8

Er stand an der Mündung der Allee und spähte in den Tunnel aus Birkenbäumen, die wie eine Armee auf dem Rückzug immer mehr im Dunst versanken. Die Dunkelheit war widerstrebend einem Stubendämmer gewichen. Es hätte schon auf den Abend zugehen können: Teestunde in einem alten Landhaus. Die Stra­ßenlampen rechts und links von ihm waren trübe Funzeln, die nichts erhellten. Die Luft war warm und schwer. Er hatte erwar­tet, noch Polizisten zu sehen und eine abgesperrte Fläche. Er hatte Journalisten und neugierige Gaffer erwartet. Es ist über­haupt nie passiert, sagte er sich, als er langsam den Hang hinun­terging. Ich habe den Schauplatz kaum verlassen, da hat sich Wladimir, mit dem Stock in der Hand, vergnügt aufgerappelt, sein grauenhaftes Make-up weggewischt und ist mit dem übrigen Ensemble auf ein Bierchen zum Polizeirevier geflitzt.

Stock in der Hand, wiederholte er für sich, und dachte dabei an etwas, das der Superintendent zu ihm gesagt hatte. Linke Hand oder rechte Hand? »Kreidespur an der linken Hand«, hatte Mr. Murgotroyd im Kastenwagen gesagt. »Daumen, Zeige- und Mittelfinger.«

Während er weiterging, wurde die Allee immer dunkler und der Dunst dichter. Seine Schritte warfen ein blechernes Echo voraus. Zwanzig Yards höher brannte braunes Sonnenlicht wie ein schwelendes Freudenfeuer. Doch hier unten in der Senke hatte der Dunst sich zu einem kalten Nebel verdichtet, und Wladimir war tot, ein für allemal. Er sah Reifenspuren, wo die Polizeifahr­zeuge geparkt hatten, bemerkte das Fehlen von Laub und die unnatürliche Sauberkeit des Kieswegs. Was tun sie nur? fragte er sich. Den Weg mit einem Schlauch abspritzen? Das Laub in ein paar von ihren Plastikkopfkissen kehren?

Seine Müdigkeit war einer neuen geheimnisvollen Klarheit gewi­chen. Er schritt weiter die Allee entlang, wünschte Wladimir gu­ten Morgen und gute Nacht und kam sich dabei nicht lächerlich vor, dachte intensiv nach über Reißzwecken und Kreide und französische Zigaretten und Moskauer Regeln, hielt Ausschau nach einer Blechhütte an einem Spielfeld. Der Reihe nach vorge­hen, ermahnte er sich. Mit dem Anfang beginnen. Laß die Gau­loises auf ihrem Regal. Er kam zu einer Wegkreuzung, über­querte sie, ging weiter hügelan. Zu seiner Rechten erschienen Torpfosten und dahinter eine grüne, angerostete und anschei­nend leere Wellblechhütte. Er stapfte über das Spielfeld, wobei Regenwasser seine Schuhe durchnäßte. Hinter der Hütte lief eine steile Schlammböschung entlang, auf der die Kinder glatte Schlitterbahnen gezogen hatten. Er kletterte die Böschung hin­auf, drang in ein Dickicht und kletterte weiter. Der Nebel war noch nicht zwischen die Bäume gedrungen, und als Smiley auf dem Hügelrücken ankam, war die Luft klar. Es war noch immer niemand in Sicht. Er kehrte um und näherte sich durch die Bäume der Hütte. Es war ein Blechschuppen, weiter nichts, an der Spielfeldseite offen. Das einzige Möbel war eine roh gezim­merte Bank voller Kerben und messergeschnitzter Inschriften, der einzige Anwesende eine Gestalt, die bäuchlings auf der Bank lag, unter einer Decke, die den Kopf verhüllte und nur die brau­nen Stiefel freiließ. Eine Schrecksekunde lang fragte sich Smiley, ob man wohl dem Liegenden auch das Gesicht weggeschossen habe. Balken stützten das Dach, ernste moralische Appelle be­lebten den abblätternden grünen Anstrich. »Punks sind zerset­zend. Die Gesellschaft braucht sie nicht.« Diese Behauptung rief in ihm einen Augenblick der Unentschlossenheit hervor. »Oh, die Gesellschaft braucht sie sehr wohl«, hätte er gern erwidert; »die Gesellschaft ist eine Ansammlung von Minderheiten.« Die Reißzwecke befand sich dort, wo Mostyn gesagt hatte, daß sie sein würde, genau in Kopfhöhe, ordnungsgemäß nach bester Sarratt-Tradition, ihr ärarischer Messingkopf war so neu und unbefleckt, wie der Knabe, der sie angebracht hatte.

Geh zum Treff', besagte sie; keine Gefahr gesichtet.

Moskauer Regeln, dachte Smiley wieder einmal. Moskau, wo ein Außenmann drei Tage brauchen konnte, um einen Brief zu einer sicheren Adresse zu bringen. Moskau, wo alle Minderheiten Punks sind.

Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbrin­gen . . .

Wladimirs Bestätigung in Kreide lief dicht an der Reißzwecke entlang, ein flatternder gelber Wurm von einer Botschaft, der sich den ganzen Pfosten hinunterkringelte. Vielleicht hatte der alte Mann sich wegen des Regens Sorgen gemacht, dachte Smi­ley. Vielleicht befürchtete er, der Regen werde die Markierung abwaschen. Oder vielleicht hat er auch nur in seiner Aufregung zu heftig auf die Kreide gedrückt, so wie er sein Norfolk-Jackett auf dem Schrankboden hatte liegen lassen. Ein Treff oder gar nichts, hatte er zu Mostyn gesagt . . . Heute abend oder über­haupt nicht . . . Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen . . . Trotz allem hätte nur ein sehr aufmerksamer Beobachter die Markierung bemerkt, so augenfällig sie auch war; desgleichen die glänzende Reißzwecke, und nicht einmal der sehr aufmerksame Beobachter wäre stutzig geworden, denn Hampstead Heath wimmelt von Zetteln und Botschaften, ange­bracht von Leuten, die keineswegs samt und sonders Spione sind; Einige sind Kinder, einige sind Landstreicher, einige sind Gläubige im Herrn und Organisierer von Wohltätigkeitsmär­schen, einige suchen entlaufene Haustiere, wieder andere sehnen sich nach Abwechslung in der Liebe und müssen ihre Nöte un­bedingt von einer Hügelkuppe herab kundtun. Beileibe nicht al­len wird mit einer Mordwaffe aus der Moskauer Zentrale das Ge­sicht aus nächster Nähe weggeschossen.

Und der Zweck dieser Bestätigung? Als Smiley von seinem Schreibtisch in London aus in letzter Instanz für Wladimirs Ein­satz verantwortlich gewesen war, hatte man für Agenten in Moskau, mit deren Verschwinden jederzeit gerechnet werden mußte, diese Zeichen erdacht - abgebrochene Zweige auf einem Weg, der immer der letzte sein konnte. Ich sehe keine Gefahr und gehe laut Instruktionen zum vereinbarten Treff', besagte Wladimirs letzte - und unglücklicherweise falsche - Botschaft an die Welt der Lebenden.

Smiley verließ die Hütte und ging ein kleines Stück den Weg zu­rück, auf dem er gerade gekommen war. Er memorierte dabei gewissenhaft die Ausführungen des Superintendent über Wla­dimirs letzten Gang, zog die Schubladen seines Gedächtnisses auf, als kramte er in einem Archiv.

Diese Gummigaloschen sind eine Gottesgabe, Mr. Smiley, hatte der Superintendent fromm erklärt; North British Century, Diamant-Profilsohlen, Sir, und kaum getragen - also, man könnte ihm durch einen Haufen Fußballfans folgen, wenn's sein müßte!

»Ich gebe Ihnen die autorisierte Fassung«, hatte der Superinten­dent gesagt und dabei schneller gesprochen, da die Zeit drängte.

»Fertig, Mr. Smiley?«

Fertig, hatte Smiley gesagt.

Der Tonfall des Superintendent hatte sich verändert. Geplauder und Beweisaufnahme waren zwei Paar Stiefel. Er ließ den Schein der Stablampe im Rhythmus seiner Ausführungen auf den nas­sen Kies der abgeseilten Fläche fallen. Eine Vorlesung mit La­terna Magica, dachte Smiley; um ein Haar hätte er mitgeschrie­ben. »Hier taucht er auf und kommt jetzt den Hügel herunter, Sir. Sehen Sie ihn dort? Normaler Schritt, hübsche Absatz-Spit­ze-Abrollbewegung, normales Tempo, alles sonnenklar. Gese­hen, Mr. Smiley?«

Smiley hatte es gesehen.

»Auch die Stockspur da, mit der rechten Hand, haben Sie die ebenfalls gesehen, Mr. Smiley?«

Smiley hatte ebenfalls gesehen, wie der Spazierstock mit der Gummizwinge ein tiefes rundes Loch bei jeder zweiten Fuß­stapfe hinterlassen hatte.

»Während er natürlich den Stock in der linken Hand hielt, als er erschossen wurde, nicht wahr? Haben Sie auch gesehen, Sir, wie ich bemerkte. Wissen Sie zufällig, welches Bein das schlechtere war, wenn überhaupt, Sir?«

»Das rechte«, hatte Smiley gesagt.

»Ah. Dann hat er auch normalerweise den Stock höchstwahr­scheinlich rechts benützt. Bitte, hier runter, Sir, da geht's lang. Gangart immer noch normal, wie Sie bitte beachten wollen.« Der regelmäßige Diamant-Profilsohlenabdruck, Absatz und Spitze, war im Schein der Stablampe unverändert über fünf wei­tere Schritte zu sehen. Jetzt, bei Tageslicht, sah Smiley ihn nur noch als Gespenst. Der Regen, andere Füße, die Reifenspuren verkehrswidriger Radfahrer hatten das meiste ausgelöscht. Doch nachts, während der Laternenschau des Superintendent, hatte er die Abdrücke echt gesehen, so echt, wie die mit Plastik bedeckte Leiche ein Stück weiter unten, in der Senke, wo die Spur geendet hatte.

»Hier«, hatte der Superintendent befriedigt erklärt, wobei er stehengeblieben war und den Kegel seiner Stablampe auf einem zertretenen Stück Boden verweilen ließ.

»Wie alt war er, sagten Sie, Sir?« fragte der Superintendent. »Ich habe nichts gesagt, aber er ging auf die neunundsechzig zu.« »Und dann erst kürzlich ein Herzanfall, vermute ich. Also, Sir. Zuerst stoppt er scharf. Fragen Sie mich nicht, warum, vielleicht wurde er angesprochen. Ich würde sagen, er hörte etwas. Hinter sich. Bemerken Sie die Art, wie die Schritte kürzer werden, be­merken Sie die Stellung der Füße, als er sich halb umdreht, über die Schulter schaut oder dergleichen? Wie dem auch sei, erdreht sich um, darum sage ich >hinter sich<. Und was immer er sah oder nicht sah, hörte oder nicht hörte - er beschließt zu laufen. Und los prescht er, sehen Sie her!« drängte der Superintendent mit der plötzlichen Begeisterung des Sportsmanns. »Längerer Schritt, Absätze berühren kaum noch den Boden. Ein völlig anderer Ab­druck, rennt, was das Zeug hält. Man kann sogar sehen, wo er sich mit dem Stock abstieß, um nachzuhelfen.«

Als Smiley jetzt bei Tageslicht auf den Boden spähte, konnte er die verzweifelten Abdrücke der zuerst senkrecht, dann schräg nach unten gestossenen Zwinge nicht mehr mit Sicherheit sehen, so, wie er sie gestern Nacht tatsächlich - und heute Morgen im Geist - gesehen hatte.

»Der Haken war nur«, hatte der Superintendent ruhig und wie­der in seinem Gerichtssaalton kommentiert, »daß, was immer ihn umgebracht hat, vor ihm war, nicht wahr? Keineswegs hinter ihm.«

Sowohl, als auch, dachte Smiley jetzt, mit der Kenntnis, die ei­nige Stunden Abstand verschaffen. Sietrieben ihn, dachte er und versuchte vergebens, sich an den Sarratt-Ausdruck für diese be­sondere Technik zu erinnern. Sie kannten seinen Weg, und sie trieben ihn. Der Angstmacher scheucht das Ziel von hinten, der Killer lauert unentdeckt vorne, bis das Ziel direkt in ihn hinein­rennt. Denn auch die Mörder-Teams aus der Moskauer Zentrale wußten, daß selbst die ältesten Hasen stundenlang auf ihre Rückendeckung achten, auf ihre Flankendeckung, auf Autos, die vorbeifahren oder nicht, auf Straßen, die sie überqueren, und Häuser, die sie betreten. Und wenn es dann soweit ist, nicht in der Lage sind, die Gefahr zu erkennen, die ihnen von Angesicht zu Angesicht begegnet.

»Rennt immer noch«, hatte der Superintendent gesagt und sich stetig dem Toten unten am Hügel genähert. »Bemerken Sie, wie sein Schritt jetzt ein wenig länger wird wegen des steileren Gefäl­les? Auch unregelmäßig, sehen Sie? Die Füße fliegen in wilder Hast. Läuft ums liebe Leben. Buchstäblich. Und der Spazier­stock immer noch in der rechten Hand. Jetzt schert er aus, Rich­tung Straßenrand. Hat wohl den Kopf verloren, wäre ja auch kein Wunder. Hierher, bitte. Erklären Sie das, wenn Sie kön­nen!«

Der Lampensträhl verweilte auf einem Fleck mit dicht aneinan­derliegenden Fußabdrücken, fünf oder sechs, alle auf sehr engem Raum, am Grasrand zwischen zwei hohen Bäumen.

»Wieder stehengeblieben«, verkündete der Superintendent.

»Oder vielleicht nicht ganz, eigentlich mehr auf der Stelle getre­ten. Fragen Sie mich nicht, warum. Möglicherweise hat er nur die Füße durcheinandergebracht. Möglicherweise war es ihm unheimlich, so dicht an den Bäumen zu sein. Möglicherweise hat sein Herz gestreikt, wenn Sie sagen, daß es einen Knacks hatte. Dann rast er wieder los, wie zuvor.«

»Mit dem Stock in der linken Hand«, hatte Smiley ruhig gesagt. »Warum? Das frage ich mich, Sir, aber vielleicht wißt Ihr Leute die Antwort. Warum? Hat er wieder etwas gehört? Sich an etwas erinnert? Warum - wenn man um sein Leben rennt -, warum stehen bleiben, herumtrampeln, den Stock in die andere Hand nehmen und dann wieder losrennen? Direkt in die Arme des Mörders? Es sei denn, natürlich, der Bursche hinter ihm hat ihn hier überholt, vielleicht einen Bogen durch die Bäume geschla­gen? Irgendeine Erklärung von Ihrer Seite der Straße, Mr. Smi­ley?«

Diese Frage klang Smiley immer noch im Ohr, als sie schließlich bei der Leiche angekommen waren, die wie ein Embryo in ihrem Plastikbauch schwamm.

Doch an diesem darauffolgenden Morgen blieb Smiley kurz vor der Senke stehen. Er stellte seine durchnäßten Schuhe, so gut er konnte, jeweils auf den genau richtigen Fleck und versuchte, die Bewegungen zu imitieren, die der alte Mann gemacht haben mochte. Und da Smiley dies alles in Zeitlupe und mit allen An­zeichen äußerster Konzentration unter dem Blick von zwei be­hosten Damen tat, die ihre Schäferhunde Gassi führten, wurde er für einen Jünger der als neueste Marotte grassierenden Chi­nesischen Kampfübungen und dementsprechend für verrückt gehalten.

Zuerst stellte er die Füße nebeneinander, die Spitzen hügelab­wärts gerichtet. Dann schob er den linken Fuß vor und drehte den rechten, bis die Spitze direkt auf eine Schonung zeigte. Da­bei drehte sich die rechte Schulter ganz von selbst mit, und sein Instinkt sagte ihm, daß genau dies der Augenblick sein würde, um den Stock von der rechten in die linke Hand zu nehmen. Aber warum? Wie schon der Superintendent gefragt hatte: Warum den Stock überhaupt in die andere Hand nehmen?

Warum sollte er in diesem vielleicht allerletzten Augenblick sei­nes Lebens einen Spazierstock feierlich von der rechten in die linke Hand genommen haben? Sicher nicht, um sich zu verteidi­gen - er war ja Rechtshänder. Um sich zu verteidigen, würde er den Stock nur fester gepackt haben. Oder mit beiden Händen umklammert, wie einen Schläger.

Wollte er die rechte Hand dadurch frei bekommen? Doch: frei, wozu?

Smiley, der sich jetzt eindeutig beobachtet fühlte, linste scharf nach hinten und sah zwei Knirpse in Klubjacken, die stehenge­blieben waren, um dieses rundliche bebrillte Männchen bei sei­ner possierlichen Fußgymnastik zu beobachten. Er blitzte sie in seiner schulmeisterlichsten Manier an, und sie entfernten sich schleunigst.

Die rechte Hand freizubekommen, wofür? fragte Smiley sich wieder. Und warum einen Augenblick später aufs neue losren­nen?

Wladimir drehte sich nach rechts, dachte Smiley und vollzog wiederum gleichzeitig mit dem Gedanken auch die Bewegung. Wladimir drehte sich nach rechts. Er stand vor der Schonung, er nahm den Stock von der rechten in die linke Hand. Laut Schluß­folgerung des Superintendent verharrte er einen Moment. Dann rannte er weiter.

Moskauer Regeln, dachte Smiley und starrte auf seine eigene rechte Hand. Langsam steckte er sie in die Tasche seines Regen­mantels. Die leer war, so wie die rechte Manteltasche des toten Wladimir leer gewesen war.

Hatte er vielleicht beabsichtigt, eine Botschaft zu schreiben? Smiley zwang sich, die Theorie durchzuspielen, obwohl er sie bereits ausgeschaltet hatte. Eine Botschaft zu schreiben, mit der Kreide zum Beispiel? Wladimir erkannte seinen Verfolger und wollte irgendwo einen Namen oder ein Zeichen hinkreiden. Aber worauf? Ganz sicher nicht auf diese naßen Baumstämme. Auch nicht auf den Lehm, das abgefallene Laub, den Kies. Smi­ley blickte in die Runde und wurde sich einer Besonderheit seines Standplatzes bewußt. Hier, am Saum der Allee, ziemlich ge­nau zwischen zwei Bäumen, wo der Nebel sich am stärksten ver­dichtete, war er so gut wie außer Sicht. Die Allee führte hügelab, ja, und stieg vor ihm an, aber sie beschrieb auch eine Kurve, und von dem Platz, wo er stand, war der Ausblick nach oben in bei­den Richtungen durch Baumstämme und dichtes Jungholz ver­stellt. Auf der ganzen Strecke von Wladimirs letztem, verzwei­felten Gang, einer Strecke, die er, wohlgemerkt,gut gekannt und für ähnliche Treffs benützt hatte, war dies, wie Smiley mit wach­sender Genugtuung bemerkte, der einzige Punkt, wo der Flie­hende weder von vorn noch von hinten gesehen werden konnte.

Und war stehengeblieben.

Hatte seine rechte Hand freigemacht.

Hatte mit ihr - sagen wir einmal - in die Tasche gegriffen.

Nach seinen Herztabletten? Nein. Wie die gelbe Kreide und die Zündhölzer waren sie in der linken Tasche gewesen, nicht in der rechten.

Nach irgendetwas, das - sagen wir einmal - nicht mehr in der Ta­sche war, als man ihn tot aufgefunden hatte.

Wonach also?

Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbrin­gen . . . Dann wird er mich vielleicht sehen wollen . . . Hier ist Gregory, ich möchte Max sprechen. Ich habe etwas für ihn, bit­te ...


Beweise. Beweise, die zu kostbar waren, als daß man sie der Post anvertrauen durfte. Er brachte etwas. Zwei Etwase. Nicht nur in seinem Kopf- in der Tasche. Und hielt sich an die Moskauer Re­geln. Regeln, die dem General vom ersten Tag nach seinem Frontwechsel an eingebläut worden waren. Von keinem Gerin­geren als George Smiley, und von seinem örtlichen Einsatzleiter. Überlebensregeln für ihn und sein Netz. Smiley spürte, wie sich sein Magen vor Erregung zusammenzog, als werde ihm übel. Laut Moskauer Regeln muß jeder, der eine Botschaft physisch bei sich trägt, auch die Mittel zu ihrer Beseitigung mitführen! Ganz gleich, wie die Botschaft getarnt oder worin sie verborgen ist - Mikropunkte, Geheimschrift, unentwickelter Film, irgend­eine der hundert riskanten und ausgeklügelten Methoden -, als Gegenstand muß sie so beschaffen sein, daß man sie als erstes und am leichtesten in die Hand bekommt und am unauffälligsten abstoßen kann.

Zum Beispiel ein Flaschen Tabletten, dachte er und beruhigte sich wieder ein bißchen. Zum Beispiel eine Schachtel Streichhöl­zer.

Eine Schachtel Swan Vesta Streichhölzer, angebrochen, Mantel, links, erinnerte er sich. Raucherstreichhölzer, wohlgemerkt. Und in der sicheren Wohnung, bohrte er weiter - wobei er sich selbstquälerisch von der Lösung fernhielt -, da wartete auf dem Tisch ein Päckchen Zigaretten auf ihn. Wladimirs Lieblingsmar­ke. Und in Westbourne Terrace auf dem Vorratsschränkchen neun Päckchen Gauloises Caporal. Neun von zehn.

Aber keine Zigaretten in den Taschen. Keine, wie der wackere Superintendent gesagt haben würde, bei seiner Person. Das heißt, keine jedenfalls, als er gefunden wurde.

Wie also lautet die Prämisse, George? fragte Smiley sich, wobei er Lacon nachahmte - Lacons direktorialen Zeigefinger anklagend auf sein eigenes unzerschossenes Gesicht richtete -, die Prämisse ? Die Prämisse, Oliver, lautet, daß ein Raucher, ein Gewohnheits­raucher, sich im Zustand hochgradiger Nervosität auf den Weg macht zu einem geheimen hochwichtigen Treffen, wohlversehen mit Streichhölzern, doch ohne auch nur die Spur eines, und wäre es auch nur leeren Päckchens Zigaretten - obwohl er nachweislich einen größeren Vorrat davon zu Hause hat. Also haben entweder die Mörder es gefunden und mitgenommen - den Beweis, die Beweise, von denen Wladimir sprach -, oder - oder was? Oder Wladimir hat rechtzeitig den Stock von der Rechten in die Linke genommen. Und rechtzeitig die rechte Hand in die Tasche ge­steckt. Und sie ebenso rechtzeitig wieder herausgezogen, genau an der Stelle, wo er nicht gesehen werden konnte. Und den Beweis oder die Beweise nach den Moskauer Regeln abgestoßen.

Nachdem er so seinem eigenen hartnäckigen Drängen auf logi­sche Abfolge der Ereignisse Genüge getan hatte, watete Smiley vorsichtig durch das hohe Gras, das zur Schonung führte, wobei er seine Hosen bis zu den Knien durchnäßte. Er suchte eine halbe Stunde oder noch länger, tastete im Gras und im Laub umher, kam immer wieder auf seine Spuren zurück, verfluchte seine Tollpatschigkeit, gab auf, fing wieder an, antwortete auf die idiotischen Fragen der Passanten, die ihn mit zotigen Bemer­kungen oder übertriebener Aufmerksamkeit bedachten. Sogar zwei Buddhistenmönche aus dem nahen Seminar, in safrangel­ben Gewändern, Schnürsandalen und gestrickten Wollkappen, kamen vorüber und boten ihre Hilfe an. Smiley lehnte höflich dankend ab. Er fand zwei zerbrochene Drachen, eine Anzahl Coca-Cola-Dosen. Er fand Fetzen des weiblichen Körpers, ei­nige davon in Farbe, einige in Schwarz-Weiß, aus Magazinen ge­rissen. Er fand einen alten Laufschuh, schwarz, Reste einer alten verbrannten Decke. Er fand vier Bierflaschen, leer, und vier leere Zigarettenpäckchen, die so alt und durchweicht waren, daß sie nicht in Betracht kamen. Und, eingeklemmt in einer Gabel zwi­schen dem Ansatz eines Astes und seinem Baumstamm, das fünfte Päckchen - oder besser gesagt, das zehnte -, und es war nicht leer; ein verhältnismäßig trockenes Päckchen Gauloises Caporal, Filtre undDuty Free, hoch oben. Smiley streckte sich danach, wie nach einer verbotenen Frucht, aber wie alle verbote­nen Früchte war es außerhalb seiner Reichweite. Er sprang da­nach und fühlte seinen Rücken bersten: ein deutlicher und nerv­tötender Riß, der ihm noch nach Tagen stechende Schmerzen verursachen sollte. Er sagte laut »verdammt« und rieb sich die Stelle, wie die Ostrakowa es getan haben könnte. Zwei Stenoty­pistinnen, die auf dem Weg ins Büro vorbeikamen, trösteten ihn mit ihrem Kichern. Er fand einen Stecken, stocherte das Päck­chen herunter, öffnete es. Es waren noch vier Zigaretten darin. Hinter den vier Zigaretten, halb versteckt und durch die Zello­phanhülle geschützt, etwas, das er erkannte, aber nicht mit sei­nen nassen und zitternden Fingern zu berühren wagte. Etwas, das er nicht einmal zu betrachten wagte, solange er sich an die­sem unheimlichen Ort befand, wo kichernde Tippmädchen und buddhistische Mönche in aller Unschuld über die Stelle trampel­ten, auf der Wladimir gestorben war. Sie haben den einen, ich habe den anderen, dachte er. Ich teile die Hinterlassenschaft des alten Mannes mit seinen Mördern.


Dem Verkehr trotzend, wanderte er auf dem schmalen Gehsteig hügelabwärts, bis er nach South End Green kam, wo er ein Cafe zu finden hoffte, um dort Tee zu trinken. Da keines offen war, setzte er sich auf eine Bank, einem Kino gegenüber, betrachtete einen alten Marmorbrunnen und zwei rote Telefonzellen, eine verdreckter als die andere. Ein warmer Sprühregen hatte einge­setzt; einige Ladenbesitzer ließen schon die Markisen herunter; ein Delikatessenladen nahm eine Lieferung Brot in Empfang. Smiley saß mit eingezogenen Schultern, und die feuchten Spitzen seines Mantelkragens stachen ihn in die unrasierten Wangen, sooft er den Kopf drehte. »So trauere doch, um Himmels wil­len!« hatte Ann ihm einmal entgegengeschleudert, wütend über die Gefaßtheit, die er zur Schau trug, als wieder einmal ein Freund gestorben war. »Wenn du um die Toten nicht trauern willst, wie kannst du dann die Lebenden lieben?« Jetzt, da er auf dieser Bank über den nächsten Schritt nachsann, ließ Smiley ihr die Antwort zukommen, die ihm damals nicht eingefallen war. »Du irrst«, sagte er zerstreut zu ihr. »Ich trauere aufrichtig um die Toten, und in diesem Augenblick ganz besonders tief um Wladimir. Wogegen es zuweilen nicht ganz einfach ist, die Le­benden zu lieben.«

Er probierte die beiden Telefonzellen, und die zweite funktio­nierte. Wundersamerweise war auch der Band S-Z uversehrt, und der Mini-Taxi-Dienst »Schnell und Sicher«, Islingston Nr. l, hatte sich, um dem Wunder die Krone aufzusetzen, in die Unkosten eines Fettdrucks gestürzt. Er wählte die Nummer, und während das Freizeichen ertönte, verfiel er in Panik, da er glaubte, sich nicht mehr an den Namen des Fahrers auf Wladimirs Quittung erinnern zu können. Er hängte ein und nahm sein Geldstück wieder an sich. Lane? Lang? Er wählte wieder. Eine weibliche Stimme meldete sich in gelangweiltem Singsang:

»Hier Schnell und Sicher! Name-wann-und-wo-hin, bitte?«

»Könnte ich bitte Mr. J. Lamb sprechen, einen Ihrer Fahrer?« sagte Smiley höflich.

»Bedauere, keine Privatgespräche auf dieser Leitung«, sang sie und legte auf.

Er wählte ein drittes Mal. Es sei keineswegs privat, sagte er scharf, da er jetzt seiner Sache sicherer war. Er wolle Mr. Lamb als Fahrer, und zwar ausschließlich Mr. Lamb und keinen sonst. »Sagen Sie ihm, es ist eine lange Fahrt. Stratford-on-Avon« - er nannte die erste Stadt, die ihm einfiel -, »sagen Sie ihm, ich möchte nach Stratford fahren.« Sampson antwortete er, als sie auf einem Namen bestand. Sampson mit »p«.

Er ging wieder zu seiner Bank zurück und wartete.

Lacon anrufen? Wozu? Nach Hause eilen, das Zigarettenpäck­chen öffnen, den kostbaren Inhalt prüfen? Wladimir hat es als er­stes weggeworfen, dachte er: Im Spionagegeschäft trennen wir uns zuerst von dem, was wir am meisten lieben. Ich kann schließlich doch noch von Glück sagen. Ein älteres Paar hatte sich ihm gegenüber niedergelassen. Der Mann trug eine Melone und blies Kriegsweisen auf einem Blechpfeifchen. Seine Frau grinste die Vorübergehenden idiotisch an. Um ihren Blick zu vermeiden, entsann Smiley sich des braunen Umschlags aus Pa­ris. Er riß ihn auf, in Erwartung welchen Inhalts? Einer Rech­nung vermutlich, irgendeines Überbleibsels aus dem Leben des alten Knaben dort drüben. Oder eines dieser hektographierten Schlachtrufe, die Emigranten einander zusenden wie Weih­nachtskarten. Aber es war weder eine Rechnung noch ein Rund­schreiben, sondern ein persönlicher Brief: ein Hilferuf, aber ei­ner von ganz besonderer Art. Ohne Unterschrift, ohne Absen­der. In französisch, sehr schnell mit der Hand geschrieben. Smi­ley las ihn einmal, und er war gerade dabei, ihn ein zweites Mal zu lesen, als ein bunt lackierter Ford Cortina, an dessen Steuer ein Junge im Polohemd saß, rasant schlitternd vor dem Kino zum Stehen kam. Smiley steckte den Brief in die Tasche und ging über die Straße zum Taxi.

»Sampson mit >p

»Würden Sie bitte den Motor abstellen«, sagte Smiley.

Der Junge gehorchte und sah ihn dabei unverwandt im Rück­spiegel an. Er war braunhaarig und trug eine Afro-Frisur. Wei­ße, sorgfältig manikürte Hände.

»Ich bin Privatdetektiv«, erklärte Smiley. »Sicher haben Sie oft mit unseresgleichen zu tun, und ich weiß, wir sind eine Landpla­ge, aber ich würde mir eine kleine Auskunft gern etwas kosten lassen. Sie haben gestern eine Quittung über dreizehn Pfund ausgestellt. Können Sie sich an Ihren Fahrgast erinnern?«

»Großer Typ. Ausländer. Weißer Schnurrbart und Hinkebein.«

»Alt?«

»Sehr. Mit Krückstock und so.«

»Wo haben Sie ihn abgeholt?«

»Restaurant Cosmo, Praed Street, zehn Uhr dreißig vormit­tags«, rasselte der Junge in einem Zug herunter.

Praed Street war fünf Minuten zu Fuß von Westbourne Terrace entfernt.

»Und wo, bitte, haben Sie ihn hingefahren?«

»Charlton.«

»Charlton in Süd-Ost-London?«

»Sankt Sowieso-Kirche, Höhe Battle-of-the-Nile Street. Am Pub >Zum besiegten Frosch< abgesetzt.«

»Frosch?«

»Franzose.«

»Haben Sie ihn dort gelassen?«

»Eine Stunde gewartet, dann zurück zur Praed Street.«

»Hielten Sie sonst noch irgendwo?«

»Einmal vor einem Spielzeugladen, auf der Hinfahrt, einmal an einer Telefonzelle, auf dem Rückweg. Fahrgast kaufte Holzente auf Rädern.« Er drehte den Oberkörper, stützte das Kinn auf die Rückenlehne des Sitzes und spreizte respektlos die Hände, um die Größe anzuzeigen. »Gelbes Dings«, sagte er. »Das Telefonat war ein Ortsgespräch.«

»Woher wissen Sie das?«

»Hab ihm Twopence gepumpt, oder? Ist dann zurückgekom­men und hat sich nochmal zwei Zehner ausgeliehen, für alle Fäl­le.«

Ich fragte ihn, von wo er anriefe, aber er sagte nur, er habe genü­gend Kleingeld, hatte Mostyn gesagt.

Smiley reichte dem Jungen die Zehnpfundnote und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Sie können Ihrer Firma sagen, ich sei nicht aufgetaucht«, sagte er.

»Denen sag ich verdammtnochmal, was mir paßt, oder?«

Smiley kletterte hastig hinaus und konnte gerade noch die Tür schließen, ehe der Junge mit dem gleichen Höllentempo wieder abfuhr. Er vollendete im Stehen die zweite Lektüre des Briefes und hatte ihn nun endgültig im Kopf. Eine Frau, dachte er in­stinktiv. Und sie glaubt, daß sie sterben muß. Nun, das glauben wir alle, und wir haben recht. Er spielte sich selber den Leicht­herzigen vor, den Gleichgültigen. Der Mensch verfügt nur über ein bestimmtes Quantum Mitgefühl, und meines, so befand er, ist für heute erschöpft. Aber der Brief erschreckte ihn dennoch und stachelte ihn aufs neue zur Eile an.

General, ich will nicht dramatisieren, aber ein paar Männer be­obachten mein Haus, und ich glaube nicht, daß es Freunde von mir sind. Heute morgen hatte ich den Eindruck, daß sie versuch­ten, mich umzubringen. Könnten Sie mir nicht nochmals Ihren Freund, den Magier, schicken?

Er hatte Dinge zu verbergen. Zu kaschieren, wie man in Sarratt sagen mußte. Er fuhr mit Bussen, stieg mehrmals um, hielt nach Verfolgern Ausschau, döste. Das schwarze Motorrad mit seinem Beiwagen war nicht wieder aufgetaucht; er konnte keinen ande­ren Observanten ausmachen. In einem Schreibwarenladen in der Baker Street kaufte er eine große Pappschachtel, ein paar Zeitun­gen, Einwickelpapier und eine Rolle Scotchtape. Er rief ein Taxi, kauerte sich in den Fond und machte sein Paket zurecht. Er legte Wladimirs Zigarettenpäckchen hinein, zusammen mit dem Brief der Ostrakowa und stopfte den Leerraum mit Zeitungen aus. Er wickelte die Schachtel ein und verhedderte seine Finger im Scotchtape. Mit Klebebändern war er noch nie zu Rande ge­kommen. Er schrieb seinen eigenen Namen obenauf und den Zusatz »Wird abgeholt«. Er entlohnte das Taxi am Savoy Hotel, wo er die Schachtel, zusammen mit einer Pfundnote, dem Wär­ter des Waschraums für Herren zur Verwahrung gab.

»Nicht schwer genug für eine Bombe, wie, Sir?« fragte der Wär­ter und hielt das Paket scherzhaft ans Ohr.

»Da würde ich nicht so sicher sein«, sagte Smiley, und sie lachten beide herzhaft darüber.

Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann«, dachte er. Wladimir, fragte Smiley sich nachdenklich, was war dein zweiter Beweis?

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