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Sie hatten die Kette an der Tür ausgehakt, um ihn einzulassen, und Fragen gestellt, noch ehe sie ihm den Mantel abnahmen: präzis und konzentriert. Wurde bei dem Toten irgendwelches kom­promittierendes Material gefunden, George? Aus dem seine Ver­bindung zu uns hervorgeht? Mein Gott, haben Sie lange ge­braucht! Sie hatten ihm gezeigt, wo er sich die Hände waschen könne und völlig vergessen, daß er mit den Örtlichkeiten vertraut war. Sie hatten ihn in einen Ledersessel bugsiert, und dort saß Smiley nun, bescheiden und unbeachtet, während Oliver Lacon, Whitehalls Obermacher in nachrichtendienstlichen Fragen, auf dem abgetretenen Teppich hin- und hertigerte, wie ein Mann, dem sein Gewissen keine Ruhe läßt, und Lauder Strickland über das alte Standtelefon in der entfernten Ecke des Zimmers alles auf fünfzehn verschiedene Arten zu fünfzehn verschiedenen Leuten nochmals sagte - »Dann geben Sie mich zurück zur Polizeiver­bindungsstelle, Weib, und zwar sofort« - entweder bellend oder säuselnd, je nach Rang und Einfluß. Der Superintendent lag ein Leben zurück, doch zeitlich nur zehn Minuten. Die Wohnung roch nach alten Windeln und abgestandenem Zigarettenrauch und lag im obersten Stockwerk eines im überladenen spätvikto­rianischen Stil erbauten Apartmenthauses, keine zweihundert Yards von Hampstead Heath. In Smileys Denken vermischten sich Visionen von Wladimirs zerschossenem Gesicht mit den blei­chen Gesichtern der Lebenden, doch der Tod war kein überra­schender Schlag für ihn, er bestätigte ihm nur, daß seine eigenen Tage dahinschwanden, daß er auf Abruf lebte. Er saß erwartungs­los da. Er saß da, wie ein alter Mann auf einem Dorfbahnhof, der zusieht, wie die Schnellzüge durchbrausen. Aber nichtsdestowe­niger zusieht. Und sich an alte Fahrten erinnert.

So geht es immer bei Krisen, dachte er; zielloses Durcheinander­gerede. Ein Mann am Telefon, ein anderer tot und ein Dritter auf und ab gehend. Nervöse Müdigkeit in Zeitlupe.

Er blickte um sich, versuchte, seine Gedanken auf den Verfall außerhalb seiner Person zu konzentrieren. Vergammelte Feuer­löscher, Stiftung des Arbeitsministeriums. Braune Sofas mit kratzigem Bezug, etwas fleckiger als damals. Doch im Gegensatz zu alten Generälen sterben sichere Wohnungen nie, dachte er. Sie schwinden nicht einmal dahin.

Auf dem Tisch vor ihm warteten die dürftigen Attribute der Agenten-Gastlichkeit, bereitgestellt zur Belebung des unbeleb­baren Gastes. Smiley machte Bestandsaufnahme. In einem Kü­bel mit geschmolzenem Eis eine Flasche Stolochnaya-Wodka, Wladimirs aktenkundige Lieblingsmarke. Salzheringe, noch in der Dose. Essiggurken, lose gekauft und schon am Austrocknen. Ein obligatorischer Laib Schwarzbrot. Wie jedem Russen, den Smiley je gekannt hatte, war es Wladimir kaum möglich gewe­sen, seinen Wodka ohne diese Beigabe zu trinken. Zwei Wodka­gläser von Marks & Spencer, könnten sauberer sein. Ein Päck­chen russischer Zigaretten, ungeöffnet: Wäre er gekommen, er hätte sie aufgeraucht, er hatte keine Zigaretten bei sich gehabt, als er starb.

Wladimir hatte keine bei sich, als er starb, wiederholte er für sich und machte sich einen Knoten ins Gedächtnis.

Ein Scheppern riß Smiley aus seinen Gedanken. Der junge Mo­styn hatte in der Küche einen Teller fallen lassen. Lauder Strick­land wirbelte am Telefon herum und erbat sich Ruhe. Doch die war inzwischen schon wieder eingetreten. Was machte Mostyn eigentlich? Abendessen? Frühstück? Buk er Aniskuchen für den Leichenschmaus? Und was war Mostyn? Wer war Mostyn? Smi­ley hatte seine feuchte und zitternde Hand geschüttelt und au­genblicklich vergessen, wie er aussah, erinnerte sich nur, daß er blutjung war und ihm doch aus irgendeinem Grund vertraut, wenn auch nur als Typus. Mostyn ist ein Stück Malheur, ent­schied Smiley kategorisch.

Lacon blieb mitten in seinem Herumwandern abrupt stehen. »George! Sie sehen sorgenvoll aus. Nicht doch. Wir haben alle ein reines Gewissen in dieser Sache, jeder von uns!«

»Ich sorge mich nicht, Oliver.«

»Sie sehen aus, als machten Sie sich Vorwürfe. Ich kenne Sie!«

»Wenn Agenten sterben -« sagte Smiley, ließ aber den Satz in der Luft hängen, und Lacon konnte das Ende ohnehin nicht abwar­ten. Er hatte sich wieder in Marsch gesetzt, wie ein Wanders­mann, der noch Meilen vor sich hat. Lacon, Strickland, Mostyn, dachte Smiley, als Stricklands schottisch gefärbtes Stakkato er­neut einsetzte. Ein Regierungsfaktotum, ein Circus-Intrigant und ein verschreckter Junge. Warum keine echten Leute? Warum nicht Wladimirs Einsatzleiter, wer immer es sei? Warum nicht Saul Enderby, ihr Chef?

Ein Vers von Auden kam ihm in den Sinn, aus den Tagen, als er Mostyns Alter hatte: Ehren wir, so wir können, den senkrechten Mann, wenn wir auch nur den waagrechten schätzen. Oder so ähnlich.

Und warum Smiley? dachte er. Warum ausgerechnet ich? Ein Mann, der für sie töter ist als der alte Wladimir?

»Möchten Sie Tee, Mr. Smiley, oder lieber etwas Stärkeres?« rief Mostyn durch die offene Küchentür. Smiley fragte sich, ob der junge Mensch wohl von Natur aus so blaß war.

»Er möchte nur Tee, danke schön, Mostyn«, bellte Lacon und drehte sich scharf auf dem Absatz um. »Nach einem Schock nichts wie Tee. Mit Zucker, ja, George? Zucker gleicht Energie­schwund aus. War esgrausig, George? Wie gräßlich für Sie.«

Nein, es war nicht gräßlich, es war die Wahrheit, dachte Smiley. Er wurde erschossen, und ich habe ihn tot gesehen. Vielleicht solltet ihr das auch tun.

Lacon konnte Smiley anscheinend nicht in Ruhe lassen, er war quer durch das Zimmer zurückgekommen und schaute ihn mit aufmerksamen, verständnislosen Augen an. Er war ein fader Mensch, hektisch, aber ohne Schwung, mit grausam gealterten jugendlichen Zügen und einem häßlichen entzündeten Ausschlag rings um den Hals, wo das Hemd die Haut wundgescheu­ert hatte. In dem Kirchenlicht zwischen Dämmerung und Mor­gen schimmerte seine schwarze Weste und sein weißer Kragen wie eine Soutane.

»Ich habe Sie kaum begrüßt«, klagte Lacon, als sei dies Smileys Schuld. »George. Alter Freund. Mein Gott.«

»Hallo, Oliver«, sagte Smiley.

Doch Lacon blieb bei ihm stehen und sah auf ihn hinunter, den langen Kopf auf die Seite gelegt, wie ein Kind, das einen Käfer betrachtet. In Smileys Geist spulte Lacons Telefonanruf von vor zwei Stunden nochmals ab.

Es ist ein Notfall, George. Erinnern Sie sich an Wladimir? George, sind Sie wach? Erinnern Sie sich an den alten General, George? Der lange in Paris gelebt hat?

Ja, ich erinnere mich an den General, hatte er geantwortet. Ja, Oliver, ich erinnere mich an Wladimir.

Wir brauchen jemanden aus seiner Vergangenheit, George. Je­manden, der seine Lebensgewohnheiten kannte, der ihn identifi­zieren, einen möglichen Skandal abbiegen kann. Wir brauchen Sie, George. Jetzt. George, wachen Sie auf.

Er hatte es versucht. So, wie er versucht hatte, den Hörer zu sei­nem besseren Ohr hinüberzuwechseln und sich in einem Bett aufzusetzen, das zu breit für ihn war. Er strampelte sich über den kalten Platz, den seine Frau leer gelassen hatte, denn das Telefon stand auf ihrem Nachttisch.

Er wurde angeschossen, sagen Sie? hatte Smiley wiederholt. George, warum können Sie nicht zuhören? Totgeschossen. Heute abend. George, um Himmels willen, wachen Sie auf, wir brau­chen Sie!

Lacon marschierte wieder los und drehte dabei an seinem Siegel­ring, als sei er ihm zu eng. Ich brauche dich, dachte Smiley, als er ihm zusah, wie er seine Kreise zog. Ich liebe dich, ich hasse dich, ich brauche dich. Diese apokalyptischen Verlautbarungen erin­nerten ihn an Ann, wenn ihr das Geld oder die Liebe ausgegan­gen waren. Das Herz des Satzes ist das Subjekt, dachte er. Nicht das Verbum und schon gar nicht das Objekt. Das Herz ist das Ich, das sein Teil fordert.

Mich brauchen, wozu? dachte er wieder. Um sie zu trösten? Ih­nen die Absolution zu erteilen? Was haben sie getan, daß sie meine Vergangenheit brauchen, um ihre Zukunft wieder ins Lot zu bringen?

Im Hintergrund des Zimmers hielt Lauder Strickland wie ein Fa­schist auf einer Rednertribüne einen Arm hoch, während er sich an die Obrigkeit wandte.

»Ja, Chef, er ist zur Zeit bei uns, Sir ... Ich werd's bestellen, Sir ... Gewiß, Sir ... Ich werde es ihm ausrichten ... Ja, Sir ...« Warum fühlen die Schotten sich von der Geheimwelt so angezogen? Smiley dachte nicht zum erstenmal in seiner Karriere darüber nach. Schiffsingenieure, Kolonialbeamte, Spione . . . Ihre häretische schottische Geschichte zog sie zu fernen Kir­chen. »George!« Strickland rief Smileys Namen, plötzlich lau­ter, wie einen Befehl. »Sir Saul läßt Sie persönlich aufs herzlich­ste grüßen, George!« Er war herumgewirbelt, noch immer mit erhobenem Arm. »In einem ruhigeren Augenblick wird er Ihnen seine Dankbarkeit passender ausdrücken.« Wieder ins Telefon: »Ja, Chef, Oliver Lacon ist auch hier bei uns, und sein Gegen­stück im Innenministerium konferiert gerade mit dem Commis­sioner of Police betreffs unseres einstigen Interesses an dem To­ten und der Vorbereitung einer Presseverlautbarung.«

Einstiges Interesse, registrierte Smiley. Ein einstiges Interesse mit weggeschossenem Gesicht und keinen Zigaretten in der Ta­sche. Gelbe Kreide. Smiley unterzog Strickland einer offenen Musterung: den scheußlichen grünen Anzug, die zum Wildle­der-Look aufgerauhten schweinsledernen Schuhe. Die einzige Veränderung, die er an ihm feststellen konnte, war ein rotbrau­ner Schnurrbart, nicht halb so militärisch wie Wladimirs Bart gewesen war, als er noch einen hatte.

»Jawohl, Sir, >ein erloschener Fall, von historischen Belangs Sir,« schnurrte Strickland weiter ins Telefon. Erloschen stimmt, dachte Smiley. Erloschen, verloschen, ausgelöscht. »Haargenau die richtige Terminologie«, fuhr Strickland fort. »Und Oliver Lacon schlägt vor, es so Wort für Wort in die Pressenotiz aufzu­nehmen. Liege ich da richtig, Oliver?«

»Rein historisch«, korrigierte Lacon ihn gereizt. »Nicht von hi­storischem Belang. Das fehlte uns gerade noch! Rein historisch.« Er durchquerte das Zimmer, offensichtlich, um durch das Fen­ster auf den kommenden Tag zu schauen.

»Enderby hatimmer noch das Sagen, wie, Oliver?« fragte Smiley den ihm zugewandten Rücken Lacons.

»Ja. Ja, immer noch Saul Enderby, Ihr alter Gegenspieler, und er tut Wunder«, gab Lacon ungeduldig zurück. Er zog so heftig an der Gardine, daß sie aus der Gleitschiene sprang. »Nicht Ihr Stil, zugegeben, aber warum auch? Überzeugter Atlantiker.« Er ver­suchte, den Fensterflügel mit Gewalt zu öffnen. »Man hat's nicht leicht unter einer derartigen Regierung, das kann ich Ihnen sa­gen.« Er versetzte dem Griff einen weiteren heftigen Stoß. Ein eisiger Luftzug strich um Smileys Knie. »Halten einen ganz schön auf Trab. Mostyn, wo bleibt der Tee. Wir warten schon eine Ewigkeit darauf.«

Unser ganzes Leben lang, dachte Smiley. Durch das Gekeuche ei­nes bergauf fahrenden Lasters hörte er wieder Strickland, dessen Gespräch mit Saul Enderby sich hinzog. »Ich meine, wir dürfen ihn bei der Presse nicht zu weit herunterspielen, Chef. Dumm stellen ist alles, in einem derartigen Fall. Auch der Einstieg über das Privatleben ist hier gefährlich. Was wir brauchen, ist ein abso­luter Mangel an Gegenwartsbezug. Wie wahr, wie wahr, ganz richtig, Chef-« Und weiter dröhnte er in alerter Speichelleckerei. »Oliver-« begann Smiley, der die Geduld verlor. »Oliver, hät­ten Sie etwas dagegen, mir -«

Doch Lacon wollte reden, nicht zuhören. »Wie geht's Ann?« fragte er vage herüber und lehnte die Unterarme aufs Fenster­brett. »Hoffentlich hübsch zu Hause und so weiter, streunt nicht, oder? Mein Gott, ich hasse den Herbst.«

»Gut, danke. Wie geht's -« Er versuchte vergebens, sich an den Vornamen von Lacons Frau zu erinnern.

»Auf und davon, verdammich. Durchgebrannt mit ihrem windi­gen Reitlehrer, hol sie der Teufel. Hat mich mit den Kindern sit­zen lassen. Die Mädchen sind Gott sei Dank in Internaten unter­gebracht.« Er stützte sich auf die Hände und starrte in den heller werdenden Himmel. »Ist das, was da droben wie ein Golfball zwischen den Kaminhauben steckt, der Orion?« fragte er.

Womit wir einen weiteren Todesfall hätten, dachte Smiley trau­rig, und ließ seinen Geist kurz bei Lacons zerbrochener Ehe verweilen. Er erinnerte sich an eine hübsche weltfremde Frau und eine Meute von Töchtern, die sich im Garten des unüber­sichtlichen Hauses in Ascot auf Ponys tummelten.

»Tut mir leid, Oliver«, sagte er.

»Warum denn? Ist ja nicht Ihre Frau. Istmeine. In der Liebe ist jeder sich selbst der Nächste.«

»Würden Sie bitte das Fenster schließen!« rief Strickland und wählte bereits eine neue Nummer. »Verdammt arktisch hier hin­ten.«

Gereizt schlug Lacon das Fenster zu und schlenderte ins Zimmer zurück.

Smiley unternahm einen zweiten Versuch: »Oliver, was geht hier vor?« fragte er. »Warum habt Ihr mich geholt?«

»Zunächst nur jemanden, der ihn kannte. Strickland, sind Sie halbwegs durch? Er ist wie eine von diesen Flughafen-Ansage­rinnen«, verkündete er Smiley mit törichtem Grinsen. »Niemals fertig.«

Du bist am Zusammenklappen, Oliver, dachte Smiley, als er unter dem Licht die Starre in Lacons Augen bemerkte. Es war zuviel für dich, dachte er in unerwartetem Mitgefühl. Für uns beide.

Aus der Küche erschien der mysteriöse Mostyn mit Tee: ein ernsthaftes heutig aussehendes Kind mit weiten Hosen und einer Mähne braunen Haars. Als er sah, wie der Junge das Tablett ab­setzte, konnte Smiley ihn endlich in seiner eigenen Vergangen­heit unterbringen. Ann hatte einmal einen ähnlichen Liebhaber gehabt, einen Seminaristen vom Wells Theological College. Sie hatte ihn auf der M 4 aufgegabelt und, wie sie später anführte, davor bewahrt, Homo zu werden.

»In welcher Abteilung sind Sie, Mostyn«, fragte Smiley ihn ru­hig.

»Zwinger, Sir.« Er kauerte auf Tischhöhe nieder, wobei er asiati­sche Geschmeidigkeit bewies. »Schon seit Ihrer Zeit, Sir. Es ist eine Art Operationspool. Hauptsächlich Praktikanten, die auf einen Übersee-Einsatz warten.«

»Verstehe.«

»Ich habe Ihre Vorträge in der Nursery in Sarratt gehört, Sir. Anfängerkurs. >Führung von Agenten im Feldeinsatz<. War das beste in den ganzen zwei Jahren.«

»Vielen Dank.«

Doch Mostyns Kalbsaugen wichen nicht von ihm.

»Vielen Dank«, sagte Smiley nochmals, ratloser denn zuvor. »Milch, Sir, oder Zitrone? Die Zitrone war fürihn«, sagte Mo­styn leise beiseite, als sei dies eine Empfehlung für die Zitrone.

Strickland hatte eingehängt und fummelte an seinem Hosen­bund, machte ihn weiter oder enger.

»Nun ja, wir müssen die Wahrheit mildern, George!« bellte Lacon plötzlich heraus, als handle es sich um ein persönliches Glaubensbekenntnis. »Manchmal ist jemand unschuldig, aber die Umstände können ihn in einem ganz anderen Licht erschei­nen lassen. Es hat nie ein Goldenes Zeitalter gegeben. Nur eine Goldene Mitte. Das dürfen wir nie vergessen. Malt's auch auf eure Rasierspiegel.«

»Mit gelber Kreide«, dachte Smiley. Strickland watschelte quer durchs Zimmer.

»He! Mostyn. Jungmann Nigel. Ja, Sie, Sir.«

Mostyn hob zur Antwort die ernsten braunen Augen.

»Daß Sie mir nichts zu Papier bringen«, warnte ihn Strickland, wobei er mit dem Handrücken über seinen Schnurrbart fuhr, als sei Hand oder Bart naß geworden. »Hören Sie? Das ist ein Be­fehl. Es gab kein Treffen, also brauchen Sie auch nicht das übli­che Treff-Formular oder dergleichen Zeug auszufüllen. Sie müssen weiter nichts tun, als die Klappe halten. Verstanden? Sie rechnen Ihre Spesen ohne Beleg als allgemeine Nebenausgaben ab. Direkt über mich. Kein Aktenbezug. Verstanden?«

»Ich verstehe«, sagte Mostyn.

»Und keine Flüsterverlautbarungen zu diesen kleinen Nutten von der Registratur, ich erfahr's ja doch. Kapiert? Geben Sie uns Tee.«

Etwas tat sich im Inneren George Smileys, als er dieses Gespräch hörte. Aus der formlosen Ungenauigkeit dieser Dialoge, aus dem Grauen der Szene auf der Heath brach die eine ätzende Wahrheit über ihn herein. Er spürte ein Ziehen in der Brust und hatte das momentane Gefühl, von dem Zimmer und den drei ver­störten Menschen, die er darin vorgefunden hatte, abgeschnitten zu sein. Treff-Formular? Kein Treff? Treff zwischen Mostyn und Wladimir? Gott im Himmel, dachte er und vollzog die Qua­dratur des Narrenkreises. Der Herr behüte, bewahre und be­schütze uns. Mostyn hatte als Wladimirs Einsatzleiter fungiert. Dieser alte Mann, ein General, einst unser Stolz, und sie hatten ihn einem unbedarften Knaben ausgeliefert! Dann ein weiterer, noch heftigerer Stich, als seine Überraschung in einer Explosion innerlicher Wut hinweggefegt wurde. Er fühlte, wie seine Lip­pen zitterten, er fühlte, wie seine Kehle sich zuschnürte und seine Worte blockierte, und als er sich Lacon zuwandte, schie­nen seine Brillengläser sich von der Hitze zu beschlagen.

»Oliver, ob Sie nun endlich die Güte hätten, mir zu verraten, was ich hier soll«, hörte er sich zum drittenmal in einem Ton sagen, der kaum mehr war als ein Flüstern.

Er streckte den Arm aus und zog die Wodkaflasche aus dem Kü­bel. Unaufgefordert brach er die Kapsel und schenkte sich ein ziemlich großes Tröpfchen ein.


Auch jetzt noch überlegte Lacon, erwog, ließ die Blicke schwei­fen, zögerte. In Lacons Welt waren direkte Fragen der Gipfel des schlechten Geschmacks, aber direkte Antworten waren noch schlimmer. Eine Weile blieb er mitten in der Bewegung erstarrt im Zimmer stehen und glotzte Smiley ungläubig an. Ein Wagen mühte sich hügelan, brachte Kunde von der wirklichen Welt draußen vor dem Fenster. Lauder Strickland schlürfte seinen Tee. Mostyn setzte sich artig auf einen Klavierhocker, zu dem es kein Klavier gab. Und Lacon hakte mit ruckartigen Bewegungen nach Worten, die elliptisch genug wären, um ihren wirklichen Sinn zu verbergen.

»George«, sagte er. Ein Regenschauer trommelte wie Maschi­nengewehrfeuer gegen die Scheiben, doch er achtete nicht dar­auf. »Wo ist Mostyn?« fragte er.

Mostyn war, kaum zu Stuhl gekommen, wieder aus dem Zim­mer geflitzt, um einem nervösen Bedürfnis abzuhelfen. Sie hör­ten die Spülung donnern, lautstark wie ein Blasorchester, und die Abflußrohre das ganze Haus hinunter gurgeln. Lacon hob eine Hand an den Hals und fuhr die Schürfmale entlang.

Widerstrebend begann er: »Vor drei Jahren, George - fangen wir da an -, kurz nachdem Sie den Circus verließen - hat Ihr Nach­folger Saul Enderby -, Ihr würdiger Nachfolger - unter dem Druck eines besorgten Kabinetts -, mit besorgt meine ich, neu gebildet -, hat also Ihr Nachfolger die Einführung weitreichen­der Änderungen in der nachrichtendienstlichen Praxis beschlos­sen. Ich gebe Ihnen den Background, George«, unterbrach er sich erläuternd. »Ich tue das, weil Sie sind, wer Sie sind, der alten Zeiten wegen und wegen« - er wies mit einem ausgestreckten Finger zum Fenster -, »wegen da draußen.«

Strickland hatte die Weste aufgeknöpft und lag dösend und satt da, wie ein Erster-Klasse-Passagier in einem Nachtflugzeug. Doch seine kleinen wachsamen Augen folgten jedem Ausfall, den Lacon machte. Die Tür öffnete und schloß sich, ließ Mostyn ein, der seinen Hochsitz auf dem Klavierhocker wieder ein­nahm.

»Mostyn, ich erwarte von Ihnen, daß Sie jetzt weghören. Es geht um hohe, allerhöchste Politik. Eine dieser weitreichenden Ände­rungen, George, war die Entscheidung, einen interministeriellen Leitausschuß zu bilden. Einen gemischten Ausschuß« - er bildete mit beiden Händen einen in der Luft -, »teils Westminster, teils Whitehall, der das Kabinett ebenso vertrat wie die größeren Whitehall-Kunden. Bekannt als die Weisen. Jedoch eingeschal­tet - George -, eingeschaltet zwischen der nachrichtendienstli­chen Bruderschaft und dem Kabinett. Als Verbindung, als Fil­ter, als Bremse.« Die eine Hand war ausgestreckt geblieben, spielte diese Methaphern aus wie Karten. »Um dem Circus auf die Finger zu schauen. Um Kontrolle auszuüben, George. Wachsamkeit und Verantwortungsgefühl im Interesse einer transparenten Regierung. Ist nicht Ihr Geschmack. Ich seh's Ih­nen an.«

»Ich bin aus dem Spiel«, sagte Smiley. »Ich kann mir kein Urteil erlauben.«

Plötzlich nahm Lacons Gesicht einen konsternierten Ausdruck an, und in seinem Ton schwang fast so etwas wie Verzweiflung. »Sie sollten sie hören, George, unsere neuen Herren! Sollten hö­ren, wie sie über den Circus sprechen! Ich bin ihr Prügelknabe, verdammich; ich weiß es, ich krieg täglich mein Fett ab. Ver­leumdungen. Verdächtigungen. Mißtrauen an jeder Ecke, selbst von seiten der Minister, die's eigentlich besser wissen sollten. Als wäre der Circus eine Art wildes Fabeltier und somit unbere­chenbar. Als wäre der britische Geheimdienst etwas wie eine hundertprozentige Filiale der Konservativen Partei. Nicht ihr Verbündeter, sondern eine autonome Natter in ihrem sozialisti­schen Nest. Haargenau wie in den Dreißigern. Sogar das Gerede von einem >Britischen Gesetz über die Informationsfreiheit< nach amerikanischem Muster wird wieder laut, wissen Sie das? Mitten aus dem Kabinett. Offene Hearings, Enthüllungen, alles zum Gaudium der Öffentlichkeit? George, Sie würden schoc­kiert sein. Schmerzlich betroffen. Bedenken Sie, wie sich so et­was allein auf die Truppenmoral auswirkt. Wäre zum Beispiel unser Mostyn hier jemals zum Circus gegangen, nach dieser Art von trauriger Berühmtheit, in der Presse und sonstwo? Wären Sie, Mostyn?«

Die Frage schien Mostyn sehr tief zu treffen, denn seine ernsten Augen, die durch seine kränkliche Blässe dunkler als sonst er­schienen, wurden noch ernster, und er legte Daumen und Zeige­finger auf die Lippen. Sagte aber nichts.

»Wo war ich stehengeblieben, George?« fragte Lacon, plötzlich wie verloren.

»Die Weisen«, sagte Smiley mitfühlend.

Vom Sofa her verkündete Lauder Strickland sein Urteil über diese Körperschaft: »Weise, von wegen. Ein Haufen linkslasti­ger Krämerseelen. Führen uns am Gängelband. Sagen uns, wie wir den Laden schmeißen sollen. Klopfen uns auf die Finger, wenn unsere Zahlen nicht stimmen.«

Lacon warf Strickland einen tadelnden Blick zu, widersprach ihm aber nicht.

»Eine der weniger strittigen Übungen der Weisen, George, eine ihrer ersten Aufgaben, die ihnen - laut einer gemeinsam ausgear­beiteten Charta - von unseren Herren ganz speziell übertragen wurde, war die Bestandsaufnahme. Die Betriebsmittel des Cir­cus weltweit registrieren und sie legitimen, zeitgemäßen Zielen zuordnen. Fragen Sie mich nicht, was in ihrer Sicht ein legitimes, zeitgemäßes Ziel darstellt. Das ist ein sehr kitzliger Punkt. Doch ich will nicht unloyal sein.« Er nahm seinen Text wieder auf. »Nur soviel sei gesagt, daß diese Revision über sechs Monate durchgeführt und die Axt gebührend angelegt wurde.« Er brach ab und starrte Smiley an.

»Folgen Sie mir, George?« fragte er perplex.

Doch es war im Augenblick kaum festzustellen, ob Smiley ir­gendwem folgte. Seine schweren Lider waren fast geschlossen, und der sichtbare Rest seiner Augen lag im Schatten der dicken Brillengläser. Er saß bolzengerade, doch sein Kopf war so weit nach vorn gefallen, daß die prallen Kinne auf der Brust ruhten. Lacon zögerte noch einen Moment, dann fuhr er fort: »Nun, als Folge dieses Axtanlegens - dieser Bestandsaufnahme, wenn Ih­nen das lieber ist - seitens der Weisen wurden bestimmte Katego­rien von Geheimoperationen ipso facto als unzulässig erklärt. Njet. Klar?«

Auf sein Sofa hingelümmelt stimmte Strickland die Litanei des Unsagbaren an: »Keine Leimruten. Keine Gimpelfallen. Keine Schaukelpferde. Keine Abwerbungen. Keine Emigranten. Kein Garnichts.«

»Wie bitte?« sagte Smiley, als erwache er jäh aus einem tiefen Schlaf. Doch solch unverblümte Rede war nicht nach Lacons Geschmack, und er wischte sie weg.

»Wir wollen nicht simplifizieren, bitte, Lauder. Wir wollen die Dinge organisch angehen. Hier muß in Konzepten gedacht wer­den. Die Weisen haben also einen Kodex aufgestellt, George«, faßte er an Smileys Adresse zusammen. »Einen Katalog geächte­ter Praktiken. Klar?« Aber Smiley harrte eher des Kommenden, als daß er zuhörte. »Haben das ganze Feld abgesteckt - über Ge­brauch und Mißbrauch von Agenten, über unsere Fischereirechte - oder deren Verweigerung - in den Commonwealthstaaten und dergleichen mehr. Lauscher, Überseebeobachter, Operationen unter falscher Flagge - eine Mammutaufgabe, die sie wacker an­gingen.« Zu jedermanns, außer seinem eigenen Erstaunen ver­schränkte Lacon die Finger, drehte die Handfläche nach unten und ließ die Gelenke in herausforderndem Stakkato knacken.

Er fuhr fort: »Ebenfalls auf ihrer Verbotsliste - und sie ist ein krudes Instrument, George, respektiert keine Tradition -, ste­hen solche Dinge wie die klassische Verwendung von Doppel­agenten. Obsession belieben das unsere neuen Herren in ihren Untersuchungsberichten zu nennen. Die alten Spiele des Anlau­fens, des Umdrehens und Rückspielens von Feindspionen - zu Ihrer Zeit das tägliche Brot der Spionageabwehr -, gelten heut­zutage, George, nach der übereinstimmenden Meinung der Wei­sen, als veraltet. Unwirtschaftlich. Weg damit.«

Ein weiterer Laster donnerte schlingernd den Hügel hinunter oder hinauf. Sie hörten, wie seine Reifen an den Bordstein schlu­gen.

»Herrgott«, murrte Strickland.

»Oder - ich greife willkürlich ein anderes Beispiel heraus - die Überbewertung der Exilgruppen.«

Diesmal gab es keinen Lastwagen, nur die tiefe anklagende Stille, die der Durchfahrt des Letzten gefolgt war. Smiley saß da wie vorher, aufnahmebereit und meinungslos, ganz auf Lacon kon­zentriert, das Gehör geschärft wie das eines Blinden.

»Exilgruppen, das wird Sie interessieren«, fuhr Lacon fort »oder besser gesagt, die altbewährten Verbindungen des Circus zu ih­nen - die Weisen ziehen den Ausdruck Abhängigkeit vor, den ich eine Spur zu hart finde - mein Einspruch wurde allerdings abgewiesen -, Exilgruppen gelten heutzutage als provokato­risch, entspannungsfeindlich und aufrührerisch. Ein teurer Spaß. Wer sich mit ihnen abgibt, tut dies bei Strafe der Exkom­munikation. Im Ernst, George. So weit sind wir gekommen. Völlig unter ihrer Fuchtel. Stellen Sie sich das vor!«

Mit einer Bewegung, als wolle er die Brust freimachen für Smi­leys Todesstoß, breitete Lacon die Arme aus, blieb stehen und linste auf ihn hinunter, wie er es schon vorher getan hatte, wäh­rend im Hintergrund Stricklands schottisches Echo dieselbe Wahrheit nochmals, nur brutaler, verkündete:

»Die Gruppen sind auf den Müll geworfen worden, George«, sagte Strickland. »Samt und sonders. Befehl von oben. Kein Kontakt, nicht einmal auf Armlänge. Einschließlich der Kami­kaze-Helden des verblichenen Wladimir. Spezielles Doppel­schlüssel-Archiv für sie auf der fünften Etage. Kein Zutritt ohne schriftliche Genehmigung vom Chef. Durchschlag in die wö­chentliche Post an die Weisen zur Begutachtung. Trübe Zeiten, George, das kann ich Ihnen sagen, trübe Zeiten.«

»George, ich muß schon bitten«, rügte Lacon unbehaglich, denn er hatte etwas gehört, was den anderen entgangen war.

»Alles barer Unsinn«, wiederholte Smiley demonstrativ.

Er hatte den Kopf gehoben, und seine Augen ruhten voll auf La­con, als wolle er die Unverblümtheit seines Protests noch beto­nen. »Wladimir war nicht teuer. Er war auch kein Spaß. Und am allerwenigsten unwirtschaftlich. Sie wissen ganz genau, wie un­gern er unser Geld nahm. Wir mußten es ihm aufzwingen, sonst wäre er verhungert. Und von wegen aufrührerisch und entspannungsfeindlich - was immer man damit sagen will -, sicher, von Zeit zu Zeit mußten wir ihm die Zügel anziehen, wie den meisten guten Agenten, aber wenn es darauf ankam, dann folgte er unse­ren Anweisungen wie ein Lamm. Oliver, Sie waren einer seiner Bewunderer. Sie wissen so gut wie ich, was er wert war.«

Smileys ruhiger Ton verhehlte nicht die Spannung in seiner Stimme. Auch waren Lacon die gefährlichen Farbflecke auf sei­nen Backen nicht entgangen.

Scharf wandte er sich an das schwächste Glied unter den Anwe­senden: »Mostyn, ich erwarte von Ihnen, daß Sie dies alles ver­gessen. Hören Sie mich? Strickland, sagen Sie's ihm.«

Strickland beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen: »Mo­styn, Sie stellen sich heute Vormittag um Punkt zehn Uhr dreißig bei den Housekeepers ein und unterschreiben eine Belehrungs­bestätigung, die ich persönlich abfassen und gegenzeichnen wer­de!«

»Yes, Sir«, sagte Mostyn nach einer kurzen, fast gespenstischen Pause.

Erst jetzt ging Lacon auf Smileys Bemerkung ein: »George, ich habe den Mann bewundert. Nie seine Gruppe. Hier muß scharf getrennt werden. Der Mann, ja. In mancher Hinsicht eine heroi­sche Gestalt, wenn Sie so wollen. Aber nicht sein Umgang: die Phantasten, die verlotterten Prinzlinge. Noch die Unterwande­rer aus der Moskauer Zentrale, die sie warm an ihre Brust drück­ten. Nie. In diesem Punkt haben die Weisen recht, das können Sie nicht leugnen.«

Smiley hatte die Brille abgenommen und putzte sie mit dem brei­ten Ende seiner Krawatte. Im fahlen Licht, das jetzt durch die Vorhänge drang, sah sein volles Gesicht feucht und schutzlos aus.

»Wladimir war einer der besten Agenten, die wir je hatten«, sagte er schroff.

»Wohl weil er Ihrer war, wie?« höhnte Strickland hinter Smileys Rücken.

»Weil er gut war«, schnappte Smiley, und alle schwiegen betroffen, während er sich wieder faßte. »Wladimirs Vater war Este und leidenschaftlicher Bolschewik, Oliver«, fuhr er in ruhige­rem Ton fort. »Von Beruf Rechtsanwalt. Stalin belohnte seine Loyalität, indem er ihn bei den Säuberungen ermorden ließ. Wladimir hieß eigentlich Woldemar, hatte aber seinen Namen aus Treue zu Moskau und zur Revolution geändert. Er wollte immer noch glauben, trotz allem, was sie seinem Vater getan hat­ten. Er ging zur Roten Armee, und einzig Gottes Hilfe bewahrte ihn davor, ebenfalls liquidiert zu werden. Der Krieg brachte ihm Beförderung, er kämpfte wie ein Löwe, und nach Kriegsende wartete er auf die Grossrussische Liberalisierung, von der er ge­träumt hatte, und auf die Befreiung seines eigenen Volkes. Wozu es nie kam. Statt dessen erlebte er die erbarmungslose Unter­drückung seines Heimatlandes durch die Regierung, der er ge­dient hatte. Abertausende seiner ehemaligen estnischen Lands­leute kamen in Lager, darunter einige seiner eigenen Verwand­ten.« Lacon öffnete schon den Mund zu einer Unterbrechung, schloß ihn aber klugerweise wieder. »Die Glücklicheren entka­men nach Schweden und Deutschland. Wir sprechen von einer Million nüchterner, hart arbeitender Leute, die man durch den Wolf drehte. Eines nachts bot er uns aus Verzweiflung seine Dienste an. Uns, den Briten. In Moskau. Drei Jahre lang hat er für uns inmitten der Hauptstadt spioniert. Tagtäglich alles für uns riskiert.«

»Und überflüssig zu sagen, daß unser George hier ihn geführt hat«, knurrte Strickland, der immer noch zu suggerieren ver­suchte, daß diese Tatsache Smiley als Zeugen disqualifiziere. Doch Smiley war nicht mehr zu bremsen. Zu seinen Füßen hatte der junge Mostyn die Augen weit aufgerissen und lauschte in ei­ner Art Trance.

»Wir haben ihm sogar eine Auszeichnung verliehen, wenn Sie sich erinnern, Oliver. Nicht zum Tragen oder Vorzeigen, das natürlich nicht. Aber irgendwo auf einem Stück Pergament, auf das er gelegentlich einen Blick tun durfte, war eine Unterschrift, die deutlich nach der des Monarchen aussah.«

»George, das ist Geschichte«, protestierte Lacon schwach. »Das hat nichts mit heute zu tun.«

»Drei lange Jahre hindurch war Wladimir die beste Informa­tionsquelle über sowjetische Mittel und Absichten - und das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Er hatte engen Kontakt zu ihrer nachrichtendienstlichen Gemeinde und berichtete uns auch darüber. Dann hat er eines Tages, bei einer Dienstreise nach Pa­ris, seine Chance ergriffen und sich abgesetzt, Gott sei Dank, denn sonst wäre er schon viel eher erschossen worden.«

Lacon schien plötzlich überhaupt nichts mehr zu verstehen. »Was meinen Sie damit?« fragte er. »Wieso viel eher ? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß der Circus damals ziemlich fest im Griff ei­nes Agenten der Moskauer Zentrale war«, erwiderte Smiley mit tödlicher Geduld. »Es war pures Glück, daß Bill Haydon zufällig im Ausland stationiert war, als Wladimir für uns arbeitete. Noch drei Monate länger, und Bill hätte ihn unweigerlich hochgehen lassen.«

Lacon wußte darauf nichts zu sagen, also sprang Strickland für ihn ein.

»Bill Haydon, dauernd Bill Haydon«, geiferte er. »Nur weil Sie zu ihm noch in dieser speziellen Beziehung standen -« Er wollte weitersprechen, besann sich jedoch eines besseren. »Haydon ist tot, verdammtnochmal«, schloß er mürrisch, »und der ganze La­den dazu.«

»Nicht zu vergessen Wladimir«, ergänzte Smiley ruhig, und wie­derum trat eine Stockung im Verfahren ein.

»George«, flehte Lacon, als habe er endlich die richtige Stelle im Gesangbuch gefunden. »Wir sind Pragmatiker, George. Wirpas­sen uns an .Wir sind nicht die Hüter irgendeiner heiligen Flamme. Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, vergessen Sie das nicht!«

Doch der ruhige, aber entschlossene Smiley war mit seinem Nachruf auf den alten Mann noch nicht am Ende, und vielleicht ahnte er, daß dies die einzige Leichenrede sein würde, deren der Verstorbene teilhaftig werden sollte.

»Und als er dann wirklich herüben war, na schön, da war er ein Trumpf, der nicht mehr stach, wie jeder Ex-Agent.«

»Fürwahr«, sagte Strickland sotto voce.

»Er blieb in Paris und stürzte sich mit Leib und Seele in die balti­sche Unabhängigkeitsbewegung. Klar, es war eine verlorene Sa­che. Allerdings haben die Briten bis heute die Annektierung der drei baltischen Staaten durch die Sowjets de jure nicht anerkannt, aber sei's drum. Estland - das wissen Sie vielleicht, Oliver - un­terhält eine Delegation und ein völlig reguläres Generalkonsulat in Queen's Gate. Offenbar macht es uns nichts aus, eine verlo­rene Sache zu unterstützen, wenn sie nur völlig verloren ist. Vorher nicht.« Er zog scharf die Luft ein, »Und zugegeben, in Paris gründete er eine baltische Gruppe, mit der es bergab ging, wie das Emigrantengruppen und verlorene Sachen so an sich ha­ben - lassen Sie mich zu Ende reden, Oliver, ich mach's nicht häufig so lang.«

»Mein lieber Freund«, sagte Lacon errötend. »Machen Sie's so lang, wie Sie wollen«, was Strickland von neuem aufstöhnen ließ.

»Seine Gruppe zersplitterte, zerstritt sich. Wladimir hatte es eilig und wollte alle Fraktionen unter einen Hut bringen. Die Frak­tionen aber hatten ihre eigenen althergebrachten Interessen und konnten sich nicht einigen. Es kam zu einer regelrechten Schlacht, einige Köpfe gingen zu Bruch, und die Franzosen ha­ben ihn hinausgeworfen. Wir brachten ihn, zusammen mit ein paar von seinen Leutnants, nach London. Wladimir hat sich im Alter wieder der evangelischen Religion seiner Vorfahren zuge­wandt und den marxistischen Retter gegen den christlichen Mes­sias vertauscht. Soviel ich weiß, sollten wir dergleichen Wand­lungen fördern. Oder vielleicht entspricht das nicht mehr den heutigen Richtlinien. Jetzt ist er ermordet worden. Soviel zum Thema Wladimirs Background. Und nun, warum bin ich hier?« Das Anschlagen der Türklingel hätte nicht gelegener kommen können. Lacon war noch immer rosenrot, und Smiley putzte wieder einmal schwer atmend seine Brille. Ehrfurchtsvoll stand Mostyn, der Jünger, auf, hakte die Kette aus und ließ einen hochgewachsenen Boten in Motarradfahrerkluft ein, einen schwarzen Engel, der einen Bund Schlüssel in seiner behand­schuhten Hand schwang. Ehrfurchtsvoll brachte Mostyn die Schlüssel zu Strickland, der quittierte und einen Eintrag in sein Logbuch machte. Nach einem langen und fast liebevollen Blick auf Smiley entfernte sich der Bote, und Smiley blieb mit dem schuldbewußten Gefühl zurück, daß er den Mann auch in seiner jetzigen Verkleidung hätte erkennen müssen. Doch Smiley hatte drückendere Sorgen. Ohne jede Ehrfurcht ließ Strickland die Schlüssel in Lacons offene Hand fallen.

»Also schön, Mostyn, sagen Sie's ihm!« dröhnte Lacon plötzlich und zog damit, erwünscht oder unerwünscht, einen Schlußstrich unter Smileys bittere Tirade. »Sagen Sie's ihm, mit Ihren eigenen Worten.«

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