14

Er fuhr über ein Hochplateau, und das Plateau lag über den Baumwipfeln, denn die Fichten waren drunten in der Talsenke gepflanzt worden. Es war am frühen Abend desselben Tages, und in der Ebene stachen die ersten Lichter durch die feuchte Dämmerung. Am Horizont schwamm auf dem Bodennebel die Stadt Oxfort, ein akademisches Jerusalem. Die Ansicht von die­ser Seite war ihm neu, was sein Gefühl der Unwirklichkeit ver­stärkte, den Eindruck, daß er nicht nach eigenem Plan steuere, sondern gesteuert werde; daß nicht er selber, sondern ein ande­rer seine Gedanken lenke. Sein Besuch bei Toby Esterhase hatte sich, bei großzügiger Auslegung, noch innerhalb der Grenzen von Lacons rüder Anweisung bewegt; diese Reise hingegen führ­te, das wußte er, auf Gedeih oder Verderb ins verbotene Land seiner persönlichen Interessen.

Dennoch sah er keine Alternative und wollte auch keine. Wie ein Archäologe, der im ganzen Leben nicht fündig geworden war, hatte Smiley sich noch einen einzigen letzten Tag erbeten, diesen heutigen.

Anfangs hatte er ständig den Rückspiegel im Auge behalten, be­obachtet, daß das wohlvertraute Motorrad ihm folgte, wie Mö­wen einem Schiff. Aber hinter der letzten Abzweigung war der Mann namens Ferguson nicht gefolgt, und als Smiley anhielt, um die Karte zu studieren, überholte ihn nichts; also hatten sie ent­weder sein Ziel erraten oder ihrem Mann aus unerforschlichen Verfahrensgründen verboten, die Grafschaft zu verlassen.

Unterwegs fielen ihn von Zeit zu Zeit jähe Skrupel an. Laß sie in Ruhe, dachte er. Er hatte einiges gehört, nicht viel, aber genug, um den Rest zu erraten. Laß sie, laß sie ihren Frieden finden, so gut sie kann. Aber er wußte, daß es nicht seines Amtes war, Frieden zu geben, daß der Kampf, in den er verstrickt war, immer weitergehen mußte, wenn er überhaupt Sinn haben sollte.

Das Hinweisschild des Tierheims war wie ein gemaltes Grinsen: MERRILEE HEISST IHREN LIEBLING WILLKOMMEN! EIER! Ein hingekleckster gelber Hund, der einen Zylinder trug, wies mit der Pfote den Fahrweg entlang; und der Weg, den Smi­ley nun einschlug, führte so steil bergab, daß die Fahrt einem freien Fall glich. Er passierte einen Leitungsmast und hörte den Wind darin heulen; er fuhr in die Baumpflanzung ein. Zuerst kam das Jungholz, dann schlössen sich die hohen Wipfel über ihm, und er war im Schwarzwald seiner deutschen Kindheit und strebte einem tief verborgenen Innern entgegen. Er schaltete die Scheinwerfer ein, bog um eine enge Kurve, eine zweite und drit­te, und da war die Hütte, fast genau so, wie er sie sich vorgestellt hatte - ihreDatscha , wie sie immer gesagt hatte. Früher hatte sie ein Haus in Oxford gehabt und die Datscha als Ausweichstelle. Jetzt war nur die Datscha geblieben, die Städte hatte sie für im­mer verlassen. Das Häuschen stand auf einer Lichtung aus Baumstümpfen und zertrampelter Erde, hatte eine wackelige Veranda, ein Schindeldach und einen Blechkamin, aus dem Rauch aufstieg. Die Holzverschalung der Wände war schwarz geteert, ein verzinkter Futtertrog blockierte fast den Vorderein­gang. Auf einem kleinen Rasenfleck stand ein selbstgebastelter Vogeltisch mit genügend Brot für eine ganze Arche Noah, und rings um die Lichtung standen, wie Schreberhäuschen, die As­bestschuppen und Drahtgehege für die Hühner und die unter­schiedslos willkommenen Lieblinge.

Karla, dachte er, ausgerechnet hier muß ich nach dir suchen. Er parkte den Wagen, und sofort brach die Hölle los, Hunde winselten herzzerbrechend, und dünne Wände krachten unter dem Anprall verzweifelter Leiber. Er ging auf das Haus zu, die Flaschen im Plastikbeutel schlugen ihm gegen das Bein. Trotz des Getöses hörte er, wie unter seinen Füßen die sechs Stufen der Veranda ächzten. An der Tür hing ein Zettel mit der Aufschrift: »Wenn GESCHLOSSEN, Tiere NICHT hier deponieren.«

Und darunter, offenbar in großer Erregung hinzugefügt: »Keine verdammten Affen.«

Der Klingelzug war ein Eselsschwanz aus Plastik. Er streckte die Hand danach aus, doch die Tür öffnete sich bereits, und eine zarte hübsche Frau blickte ihm aus dem dunklen Innern der Dat­scha entgegen. Ihre Augen waren scheu und grau, sie besaß jene altmodische englische Schönheit, die einst auch Ann ausgezeich­net hatte: verstehend und ernst. Sie sah ihn und erstarrte. »O Gott«, flüsterte sie, »herrje!«. Dann senkte sie den Blick auf ihre klobigen Schuhe, schob mit dem Finger eine Haarsträhne aus der Stirn, während die Hunde sich hinter ihrem Drahtzaun heiser bellten.

»Entschuldigen Sie, Hilary«, sagte Smiley sehr sanft. »Es dauert nur eine Stunde, Ehrenwort. Mehr will ich nicht. Eine Stunde.« Eine männlich klingende Stimme ließ sich langsam aus dem Dunkel hinter Hilary vernehmen: »Was steht ins Haus, Hils?« grollte die Stimme. »Rüsselkäfer, Wellensittich oder Giraffe?« Der Frage folgte ein dumpfer Ton, als werde ein Stück Stoff über einem Hohlraum bewegt.

»Besuch, Con«, rief Hilary über die Schulter ins Haus und wid­mete sich dann wieder der Betrachtung ihres derben Schuh­werks.

»Weiblich oder von der anderen Sorte?« wollte die Stimme wis­sen.

»George ist da, Con. Nicht böse sein, Con.«

»George! Welcher George? Der Schwarze George, der mir die Kohlen wässert, oder Schlachter George, der mir die Hunde ver­giftet?«

»Es sind bloß ein paar Fragen, Hilary«, versicherte Smiley ihr im gleichen Ton aufrichtigen Mitgefühls. »Ein alter Fall. Nichts Gravierendes, glauben Sie mir.«

»Schon in Ordnung, George«, sagte Hilary und blickte dabei unverwandt zu Boden. »Wirklich. Wir freuen uns.«

»Schluß mit dem Geflirte!« befahl die Stimme von drinnen. »Hände weg von ihr, wer immer Sie sind!«

Als die dumpfen Laute näher kamen, beugte Smiley sich vor und sagte, an Hilary vorbei, durch die Tür: »Connie, ich bin's.« Und wiederum mühte sein Tonfall sich nach Kräften, redliche Absichten auszudrücken.

Zuerst kamen die Welpen - vier an der Zahl, vermutlich Whip­pets - in einer rasenden Meute. Dann folgte ein räudiger alter Köter, in dem gerade noch soviel Leben steckte, daß er die Ve­randa erreichen und dort zu Boden plumpsen konnte. Und dann öffnete die Tür sich ruckweise sperrangelweit und gab den Blick frei auf eine massige Frau, die gebeugt zwischen zwei dicken hölzernen Krücken steckte, anscheinend, ohne sie festzuhalten. Sie hatte weißes Haar, zum Herrenschnitt gestutzt, und wäßri­ge, sehr schlaue Augen, deren starrer Blick ihn unerbittlich fest­nagelte. So lange, so bedächtig, so eingehend war die Musterung, der sie ihn unterzog - sein ernstes Gesicht, seinen formlosen An­zug, die Plastiktüte, die von seiner linken Hand baumelte, die demütige Haltung, in der er darauf wartete, vorgelassen zu wer­den -, daß sie ihr eine fast königliche Macht über ihn verlieh, die durch ihr Schweigen, ihr mühsames Atmen und ihre Hinfällig­keit nur noch vollkommener wurde.

»Mich laust der Affe!« verkündete sie, den Blick noch immer auf Smiley gerichtet, und stieß einen Atemstrom aus. »Jetzt schlägt's dreizehn! Fähr zur Hölle, George Smiley, und alle, die mit dir segeln. Willkommen in Sibirien.«

Dann lächelte sie, und ihr Lächeln war so unvermittelt und frisch und kindlich, daß es die vorangegangene strenge Prüfung beinah wegwischte.

»Hallo, Con«, sagte Smiley.

Sie lächelte noch immer, doch ihre Augen blieben desungeachtet weiter auf ihn gerichtet. Sie waren so blaß wie die Augen eines Neugeborenen.

»Hils«, sagte sie schließlich. »Hörst du nicht, Hils!«

»Ja, Con?«

»Geh und füttere die Wauwaus, Darling. Und das widerliche Federvieh. Wirf den Raubtieren ihren Fraß vor. Danach mixt du das Fressen für morgen, und da nach bring mir den humanen Kil­ler, damit ich diese lästige Type in ein frühes Paradies befördern kann. Komm, George.«

Hilary lächelte, schien indes jeder Bewegung unfähig, bis Con­nie sie sanft in die Rippen stieß und so in Gang setzte. »Troll dich, Darling. Er kann dir jetzt nichts tun. Er hat sein Pulver verschossen, genau wie du und, weiß Gott, ich auch.«


Im Haus herrschten Tag und Nacht zugleich. In der Mitte stand, auf einem Tisch voller Toastkrümel und Eintopfresten, eine alte Petroleumlampe, deren gelbe Lichtkugel die Dunkel­heit ringsum noch vertiefte. Die französischen Fenster an der Stirnseite waren vom Widerschein blauer Regenwolken und ein paar letzten Sonnenstrahlen erfüllt. Während Smiley Con­nies lähmend langsamem Vormarsch folgte, wurde ihm nach und nach klar, daß das Holzhaus nur aus diesem einzigen Raum bestand. Als Büro hatten sie den Rollschreibtisch, auf dem sich Rechnungen und Flohpulver türmten; als Schlaf­zimmer das Doppelbett aus Messing mit einer Herde ausge­stopfter Spieltiere, die wie tote Soldaten zwischen den Kissen lagen; als Salon Connies Schaukelstuhl und ein krümelndes Korbsofa; als Küche einen Gaskocher nebst dazugehöriger Propanflache; und als Innendekoration das undefinierbare Durcheinander des Alters.

»Connie kommt nicht zurück, George«, rief sie, während sie vor ihm herhumpelte. »Und wenn die Wildpferde schnauben und sich das scheinheilige Herz aus dem Leib wiehern, die alte När­rin hat ihre Stiefel ein für allemal an die Wand gehängt.« Sie hatte den Schaukelstuhl erreicht und begann ein schwerfälliges Wen­demanöver, bis sie mit dem Rücken zum Sitz stand. »Sollten Sie also deshalb gekommen sein, dann können Sie Saul Enderby melden, er soll sich's in die Pfeife stopfen und rauchen.« Sie streckte ihm die Arme entgegen, und er glaubte, sie wolle einen Kuß. »Nicht doch, Sie Lustmolch. Nur Händchenhalten!« Das tat er und ließ sie in ihren Sessel sinken.

»Ich bin nicht deshalb gekommen, Con«, sagte Smiley. »Ich will nicht versuchen, Sie von hier fortzulocken, Ehrenwort.«

»Und das aus gutem Grund: Mit ihr geht's dahin«, verkündete sie energisch, ohne seine Versicherung zu beachten. »Die Alte wird abkratzen, je eher, desto besser. Der Quacksalber will mir natürlich alles mögliche einreden, der Duckmäuser. Bronchitis. Rheuma. Kommt vom Wetter. Alles Mist. Meine Krankheit ist der Tod. Das systematische Anrücken des großen T. Ist das Schnaps, was Sie da in der Tüte mitschleppen?«

»Ja. Ja, stimmt«, sagte Smiley.

»Prima. Dann her damit in Mengen. Wie geht's dem Dämon Ann?«

Auf dem Ablaufbrett fand er in einem permanenten Geschirrsta­pel zwei Gläser und füllte sie zur Hälfte.

»Blüht und gedeiht, wie ich annehme«, antwortete er.

Er erwiderte ihr offensichtliches Vergnügen über seinen Besuch durch freundliches Lächeln, reichte ihr ein Glas, und sie um­klammerte es mit beiden, aus Pulswärmern ragenden Händen. »Annehmen!« echote sie. »Wenn Sie's nur endlich tun würden. An die Leine nehmen, das sollten Sie. Oder ihr gemahlenes Glas in den Kaffee schütten. Also dann, worauf sind Sie aus?« sagte sie, alles in einem Atemzug. »Ich habe nie erlebt, daß Sie irgend­etwas ohne Grund tun. Auf Ihr Wohl!«

»Auf das Ihre, Con«, sagte Smiley.

Zum Trinken mußte sie den ganzen Oberkörper dem Glas nä­hern, und als ihr gewaltiger Kopf in den Lampenschein geriet, sah er - sagte ihm seine allzu lange Erfahrung -, daß sie die Wahrheit gesprochen und ihre Haut das aussätzige Weiß des To­des hatte.

»Los. Raus damit«, befahl sie mit ihrer strengsten Stimme. »Ob ich Ihnen helfen werde, weiß ich allerdings nicht. Seit unserer Trennung habe ich die Liebe entdeckt. Versaut die Hormone, weicht die Zähne auf.«

Er hätte gern mehr Zeit gehabt, um sie wieder kennenzulernen. Er war ihrer nicht sicher.

»Nur einer unserer alten Fälle, Con, nichts weiter«, begann er beschwichtigend. »Er ist wieder akut geworden, auch nichts Ungewöhnliches.« Er versuchte, seine Stimme um eine Stufe höherzuschrauben, damit sie beiläufiger klinge. »Wir brauchen noch ein paar Einzelheiten. Wissen Sie zufällig noch, wie eigen Sie mit Ihren Berichten waren?« fügte er scherzend hinzu.

Ihre Augen wichen nicht von seinem Gesicht.

»Kirow«, fuhr er fort und sprach den Namen sehr langsam aus. »Kirow, Vorname Oleg. Sagt Ihnen das etwas? Sowjetbotschaft, Paris, vor drei bis vier Jahren, Zweiter Botschaftssekretär? Wir glaubten, er sei ein Mann aus der Moskauer Zentrale.«

»War er«, sagte sie, und lehnte sich ein wenig zurück, beobach­tete ihn jedoch unablässig.

Sie wollte eine Zigarette. Auf dem Tisch lag eine Zehnerpak­kung. Er steckte ihr eine zwischen die Lippen und gab ihr Feuer, aber noch immer wollte ihr Blick nicht von seinem Gesicht ablas­sen.

»Saul Enderby hat diesen Fall abgewürgt«, sagte sie, spitzte die Lippen und blies einen mächtigen Rauchstrahl senkrecht nach unten, an Smileys Gesicht vorbei.

»Er ordnete an, daß der Fall nicht weiter bearbeitet werde«, kor­rigierte Smiley.

»Wo liegt der Unterschied?«

Smiley sah sich überraschend vor die Aufgabe gestellt, Saul En­derby zu verteidigen.

»Der Fall lief noch eine Weile, dann, in der Übergangszeit zwi­schen meiner Amtsführung und der seinen, erklärte er ihn ver­ständlicherweise für unproduktiv.« Smiley hatte seine Worte mit größter Umsicht gewählt.

»Und jetzt hat er sich's anders überlegt«, sagte sie.

»Ich habe Einzelteile, Con. Ich will das Ganze.«

»Wie immer«, sagte sie. »George«, brabbelte sie. »George Smi­ley. Herr im Himmel. Der Herr beschütze und bewahre uns. George.« Ihr Blick war halb besitzergreifend, halb tadelnd, als wäre er ein auf Abwege geratener geliebter Sohn. Noch eine Weile hielt dieser Blick ihn fest, dann schweiften ihre Augen hinüber zu den französischen Fenstern und dem dunkelnden Himmel draußen.

»Kirow«, sagte er nochmals, eindringlicher, und wartete, fragte sich allen Ernstes, ob es wirklich aus und vorbei sei mit ihr; ob ihr Geist zusammen mit ihrem Körper verfalle und nichts mehr zu holen sei.

»Kirow, Oleg«, wiederholte sie nachdenklich. »Geboren Lenin­grad Oktober 1929, laut Reisepaß, was keinen Pfifferling besagt, außer daß er Leningrad im ganzen Leben nicht einmal von fern gesehen hat.« Sie lächelte, als sei dies eben der Lauf der schnöden Welt. »Ankunft in Paris 1. Juni 1974, Rang und Stellung des Zweiten Botschaftssekretärs, Handelsabteilung. Vor drei bis vier Jahren, sagten Sie? Lieber Himmel, es könnten zwanzig sein. Stimmt, Darling, er war vom Geheimdienst. Klar. Indenti­fiziert durch die Pariser Loge der armen alten Riga-Gruppe, was uns auch nicht weiterhalf, schon gar nicht auf der fünften Etage. Wie war sein richtiger Name? Kursky. Natürlich, so hieß er. Ja, ich glaube, ich erinnere mich. Oleg Kirow, né Kursky, genau.« Ihr Lächeln kehrte zurück und war wiederum sehr hübsch. »Dürfte so ziemlich Wladimirs letzter Fall gewesen sein. Wie geht's dem alten Sünder?« fragte sie, und ihre feuchten klugen Augen warteten auf die Antwort.

»Oh, in Hochform«, sagte Smiley.

»Immer noch der Jungfernschreck von Paddington?«

»Bin ich überzeugt.«

»Hol's der Kuckuck, Darling«, sagte Connie und drehte den Kopf, bis sie ihm das Profil zuwandte, das ganz dunkel war bis auf den einen dünnen Strahl der Petroleumlampe, während sie wieder durchs Fenster starrte.

»Gehen Sie raus und sehen Sie nach dem verrückten Huhn, ja?« sagte sie liebevoll. »Am Ende hat sie sich in den Mühlbach ge­stürzt oder den Universal-Unkrautvertilger ausgetrunken.«

Smiley trat hinaus auf die Veranda und erspähte in der niedersin­kenden Nacht Hilarys Gestalt, die mit ungelenken langen Schritten von Käfig zu Käfig ging. Er hörte die Schöpfkelle gegen den Eimer klappern und dann und wann ihre wohlerzogene Stimme durch die Nachtluft klingen, wenn sie kindische Namen rief: Komm, Whitey, Flopsy, Bo.

»Alles in Ordnung«, sagte Smiley, als er wieder ins Haus trat. »Füttert die Hühner.«

»Ich sollte sie ins andere Lager schicken, meinen Sie nicht, George?« bemerkte sie, als habe sie seinen Lagebericht nicht ge­hört. »>Zieh hinaus in die Welt, Hils, mein Kind.< Das sollte ich sagen. >Bleib nicht länger bei einem morschen alten Wrack wie Con. Heirate den nächstbesten Narren, wirf ein paar Bälger, er­fülle deine niederträchtige Bestimmung.<« Connie hatte für all und jeden eine besondere Stimme, erinnerte er sich: sogar für sich selber. Sie hatte sie auch jetzt noch. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich's tue, George. Ich brauche sie. Jeden prachtvol­len Zentimeter. Ich würde sie mitnehmen, wenn's irgend mög­lich wäre. Sollte man vielleicht wirklich versuchen.« Pause. »Wie geht's all den Jungens und Mädels?«

Sekundenlang begriff er ihre Frage nicht; seine Gedanken waren noch immer bei Hilary und Ann.

»Seine Gnaden Saul Enderby führen immer noch die Meute an, ja? Frißt ordentlich, wie ich hoffe? Keine Staupe?«

»Oh, Saul entwickelt sich von Tag zu Tag prächtiger, danke.« »Diese Kröte Sam Collins immer noch Leiter von London Sta­tion?«

Lauter heikle Fragen, aber es blieb ihm keine Wahl, er musste antworten.

»Sam geht's auch prima«, sagte er.

»Toby Esterhase schlängelt sich nach wie vor durch die Korrido­re?«

»Alles ist noch ziemlich so, wie früher.«

Ihr Gesicht lag nun für ihn völlig im Dunkeln, so daß er nicht feststellen konnte, ob sie Miene machte, weiterzusprechen. Er hörte sie atmen und das Rasseln in ihrer Brust. Aber er wußte, daß er noch immer Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war.

»Sie würden nie und nimmer für dieses Pack arbeiten, George«, bemerkte sie schließlich, als handelte es sich dabei um die augen­fälligste Binsenwahrheit. »Nicht Sie. Geben Sie mir noch einen Schluck.«

Smiley war froh, aufstehen zu können und ging wieder quer durch das Zimmer.

»Kirow, sagten Sie?« rief Connie ihm zu.

»Stimmt«, sagte Smiley vergnügt und kehrte mit ihrem frisch ge­füllten Glas zurück.

»Dieses Frettchen Otto Leipzig war die erste Hürde«, bemerkte sie voll Behagen, nachdem sie einen tüchtigen Zug genommen hatte. »Die fünfte Etage wollte ihm kein Wort glauben, wie? Nicht unserem kleinen Otto, oh nein! Otto war ein Lügenmaul, punktum!«

»Aber ich glaube nicht, daß Leipzig uns jemals überMoskau be­logen hat«, sagte Smiley, als kramte er gleichfalls in Erinnerun­gen.

»Nein, Darling, das hat er nicht«, sagte sie beifällig. »Er hatte seine Schwächen, zugegeben. Aber wenn es um die große Sache ging, hat er immer ehrlich gespielt. Und Sie haben das begriffen, als einziger Ihres Stammes, Respekt. Aber Sie erhielten wenig Unterstützung von den übrigen Baronen, wie?«

»Auch Wladimir hat er nie belogen«, sagte Smiley. »Allein schon deshalb, weil Wladimirs Fluchtkanäle ihm seinerzeit aus Ruß­land heraushalfen.«

»Ja, ja,« sagte Connie nach einer weiteren langen Pause.

»Kirow, né Kursky, das Rote-Rübenschwein.«

Sie sagte es ein zweites Mal - »Kirow, né Kursky« -, ein Sammel­signal an ihr eigenes ungeheuerliches Gedächtnis. Während die­ser Worte sah Smiley im Geist wiederum das Zimmer im Flugha­fenhotel vor sich und die beiden seltsamen Verschwörer in ihren schwarzen Mänteln: der eine so hünenhaft, der andere winzig; der alte General, der seine Körpergröße einsetzte, um seinem leidenschaftlichen Flehen Nachdruck zu verleihen; daneben der kleine Leipzig, wie ein Hündchen, das an der Leine zerrt.

Connie war der Verführung erlegen.

Aus dem Glimmen der Petroleumlampe war ein rauchiger Lichtball geworden, und Connie saß in ihrem Schaukelstuhl, ganz vorn an der Kante, Mütterchen Rußland persönlich, wie sie im Circus geheißen hatte, das zerrüttete Gesicht verklärt von Er­innerung, während sie die Geschichte dieses einen ihrer unge­zählten mißratenen Kinder entrollte. Was auch immer sie als wahren Grund für Smileys Auftauchen argwöhnen mochte, sie schob es von sich: Dies war ihr Lebensinhalt gewesen, ihr Hohe­lied, auch wenn sie es nun zum letztenmal sang; in diesen über­wältigenden Gedächtnisleistungen lag ihr Genie. In den alten Tagen, dachte Smiley, hätte sie mit ihm geflirtet, mit ihrer Stimme kokettiert, gewaltige Bogen durch anscheinend Unwe­sentliches zur Geschichte der Moskauer Zentrale geschlagen, al­les nur, um ihn näher zu locken. Doch heute abend war ihr Er­zählstil von erschreckender Nüchternheit, als wisse sie, daß ihr nur noch wenig Zeit blieb.

Oleg Kirow sei direkt aus Moskau in Paris eingetroffen, wieder­holte sie - damals im Juni, Darling, wie ich schon sagte -, da­mals, als es regnete und regnete und das alljährliche Cricket­match von Sarratt drei Sonntage nacheinander abgesagt werden mußte. Der Fette Oleg wurde als Einzelgänger geführt, und er löste auch niemand anderen ab. Sein Schreibtisch stand in der zweiten Etage mit Blick auf die Rue Saint-Simon - verkehrs­reich, aber hübsch, Darling -, während die Residentur der Mos­kauer Zentrale sich im dritten und vierten Stock breit machte, zum wütenden Ärger des Botschafters, der sich von seinen unge­liebten Nachbarn wie in einen Schrank gepfercht fühlte. Nach außen hin schien Kirow daher auf den ersten Blick ein weißer-Rabe im diplomatischen Corps der Sowjets zu sein - nämlich ein echter Diplomat. Aber in Paris war es damals Usus - und, soviel Connie wußte, auch noch heutzutage -, daß, sobald in der So­wjetbotschaft ein neues Gesicht auftauchte, sein Foto an alle Stammeshäuptlinge der Emigranten verteilt wurde. Brüderchen Kirows Foto gelangte ebenfalls auf diesem Weg an die Gruppen, und im Handumdrehen donnerte dieser alte Teufel Wladimir im Zustand höchster Erregung an die Tür seines Einsatzleiters -Steve Mackelvore war damals Resident in Paris gewesen, Gott hab ihn selig, er starb bald danach an Herzversagen, aber das ist eine andere Geschichte - und behauptete, »seine Leute« hätten Kirow als einen ehemaligen agent provocateur namens Kursky identifiziert, der als Student an der Technischen Hochschule in Reval eine Vereinigung regimekritischer estnischer Hafenarbei­ter gegründet habe, genannt »Blockfreier Diskussionsclub«, und die Mitglieder dann an die Geheimpolizei verpfiff. Wladimirs Quelle war einer dieser unglücklichen Dockarbeiter, der sich zur Zeit in Paris aufhielt und der einst um seiner Sünden willen be­sonders eng mit Kursky befreundet gewesen war, bis er prompt von ihm verraten wurde.

So weit, so gut, nur, daß Wladis Quelle - sagte Connie - kein an­derer gewesen sei, als unser gottvergessener kleiner Otto, was bedeutete, daß die Sache von Anfang an verkorkst war.

Während Connie weitersprach, begannen Smileys Erinnerungen aufs neue, die ihren zu ergänzen. Er sah sich in den letzten Mo­naten seiner kommissarischen Amtsführung als Chef des Circus, wie er müde die wackelige Holztreppe von der fünften Etage zur Montagsbesprechung hinunterklomm, ein Bündel zerlesener Akten unter den Arm geklemmt. Der Circus hatte in jenen Ta­gen einem zerbombten Bauwerk geglichen, erinnerte er sich; das Personal in alle Winde zerstreut, der Etat an allen Enden be­schnitten, die Agenten hochgegangen oder tot oder abgeschaltet. Bill Haydons Entlarvung war in allen Gemütern eine offene Wunde: Sie nannten sie den Sündenfall und empfanden alle die gleiche uralte Scham. Im Innersten machten sie vielleicht sogar Smiley dafür verantwortlich, denn Smiley hatte Bills Verrat auf­gedeckt. Er sah sich selber, wie er den Vorsitz bei der Bespre­chung führte, und den Kreis feindseliger Gesichter, der sich um ihn geschlossen hatte, während die Fälle der Woche einer um den anderen zur Debatte gestellt und den üblichen Fragen unterwor­fen wurden: Wollen wir diesen weiter verfolgen oder nicht? Sagen wir, noch eine Woche lang? Noch einen Monat? Noch ein Jahr? Ist es nur eine Finte, können wir uns notfalls distanzieren, liegt es im Rahmen unseres Auftrags? Welche Mittel sind nötig, und würden sie besser anderweitig eingesetzt? Wer wird verant­wortlich zeichnen? Wer soll informiert werden? Wieviel wird es kosten? Er entsann sich des stürmischen Protests, den der bloße Name oder Arbeitsname Otto Leipzig bei solch fragwürdigen Richtern wie Lauder Strickland, Sam Collins und ihresgleichen sofort auslöste. Er versuchte sich zu erinnern, wer außer Connie und ihren Kohorten aus der Rußland-Abteilung noch dabei ge­wesen war. Der Chef der Finanzabteilung, der Chef des Ressorts Westeuropa, der Chef von Sowjet Attack, die meisten bereits Saul Enderbys Leute.

Und Enderby selber, damals nominell noch im Auswärtigen Dienst und von seiner eigenen Palastwache in der Maske des Verbindungsmanns zu Whitehall eingeschleust. Doch schon war sein Lächeln ihr Lachen, sein Stirnrunzeln ihre Ablehnung. Smi­ley sah sich wieder als Zeuge der Kapitulation - Connies Kapitu­lation -, die sie nun noch einmal schilderte, zusammen mit den Ergebnissen ihrer vorangegangenen Recherchen.

Ottos Geschichte sei schlüssig, hatte sie behauptet. Bisher habe man keine Unstimmigkeiten gefunden. Sie hatte ihre Ergebnisse vorgewiesen:

Ihre eigene Rußland-Abteilung habe in gedruckten Quellen die Bestätigung gefunden, daß ein Jura-Student Oleg Kursky wäh­rend der entscheidenden Zeitspanne an der Universität von Riga gewesen sei, sagte sie.

Unterlagen des Foreign Office aus dieser Zeit sprächen von Un­ruhen in den Docks.

Ein bei den amerikanischen Vettern vorhandener Überläufer-Bericht nenne einen gewissen Kursky oder Karsky, Anwalt, Vorname Oleg, der 1971 einen Ausbildungskursus der Mos­kauer Zentrale in Kiew absolviert habe.

Dieselbe, allerdings suspekte Quelle sei der Meinung, Kursky habe später auf Anraten seiner Vorgesetzten seinen Namen geändert, »aufgrund seiner bereits gesammelten Erfahrungen als Außenagent«.

Den, wenn auch notorisch unzuverlässigen, routinemäßig aus­getauschten französischen Berichten sei zu entnehmen, daß Ki­row in der Tat für einen Zweiten Sekretär der Handelsabteilung in Paris ungewöhnliche Freiheiten genieße: Er gehe zum Beispiel allein einkaufen und besuche Empfänge der Dritten Welt ohne die übliche fünfzehnköpfige Begleitmannschaft.

Kurzum, dies alles - so hatte Connie viel zu energisch für den Geschmack der fünften Etage geendet -, dies alles bestätige Leipzigs Geschichte und den Verdacht, daß Kirow mit geheim­dienstlichen Aufgaben betraut sei. Dann klatschte sie die Akte auf den Tisch und ließ ihre Fotos herumgehen - eben jene von französischen Abwehrteams routinemäßig geschossenen Auf­nahmen, die den ursprünglichen Tumult in den Zentralen der Pariser Riga-Gruppe ausgelöst hatten. Kirow steigt in einen Wa­gen der Gesandtschaft. Kirow verläßt mit einer Aktenmappe die Moskauer Norodny-Bank. Kirow verweilt vor dem Schaufen­ster einer auf Erotica spezialisierten Buchhandlung, um mißbil­ligend die Titelseiten der Magazine zu betrachten.

Aber keines der Fotos, dachte Smiley - der wieder in die Gegen­wart zurückkehrte -, keines zeigte Oleg Kirow und sein einstiges Opfer Otto Leipzig, wie sie sich mit zwei Damen verlustierten.


»Das also war derFall, Darling«, verkündete Connie, nachdem sie einen tüchtigen Schluck aus ihrem Glas genommen hatte. »Wir hatten die Aussage Klein-Ottos und jede Menge in den Ak­ten, um deren Richtigkeit zu bestätigen. Wir hatten einiges an Stützmaterial aus anderen Quellen - nicht gerade Unmengen, das nicht, aber es war ein Anfang. Kirow war von Moskau einge­schleust, er war neu auf seinem Posten, aber zu welchem Zweck, das konnte man nur raten. Und das machte ihninteressant, nicht war, Darling?«

»Ja«, sagte Smiley zerstreut. »Ja, Connie, ich erinnere mich, daß es so war.«

»Er gehörte nicht zum Stammpersonal der Residentur, das wuß­ten wir vom ersten Tag an. Er fuhr nicht in Wagen der Residentur herum, machte keinen Nachtdienst oder arbeitete im Tandem mit identifizierten Leuten der Residentur, er benutzte weder ihren Chiffrierraum noch nahm er an den wöchentlichen Andachts­übungen teil oder fütterte die Hauskatze der Residentur, nichts dergleichen. Andererseits war Kirow auch nicht Karlas Mann, oder, Herzchen ? Und das war das Merkwürdige an der Sache.«

»Warum nicht?« fragte Smiley, ohne sie anzusehen. Aber Con­nie sah sehr wohl Smiley an. Connie machte eine ihrer langen Pausen, um ihn ausgiebig zu betrachten, während draußen in den absterbenden Ulmen die klugen Krähen die jähe Stille nutz­ten, um ein Shakespearesches Omen zu krächzen.

»Weil Karla bereits seinen Mann in Paris hatte, Darling«, er­klärte sie geduldig. »Wie Sie sehr wohl wissen. Diesen alten Querkopf Pudin, den stellvertretenden Militärattache. Sie erin­nern sich noch, daß Karla immer eine Vorliebe für Soldaten hat­te. Hat er noch immer, soviel ich weiß.« Connie brach ab, um aufs neue Smileys ausdruckslose Miene zu studieren.

Er hatte das Kinn in beide Hände gestützt und die halb geschlos­senen Augen zu Boden gerichtet. »Außerdem war Kirow ein Idiot, und wenn es etwas gab, was Karla noch nie leiden konnte, dann waren es Idioten, stimmt's? Übrigens hatten Sie selber für diese Sorte nie viel übrig. Oleg Kirow hatte keine Manieren, stank, schwitzte und fiel überall auf, wie ein Fisch in einem Baum. Karla wäre meilenweit gerannt, ehe er einen solchen Hornochsen angeheuert hätte.« Wieder eine Pause. »Und Sie auch«, fügte sie hinzu.

Smiley hob eine Hand und legte sie mit den Fingern nach oben an die Schläfe, wie ein Kind bei einer Prüfung. »Es sei denn -«, sagte er.

»Es sei denn, was ? Es sei denn, er hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, wie? Also, den Tag möchte ich noch erleben!«

»Und damals gingen auch diese Gerüchte um«, sagte Smiley aus der Tiefe seiner Gedanken.

„Welche Gerüchte? Gerüchte hat es immer gegeben, Schafs­kopf.«

»Oh, nur Berichte von Überläufern«, sagte er geringschätzig. »Geschichten über seltsame Vorgänge in Karlas Hofstaat. Zweitrangige Quellen, natürlich. Aber wiesen sie nicht darauf hin -«

»Worauf?«

»Nun ja, wiesen sie nicht darauf hin, daß er recht seltsame Leute auf seine Besoldungsliste setzte? Mitten in der Nacht Bespre­chungen mit ihnen abhielt? Alles nur geringwertiges Material, ich weiß. Ich erwähne es nur so en passant.«

»Und wir bekamen Anweisung, uns nicht darum zu kümmern«, sagte Connie sehr bestimmt. »Kirow war das Ziel. Nicht Karla. So lautete der Befehl aus der fünften Etage, George, zu der auch Sie gehörten. >Schluß mit der Sternguckerei, konzentriert euch auf die irdischen Aufgaben<, sagten Sie.« Connie verzog den Mund, legte den Kopf zurück und lieferte eine beklemmend rea­listische Karikatur von Saul Enderby: »> Aufgabe dieser Dienst­stelle ist das Sammeln von Erkenntnissen<«, knautschte sie, »>nicht die Befehdung der Gegenseite.< Sagen Sie bloß nicht, er habe seine Sprechweise inzwischen geändert, Darling. Wie? George?« flüsterte sie. »O George, Sie sind gemein!«

Er holte ihr einen weiteren Drink, und als er zurückkam, sah er, daß ihre Augen vor boshafter Erregung glänzten. Sie zerrte an den Büscheln ihres weißen Haars, wie früher, als sie es noch lang getragen hatte.

»Der springende Punkt ist doch, daß wir die Operation geneh­migt haben, Con«, sagte Smiley und versuchte, sie durch seinen sachlichen Ton im Zaum zu halten. »Wir haben die Zweifler überstimmt und Ihnen die Erlaubnis erteilt, mit Kirow bis an die Strafraumgrenze weiterzumachen. Wie ist es danach gelaufen?«


Doch der Alkohol, die Erinnerungen, das wieder heraufbe­schworene Jagdfieber hatten sie so in Schwung gebracht, daß auch Smileys militärischster Tonfall sie nicht mehr bremsen konnte. Während des Sprechens beschleunigte sich ihr Atem, bis sie keuchte, wie ein gefährlich überhitzter Dampfkessel. Sie er­zählte Otto Leipzigs Geschichte, wie Leipzig sie Wladimir er­zählt hatte. Smiley hatte geglaubt, noch mit ihr zusammen im Circus zu sein, in jener Zeit, als die Ermittlungen gegen Kirow gerade anliefen. Sie war indes in ihrer Phantasie zurückgegangen bis in das Tallinn von einst, mehr als ein Vierteljahrhundert vor der Gegenwart. Sie kannte diese Stadt, in ihrer ungewöhnlichen Vorstellungskraft war sie tatsächlich dort gewesen; sie hatte Leipzig und Kirow in der Zeit ihrer Freundschaft gekannt. Eine Love-Story, behauptete sie. Klein Otto und der Fette Oleg. Das sei der Schlüssel des Ganzen, sagte sie; soll die alte Närrin doch die Geschichte so erzählen, wie sie wirklich war, sagte sie, und Sie, George, können Ihre eigenen schnöden Ziele verfolgen, während ich spreche.

»Die Schildkröte und der Hase, Darling, genau das waren die beiden. Kirow, das dicke traurige Baby, Studien fleißig die Ge­setzesbücher an der Uni und sieht in der verfluchten Geheimpo­lizei seinen Daddy; und unser kleiner Otto Leipzig, der Teufel in Person, mit allen Wassern gewaschen und auch schon im Ge­fängnis gewesen, arbeitet tagsüber in den Docks und schürt bei Nacht den Aufruhr bei den Blockfreien. Die beiden lernen sich in einer Kneipe kennen, und es war Liebe auf den ersten Blick. Otto riß die Mädchen auf, Oleg Kirow segelte in seinem Kiel­wasser und angelte sich die Reste. Was haben Sie mit mir vor, George? Heilige Johanna spielen?«

Er hatte ihr eine frische Zigarette angezündet und sie ihr in den Mund gesteckt, da er hoffte, sie zu beruhigen, aber durch das fieberhafte Sprechen war die Zigarette bereits weit genug abge­brannt, um sie zu versengen. Smiley nahm ihr flugs die Zigarette weg und drückte sie auf dem Blechdeckel aus, der als Aschenbe­cher diente.

»Eine Zeitlang teilten sie sich sogar ein Mädchen«, sagte Connie so laut, daß sie beinah schrie. »Und eines Tages, ob Sie's glauben oder nicht, kam diese arme Irre doch tatsächlich zu Klein Otto und warnte ihn unverblümt. >Dein fetter Freund ist eifersüchtig auf dich; und er ist ein Spitzel der Geheimpolizei<, sagte sie. >Der blockfreie Diskussionsclub wird demnächst hopsgenommen. Hüte dich vor den Iden des März!<«

»Sachte, Con«, warnte Smiley sie ängstlich. »Con, immer mit der Ruhe!«

Ihre Stimme wurde noch lauter: »Otto warf das Mädchen hin­aus, und eine Woche später wurde der ganze Verein verhaftet. Einschließlich des fetten Oleg, versteht sich, der sie verpfiffen hatte - aber sie wußten es. Oh, sie wußten es!« Connie zögerte, als habe sie den Faden verloren. »Und das dumme Ding, das ihn hatte warnen wollen, starb«, sagte sie. »Vermißt, vermutlich beim Verhör abhanden gekommen. Otto kämmte alles nach ihr durch, bis er jemand fand, der mit ihr in den Zellen gewesen war. Tot wie ein Dodo. Zwei Dodos. Tot, wie ich es bald sein werde, verdammt bald.«

»Machen wir doch später weiter«, sagte Smiley. Er hätte auch al­les getan um sie zu bremsen - Tee gemacht, übers Wetter geplau­dert, irgendetwas, nur um ihr wachsendes Tempo zu bremsen -, aber sie hatte einen zweiten Sprung getan und war schon wieder zurück in Paris, beschrieb, wie Otto Leipzig mit dem ungern er­teilten Segen der fünften Etage und der leidenschaftlichen Unter­stützung des alten Generals sich daran machte, die Wiederbe­gegnung, nach allen diesen verlorenen Jahren, mit dem Zweiten Botschaftssekretär Kirow zu inszenieren, den Connie als das Rote-Rübenschwein bezeichnete. Smiley vermutete, daß sie ihn damals so nannte. Ihr Gesicht war scharlachrot und ihr Atem zu knapp für ihre Geschichte, so daß er immer wieder röchelnd aus­setzte, doch sie zwang sich, weiterzusprechen.

»Connie«, flehte er abermals, aber es nutzte nichts, und viel­leicht hätte überhaupt nichts genutzt.

Klein Otto begann die Suche nach dem Rote-Rübenschwein da­mit, daß er sämtliche franco-sowjetischen Freundschaftsclubs aufsuchte, in denen Kirow verkehrte.

»Der arme kleine Otto muß den >Panzerkreuzer Potemkin< fünfzehnmal gesehen haben, aber kein einziges Mal tauchte das Rote-Rübenschwein auf.«

Dann hieß es, Kirow zeige ernsthaftes Interesse an Emigranten und bezeichne sich sogar als ihr heimlicher Sympathisant, halte bei ihnen Umfragen, ob er, als Botschaftsangehöriger, irgendet­was tun könne, um ihren Angehörigen in der Sowjetunion zu helfen. Mit Wladimirs Hilfe versuchte Leipzig, Kirow zufällig in den Weg zu laufen, aber wiederum hatte er kein Glück. Dann fing Kirow an zu reisen - überallhin zu reisen, mein Lieber, der reinste Fliegende Holländer -, so daß Connie und ihre Jungens sich bereits fragten, ob er vielleicht eine Art Verwaltungsbeamter für die Moskauer Zentrale sei und überhaupt nicht operativ ein­gesetzt: zum Beispiel Rechnungsprüfer für eine Gruppe europä­ischer Residenturen, mit Hauptstelle in Paris, Bonn, Madrid, Stockholm, Wien.

»Für Karla oder für das Amt?« fragte Smiley ruhig.

Nur Gedanken seien zollfrei, sagte Connie, aber sie wette ihren letzten Penny, daß es für Karla war. Auch wenn Pudin bereits am Ort gewesen sei. Auch wenn Kirow ein Idiot gewesen sei und kein Soldat: Es mußte für Karla gewesen sein, sagte Connie und widerlegte so ihre eigenen vorhergegangenen Behauptungen. Hätte Kirow die Residenturen der Zentrale besucht, so wäre er von identifizierten Geheimdienstleuten behaust und bewirtet worden. Aber nichts dergleichen, er lebte seine Legende und hielt sich nur bei seinen Landsleuten und Kollegen in den Han­delsabteilungen auf.

Trotzdem, die Fliegerei hat es schließlich gebracht, sagte Con­nie. Klein Otto wartete, bis Kirow einen Flug nach Wien ge­bucht hatte, vergewisserte sich, daß Oleg allein reiste, nahm die­selbe Maschine und schon waren sie im Geschäft.

»Eine schlichte Gimpelfalle, wie sie im Lehrbuch steht, darauf wollten wir hinaus«, sang Connie jetzt sehr laut. »Die gute alte Sex-Falle. Ein großer Fisch würde vielleicht bloß lachen, aber nicht Genosse Kirow, am allerwenigsten, wenn er bei Karla im Sold stand. Schlüpfrige Fotos und Auskünfte mit Drohungen, das wollten wir haben. Und wenn wir mit ihm fertig gewesen wären und herausgefunden hätten, wer seine sauberen Freunde waren und wer ihm soviel berauschende Freiheit gewährte, dann hätten wir ihn uns entweder als Überläufer gekauft oder ihn in den Tümpel zurückgeworfen, je nachdem, wieviel von ihm übrig gewesen wäre!«

Sie hielt jäh inne. Sie öffnete den Mund, schloß ihn, holte ein we­nig Atem und hielt Smiley ihr Glas hin.

»Darling, hol dem alten Schwamm noch ein Schlückchen, dalli-dalli, ja? Connie kriegt ihre Zustände. Nein, lieber nicht. Blei­ben Sie sitzen.«

Eine fatale Sekunde lang war Smiley ratlos.

»George?«

»Connie, hier bin ich. Was ist los?«

Er war schnell, aber nicht schnell genug. Er sah, wie ihr Gesicht versteinerte, sah die verkrümmten Hände hochfliegen und ihre Augen sich vor Ekel zusammenkneifen, als hätte sie einen grau­enhaften Unfall gesehen.

»Hils, schnell!« schrie sie. »Verflixt nochmal!«

Er nahm sie in die Arme und spürte, wie sie die Hände um seinen Nacken schlang, um ihn noch fester zu halten. Ihre Haut war kalt, sie zitterte, aber vor Entsetzen, nicht vor Kälte. Er blieb ganz nah bei ihr, roch Scotch und medizinischen Hautpuder und alte Dame, während er versuchte, sie zu trösten. Ihre Tränen lie­fen ihm über die Wangen, er konnte sie fühlen und hatte noch den salzigen Geschmack im Mund, als Connie ihn wegstieß. Er fand ihre Handtasche, öffnete sie und reichte sie ihr, dann lief er hastig wieder hinaus auf die Veranda und rief nach Hilary. Sie kam aus dem Dunkeln angerannt, die Fäuste halb geschlossen, Ellbogen und Hüften rotierend, ein Anblick, bei dem Männer meist lachen müssen. Grinsend vor Verlegenheit hastete sie an ihm vorbei, und er blieb allein auf der Veranda und fühlte die kalte Nachtluft auf seinen Wangen prickeln, während er in die aufziehenden Regenwolken starrte und in die Fichten, die der Mond zu versilbern begann. Die Hunde hatten sich beruhigt. Nur die kreisenden Krähen ließen ihre mißtönenden Warnrufe hören. Geh, sagte er sich. Weg von hier. Nichts wie weg. Der Wagen wartete kaum hundert Schritt von ihm entfernt, schon bildete sich Reif auf dem Dach. Er stellte sich vor, wie er hinein­springen würde und den Hügel hinauffahren, durch die Fichten­schonung und immer weiter, um nie mehr zurückzukehren. Aber er wußte, daß er es nicht fertigbrächte.

»Sie sollen wieder reinkommen, George«, sagte Hilary streng von der Tür her, mit der Autorität der Menschen, die Sterbende pflegen.

Aber als er wieder ins Haus trat, war alles in schönster Ordnung.

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