nun, was könnten wir dagegen tun? hatte er gefragt. Manche Pro­bleme - man denke nur an das Irische - seien unlösbar, aber man würde die Amerikaner nie dazu bringen zuzugeben, daßirgend­etwas unlösbar sei. Großbritannien sei unregierbar, und in ein paar Jahren würden das auch alle anderen Länder sein. Unser Zukunft liege im Kollektiv, doch unser Überleben hänge am In­dividuum, und an diesem Paradox litten wir jeden Tag.

»Nun, George, wie sehen Sie die Sache? Sie sind ja schließlich aus dem Geschirr. Sie haben den objektiven Blick, die umfassende Übersicht.«

Smiley hörte sich irgendetwas Blödsinniges über ein Spektrum murmeln.

Und nun war das Hauptthema, vor dem Smiley sich den ganzen Abend gefürchtet hatte, auf dem Tisch: Ihr Seminar über die Ehe hatte begonnen.

»Man hat uns immer beigebracht, Frauen müßten liebevoll be­handelt werden«, erklärte Lacon voller Ressentiment. »Wenn man sie nicht jede Minute des Tages fühlen läßt, daß sie geliebt werden, drehen sie durch. Aber dieser Bursche, mit dem Val sich rumtreibt - nun, wenn sie ihm auf die Nerven geht oder unge­fragt redet, dann gibt er ihr eins auf die Schnauze. Wir beide tun das nie, oder?«

»Ganz gewiß nicht«, sagte Smiley.

»Schauen Sie. Angenommen, ich geh zu ihr- stelle sie in seinem Haus - zieh andere Seiten auf - drohe mit Gericht und so -könnte das die Wende bringen? Schließlich bin ich größer als er, weiß Gott. Mir fehlt's nicht an schlagenden Argumenten, in kei­nem Sinne!«

Sie standen auf dem Gehsteig unter den Sternen und warteten auf Smileys Taxi.

»Na, auf alle Fälle, guten Urlaub, Sie haben ihn verdient«, sagte Lacon. »Irgendwohin, wo's warm ist?«

»Nun, ich dachte, einfach weg und wandern.«

»Sie Glücklicher! Mein Gott, wie ich Sie um Ihre Freiheit beneide! Nun, wie dem auch sei, Sie waren eine große Hilfe. Ich werde Ihren Rat wortwörtlich befolgen.«

»Aber Oliver, ich habe Ihnen doch gar keinen Rat gegeben«, protestierte Smiley leicht beunruhigt.

Lacon achtete nicht darauf. »Und die andere Sache ist ausgebü­gelt, wie ich gehört habe«, sagte er fröhlich. »Keine Folgen, kein Kuddelmuddel. Gut gemacht, George. Loyal. Ich werde mal se­hen, wie wir uns dafür ein bißchen erkenntlich zeigen können. Ich weiß nicht mehr, was Sie alles schon haben. Ein Bursche hat kürzlich im Athenaeum gesagt, sie verdienten einen Adelstitel.« Das Taxi kam, und zu Smileys Verlegenheit bestand Lacon dar­auf, ihm die Hand zu schütteln. »George. Gehaben Sie sich wohl. Sie sind Spitze gewesen. Wir sind aus demselben Holz ge­schnitzt, George. Beide Patrioten, Geber, keine Nehmer. Zur Pflicht erzogen. An unserem Land. Wir müssen den Preis dafür bezahlen. Wenn Ann statt Ihrer Frau Ihr Agent gewesen wäre, Sie hätten sie wahrscheinlich tadellos geführt.«

Nach einem Anruf von Toby, der besagte, daß >der Handel spruchreif geworden war<, flog Smiley in aller Ruhe unter dem Arbeitsnamen Barraclough in die Schweiz. Vom Flughafen Zü­rich fuhr er mit dem Swissair-Bus nach Bern und begab sich di­rekt ins Hotel Bellevue, einen riesigen Prachtpalast von ruhiger Vornehmheit, von dem aus man an klaren Tagen über die Vor­berge auf die glitzernden Alpen sehen konnte, der aber an diesem Abend in einen brauenden Winternebel eingehüllt war. Er hatte bescheidenere Unterkünfte in Erwägung gezogen. Er hatte an eine von Tobys sicheren Wohnungen gedacht. Aber Toby hatte ihn davon überzeugt, daß das Bellevue das Beste sei. Es besaß mehrere Ausgänge, es lag zentral, und es war das erste Hotel in Bern, in dem man ihn suchen würde, und daher das letzte, in dem Karla, sollte er nach ihm Ausschau halten, erwarten würde, ihn zu finden. Als er in die riesige Empfangshalle ging, hatte Smi­ley das Gefühl, ein Passagierschiff auf hoher See zu betreten.

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