25

Fühlte Grigoriew die neue Hochspannung im Raum - das Er­starren jeglicher Bewegung? Fiel ihm auf, wie Skordenos und de Silskys Blicke Smileys ausdrucksloses Gesicht suchten und daran haften blieben? Wie Millie McCraig lautlos in die Küche ver­schwand, um nochmals ihre Bandgeräte zu kontrollieren, für den Fall, daß die Hand einer mißgünstigen Gottheit den Haupt­apparat und die Reservegarnitur gleichzeitig außer Betrieb ge­setzt hätte? Fiel ihm Smileys jetzt fast orientalische Apathie auf-das genaue Gegenteil von Interessiertheit -, die Art, wie seine ganze Person sich in den Faltenwurf des braunen Reisemantels zurückzog, während er geduldig Daumen und Zeigefinger netzte und eine neue Seite aufschlug?

Toby jedenfalls entging dies alles nicht - Toby hatte in seiner dunklen Ecke neben dem Telefon einen Logenplatz, von dem aus er jeden beobachten und selber so gut wie unbeobachtet blei­ben konnte. Wäre eine Fliege über den Fußboden gekrochen, Tobys wachsame Augen hätten ihre Odyssee vom Start bis zum Ziel registriert. Toby beschreibt sogar seine eigenen Symptome -ein heißes Gefühl rings um das Halsbündchen, sagt er, ein Krampf in der Kehle und im Magen -, Toby ertrug solches Un­gemach nicht nur, er behielt es auch treulich im Gedächtnis. Ob Grigoriew auf die veränderte Atmosphäre ansprach, ist eine an­dere Frage. Höchstwahrscheinlich war er zu sehr von seiner zen­tralen Rolle durchdrungen. Der Triumph des Telefongesprächs hatte ihn stimuliert und sein Selbstvertrauen neu belebt, und es war bezeichnend, daß die ersten Worte, die er nun wieder an sein gebannt lauschendes Publikum richtete, nicht dem Karla-Direk­torium galten, sondern seiner eigenen Bravour als Liebhaber von Klein-Natascha. »In unserem Alter braucht man so ein Mädel«, erklärte er Toby augenzwinkernd, »es macht uns wieder zu den jungen Männern, die wir einmal waren!«

»Also, Sie flogen allein nach Moskau«, sagte Smiley ziemlich barsch. »Die Konferenz war im Gange, Sie wurden zu einer Un­terredung beordert. Bitte fahren Sie hier fort. Wir haben nicht den ganzen Nachmittag Zeit, wie Sie wissen.«

Die Konferenz habe am Montag angefangen, wiederholte Grigo­riew gehorsam, was er bereits ausgesagt hatte. »Am Freitag­nachmittag kehrte ich ins Gästehaus zurück, um meine Sachen zu holen und sie in Eudokias Wohnung zu bringen, zu unserem kleinen gemeinsamen Wochenende. Doch statt dessen erwarte­ten mich drei Herren und nötigten mich in ihren Wagen, noch kommentarloser, als Sie das taten« - Seitenblick zu Toby - »Sie sagten mir nur, ich würde für eine Sonderaufgabe benötigt. Während der Fahrt ließen sie mich wissen, daß sie dem Drei­zehnten Direktorium der Moskauer Zentrale angehörten, also der Elite, wie das ganze offizielle Moskau weiß. Ich hatte den Eindruck, daß es sich um intelligente Leute handelte, über dem Durchschnitt ihres Gewerbes, der, mit Verlaub gesagt, nicht sehr hoch ist. Ich hatte den Eindruck, daß sie höhere Chargen seien, nicht bloß Lakaien. Dennoch machte ich mir weiter keine Sorgen. Ich nahm an, man benötige mein fachliches Gutachten über irgendeine Geheimsache, das war alles. Die Herren waren höflich, und ich fühlte mich sogar irgendwie geschmeichelt . . .«

»Wie lang war die Fahrt?« unterbrach Smiley ihn, ohne mit dem Schreiben innezuhalten.

Quer durch die Stadt, erwiderte Grigoriew vage. Quer durch die Stadt, dann hinaus aufs Land, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Bis wir zu diesem kleinen Mann kamen, der wie ein Mönch in ei­ner Art Zelle saß und ihr Chef zu sein schien.


Hier bestätigt Toby unweigerlich aufs neue, wie einzigartig Smi­ley die Situation meisterte. Es beweise Smileys bisher uner­reichte Verfahrenstechnik, sagt Toby - und auch, wie völlig er Grigoriew im Griff hatte -, daß er während Grigoriews langatmiger Schilderung nicht ein einziges Mal, ob durch eine über­stürzte Nachstoß-Frage oder auch nur die geringste Abwei­chung in seinem Tonfall, der unpersönlichen Rolle untreu wur­de, die er für das Verhör gewählt hatte. Durch seine Zurückge­nommenheit, behauptet Toby, hielt George die ganze Szene rundum in der Hand«. Die kleinste unbedachte Regung seiner­seits hätte alles verderben können, aber er machte keine. Und als krönendes Beispiel bringt Toby gern diesen entscheidenden Moment, in dem der wirkliche Karla zum erstenmal auftauchte. Jeder andere Befrager, sagt Toby, hätte bei der bloßen Erwäh­nung eines »kleinen Mannes, wie ein Mönch, der ihr Chef zu sein schien«, auf eine Beschreibung gedrängt - sein Alter, Rang, was er trug, rauchte, wieso wußten Sie, daß er der Chef war? Nicht Smiley. Smiley stieß mit einem unterdrückten Ausruf des Un­muts die Spitze des Kugelschreibers mehrmals auf seinen Notiz­block und forderte Grigoriew mit Engelsgeduld auf, jetzt und in Zukunft freundlichst nicht über faktische Einzelheiten hinweg­zugehen. »Lassen Sie mich die Frage wiederholen. Wie lang war die Fahrt? Bitte beschreiben Sie alles ganz genau nach Ihrer Erin­nerung, und dann wollen wir weitergehen.«

Der geknickte Grigoriew bat tatsächlich um Entschuldigung. Er würde sagen, daß sie vier Stunden lang mit hoher Geschwindig­keit gefahren seien, vielleicht länger. Er erinnere sich jetzt, daß sie zweimal haltgemacht hätten, um sich zu erleichtern. Nach vier Stunden seien sie in ein Sperrgebiet eingefahren - nein, ich sah keine Achselstücke, die Wachen trugen einfache Anzüge -und mindestens eine halbe Stunde lang tief ins Innere gefahren. Wie in einem Alptraum.

Hier machte Smiley wiederum einen Einwand, denn er war ent­schlossen, die Temperatur so niedrig wie möglich zu halten. Wie es ein Alptraum sein konnte, wollte er wissen, da Grigoriew doch erst vorhin behauptete, er habe sich nicht geängstigt? Nun ja, nicht direkt ein Alptraum, genauer gesagt, ein Traum. In diesem Augenblick habe Grigoriew den Eindruck gehabt, er werde vor den Gutsherrn gebracht - er benutzte das russische Wort, und Toby übersetzte es -, während er selber sich immer mehr wie ein armer Bauer fühlte. Daher ängstigte er sich auch nicht, denn er hatte keine Macht über die Ereignisse, und folglich hatte er sich auch nichts vorzuwerfen. Aber als der Wagen end­lich anhielt und einer der Männer ihm die Hand auf den Arm legte und eine Warnung aussprach; von diesem Moment an habe seine Haltung sich völlig verändert: »Sie werden jetzt einem gro­ßen Sowjetkämpfer und einem mächtigen Mann begegnen«, hatte die Warnung gelautet. »Sollten Sie es ihm gegenüber an Re­spekt fehlen lassen oder versuchen, ihn zu belügen, so werden Sie Ihre Frau und Ihre Familie vielleicht niemals wiedersehen.«

»Wie heißt dieser Mann?« hatte Grigoriew gefragt.

Aber der andere erwiderte lächelnd, dieser große Sowjetkämpfer habe keinen Namen. Grigoriew fragte, ob es vielleicht Karla per­sönlich sei; er wußte, daß Karla der Codename des Vorsitzenden des Dreizehnten Direktoriums war. Der Mann wiederholte nur, der große Kämpfer habe keinen Namen.

»So wurde aus dem Traum ein Alptraum«, sagte Grigoriew er­bötig. »Und mein Liebes-Wochenende könne ich abschreiben, sagten sie. Meine kleine Eudokia müsse sich ihren Spaß ander­weitig suchen, sagten sie. Dann lachte einer von ihnen.«

Nun bekam Grigoriew große Angst, und als er den ersten Raum betreten hatte und sich der zweiten Tür näherte, zitterten ihm die Knie vor Furcht. Er hatte sogar noch Zeit, sich um die geliebte Eudokia Sorgen zu machen. Wer mochte dieser Übermensch sein, fragte er sich in ehrfürchtigem Schrecken, der fast schon vor Grigoriew selber von dieser Verabredung mit Eudokia an diesem Wochenende wissen konnte?

»Dann klopften Sie an die Tür«, sagte Smiley eifrig schreibend. »Und wurde aufgefordert, einzutreten!« fuhr Grigoriew fort. Seine Geständnisfreudigkeit stieg; und damit die Abhängigkeit von seinem Befrager. Seine Stimme war lauter geworden, sein Gestus freier. Es war, als versuchte er, sagt Toby, Smiley mit physischen Mitteln aus der Reserve zu locken; während in Wahrheit Smileys gespielte Gleichgültigkeit Grigoriew dazu verlockte, immer mehr aus sich herauszugehen. »Dann stand ich nicht etwa in einem geräumigen und prächtigen Büro, wie es ei­nem hohen Staatsbeamten und großen Sowjetkämpfer zu­kommt, sondern in einem so kärglichen Raum, daß er als Ge­fängniszelle hätte dienen können, mit einem leeren Schreibtisch in der Mitte und einem hölzernen Besucherstuhl davor: Beden­ken Sie, ein großer Sowjetkämpfer und ein mächtiger Mann! Und alles, was er hatte, war ein leerer Schreibtisch, den nur eine höchst armselige Lampe beleuchtete! Und dahinter saß dieser Priester, ein Mann ohne alle Eitelkeit oder Großspurigkeit - ein Mann von gründlicher Erfahrung, würde ich sagen -, ein Mann aus den Wurzeln seines Landes gewachsen, mit kleinen, stetig blickenden Augen und kurzem grauen Haar, und er hielt die Hände aneinander, während er rauchte.«

»Was rauchte?« fragte Smiley und schrieb.

»Wie bitte?«

»Was rauchte er? Die Frage ist doch sehr einfach. Eine Pfeife, Zi­garetten, Zigarren?«

»Zigaretten. Amerikanische, und der Raum war voll von ihrem Aroma. Es war wieder wie in Potsdam, als wir mit den amerika­nischen Offizieren aus Berlin verhandelten. >Wenn dieser Mann die ganze Zeit Amerikanische raucht<, dachte ich, >dann ist er be­stimmt ein Mann von Einfluß.<« In seiner Erregung fuhr Grigo­riew wieder zu Toby herum und erklärte ihm dasselbe nochmals auf Russisch. Amerikanische Zigaretten rauchen, Kettenrau­chen, sagte er: Man stelle sich die Kosten vor, den Einfluß, den man haben muß, um so viele Päckchen zu bekommen!

Dann bat Smiley, getreu seinem pedantischen Gehabe, Grigo­riew möge vormachen, was er meine mit »die Hände aneinan­derhalten«, während er rauchte. Und er beobachtete gleichmü­tig, wie Grigoriew einen braunen hölzernen Bleistift aus der Ta­sche nahm und seine beiden plumpen Hände vor dem Gesicht darüber schloß, den Bleistift in beiden Händen hielt und paro­dierend daran sog, wie jemand, der beidhändig aus einem Becher trinkt.

»So!« erklärte er, und unversehends schlug seine Stimme aber­mals um, und er rief laut lachend Toby etwas auf Russisch zu, was Toby zu diesem Zeitpunkt nicht übersetzungswürdig fand und was auch in der Tonbandumschrift nur als »obszön« wie­dergegeben wird.

Der Priester befahl Grigoriew Platz zu nehmen und beschrieb zehn Minuten lang die intimsten Details von Grigoriews Liebes­verhältnis mit Eudokia, desgleichen seiner Affairen mit zwei weiteren jungen Frauen, die beide früher als seine Sekretärinnen, eine in Potsdam, die andere in Bonn, gearbeitet und schließlich -was die Grigoriewa nicht wußte - sein Lager geteilt hatten. An dieser Stelle konnte Grigoriew, wenn man ihm glauben durfte, nicht mehr an sich halten, er sprang beherzt auf und fragte, ob er deshalb quer durch halb Rußland hierhergebracht worden sei, um sich eine Moralpredigt anzuhören: »Daß jemand mit seiner Sekretärin schlief, sei kein unbekanntes Phänomen, sagte ich ihm, nicht einmal im Politbüro! Ich schwor ihm, daß ich niemals Affairen mit Ausländerinnen gehabt hätte, nur mit Russinnen. >Auch das ist mir bekannt<, sagte er. >Indes bezweifle ich, daß die Grigoriewa diesen feinen Unterschied zu würdigen wüßte.<« Und dann ließ Grigoriew zu Tobys anhaltender Verblüffung eine weitere Salve kehligen Lachens los; und obwohl de Silsky und Skordeno gemäßigter mit einstimmten, überdauerte Grigo­riews unbändige Heiterkeit die aller übrigen, so daß sie warten mußten, bis sie abgeklungen war.

»Sagen Sie uns jetzt bitte, warum der Mann, den Sie den Priester nennen, Sie holen ließ«, sagte Smiley aus den Tiefen des braunen Tweedmantels.

»Er teilte mir mit, daß ich für das Dreizehnte Direktorium einen Sonderauftrag in Bern übernehmen solle. Ich dürfe mit nieman­dem darüber sprechen, auch nicht mit meinem Botschafter, es sei zu streng geheim für jeden Dritten. >Aber<, sagt der Priester, >Ih­rer Frau werden Sie es sagen. Die persönlichen Umstände ma­chen es Ihnen unmöglich, ohne Kenntnis Ihrer Frau einen kon­spirativen Auftrag zu erfüllen. Das weiß ich, Grigoriew. Also sagen Sie's ihr.< Und er hatte recht«, kommentierte Grigoriew. »Ein kluger Mann. Er hat klar bewiesen, daß nichts Menschli­ches ihm fremd ist.«

Smiley wandte eine Seite um und schrieb weiter. »Bitte, fahren Sie fort«, sagte er.

Zuerst, sagte der Priester, müsse Grigoriew in der Schweiz ein Bankkonto eröffnen. Der Priester händigte ihm tausend Schwei­zer Franken in Hunderternoten aus und wies ihn an, sie als erste Einzahlung zu benutzen. Er solle das Konto nicht in Bern eröff­nen, wo er bekannt sei, auch nicht in Zürich, wo es eine Sowjeti­sche Handelsbank gibt. »Die Vozhod«, erläuterte Grigoriew aus freien Stücken. »Über diese Bank werden viele offizielle und inoffizielle Transaktionen abgewickelt.« Also nicht in Zürich, sondern in der kleinen Stadt Thun, wenige Kilometer von Bern entfernt. Er solle das Konto unter dem Namen Glaser, eines Schweizer Bürgers, eröffnen. »Aber ich bin sowjetischer Di­plomat!« hatte Grigoriew eingewendet. »Ich bin nicht Glaser, ich bin Grigoriew!«

Gleichwohl händigte der Priester ihm einen schweizerischen Paß auf den Namen Adolf Glaser aus. Jeden Monat, sagte der Prie­ster, würden auf dieses Konto mehrere tausend Schweizer Fran­ken überwiesen werden, manchmal sogar zehn- oder fünfzehn­tausend. Grigoriew werde jeweils Anweisung erhalten, wie er sie zu verwenden habe. Es sei streng geheim, wiederholte der Prie­ster geduldig, und zu dem Geheimnis gehörte sowohl eine Be­lohnung wie eine Drohung. Beides machte der Priester ihm un­geschminkt deutlich, ganz ähnlich, wie Smiley es vor einer Stunde getan hatte. »Sie hätten ihn sehen sollen, wie er mir ge­genübersaß«, sagte Grigoriew ergriffen zu Smiley. »Seine Ruhe, seine Autorität in jeder Situation! Beim Schach würde er jedes Spiel gewinnen, allein durch seine Nerven.«

»Aber er hat nicht Schach gespielt«, wandte Smiley ungerührt ein.

»Nein, wahrhaftig nicht«, pflichtete Grigoriew ihm bei und nahm unter betrübtem Kopfschütteln seine Erzählung wieder auf.

»Eine Belohnung und eine Drohung«, wiederholte er.

Die Drohung bestand aus einem Wink an Grigoriews zuständi­ges Ministerium, daß er aufgrund seiner Liebesaffairen unzuver­lässig sei und daher für Auslandsposten künftig nicht mehr in Frage komme. Dies würde nicht nur Grigoriews Karriere scha­den, sondern auch seiner Ehe. Soweit die Drohung.

»Es würde äußerst gräßlich für mich sein«, fügte Grigoriew überflüssigerweise hinzu.

Nun zur Belohnung, und die würde beträchtlich sein. Wenn Grigoriew seine Sache gut machte und absolutes Schweigen wahrte, wolle man seine Karriere fördern und über seine Affai­ren hinwegsehen. Er würde sich in Bern eine angenehmere Wohnung nehmen können, was der Grigoriewa gewiß gefiele; aus einem Spezialfonds dürfe er sich einen imposanten Wagen kaufen, was durchaus in Grigoriewas Sinn wäre; auch könnte er dann auf Botschafts-Chauffeure verzichten, die zwar in der Mehrzahl Nachbarn seien, aber keinen Zugang zu diesem gro­ßen Geheimnis bekommen dürften. Und schließlich, sagte der Priester, sollte seine Beförderung zum Botschaftsrat beschleu­nigt werden, womit sich sein höherer Lebensstandard erklären ließe.

Grigoriew blickte nun auf den Stapel Schweizer Franken, der zwischen ihnen auf dem Schreibtisch lag, dann auf den Schwei­zer Paß, dann auf den Priester. Und er fragte, was passieren würde, wenn er sagte, daß er sich lieber doch nicht an dieser Ver­schwörung beteiligen möchte. Der Priester nickte. Auch er habe, so versicherte er Grigoriew, diese dritte Möglichkeit er­wogen, doch leider lasse die Dringlichkeit des Falles einen sol­chen Ausweg nicht zu.

»Dann sagen Sie mir, was ich mit diesem Geld tun muß«, sagte Grigoriew.

Reine Routine, erwiderte der Priester, und dies sei ein weiterer Grund, warum man gerade Grigoriew ausgesucht habe. »In Routineangelegenheiten gelten Sie als sehr tüchtig«, sagte er. Obgleich Grigoriew bereits von kaltem Grausen erfaßt war, durch alles, was der Priester ihm mitgeteilt hatte, fühlte er sich jetzt doch geschmeichelt. »Man hat mich ihm empfohlen«, er­klärte er Smiley voll Stolz. Dann erzählte der Priester Grigoriew von dem verrückten Mädchen.


Smiley zuckte nicht mit der Wimper. Er hielt beim Schreiben die Augen fast geschlossen, aber er schrieb unentwegt - obwohl nur Gott allein weiß, was er schrieb, sagt Toby, denn George hätte sich nicht im Traum einfallen lassen, irgendetwas von auch nur vorübergehender Wichtigkeit einem Notizblock anzuvertrauen. Von Zeit zu Zeit, sagt Toby, während Grigoriew weitersprach, sei aus dem Mantelkragen Georges Kopf gerade weit genug auf­getaucht, daß er die Hände des Sprechenden oder sogar sein Ge­sicht betrachten konnte. Im übrigen scheine er von allem und al­len im Zimmer unendlich weit entfernt gewesen zu sein. Millie McCraig stand unter der Tür, de Silsky und Skordeno glichen zwei Statuen, während Toby nur still betete, Grigoriew möge »weiterreden, ich meine weiterreden um jeden Preis, ganz egal. Wir haben jetzt Karlas Verfahrenstechnik aus erster Hand ken­nengelernt.«

Der Priester versicherte Grigoriew, daß er ihm nichts verschwei­gen werde - was, wie jedermann im Zimmer, mit Ausnahme Grigoriews, sofort begriff, im Klartext hieß, daß er ihm sehr wohl etwas zu verschweigen gedachte.

In einer psychiatrischen Privatklinik in der Schweiz, sagte der Priester, lebe seit kurzem eine junge Russin, die an Schizophrenie im fortgeschrittenen Stadium leide: »In der Sowjetunion ist man mit dieser Art Krankheit nicht ausreichend vertraut«, sagte der Priester. Grigoriew erinnerte sich, daß diese kategorische Erklä­rung des Priesters ihn seltsam berührte. »Diagnose und Therapie werden allzu häufig durch politische Erwägungen kompliziert«, fuhr der Priester fort. »Während der vierjährigen Behandlung in unseren Anstalten wurde das Mädchen Alexandra von den Ärzten aller möglichen Dinge bezichtigt. >Paranoides Reformertum und Wahnvorstellungen . . . Überhöhtes Selbstwertgefühl .

Mangelhafte soziale Anpassungsfähigkeit . . . Überschätzung der eigenen Fähigkeiten . . . Bourgeoise Dekadenz des Sexual­verhaltens.< Die Sowjetärzte hätten ihr wiederholt befohlen, sol­che abwegigen Ideen aufzugeben. »Das ist nicht Medizin«, sagte der Priester unglücklich zu Grigoriew, »das ist Politik. In Schweizer Kliniken nimmt man solchen Fällen gegenüber eine weit fortschrittlichere Haltung ein. Grigoriew, das Kind Alex­andra mußte in die Schweiz gebracht werden!«

Inzwischen war es Grigoriew klar geworden, daß der hohe Funktionär persönlichen Anteil an dem Problem des Mädchens nahm und mit jedem seiner Aspekte vertraut war. Schon fing Grigoriew selber an, Mitleid zu empfinden. Sie sei die Tochter eines Sowjethelden - sagte der Priester -, eines ehemaligen Offi­ziers der Roten Armee, der jetzt, als Verräter am Sowjetstaat ge­tarnt, in sehr bedrängten Verhältnissen unter lauter zaristischen Konterrevolutionären in Paris lebe.

»Sein Name«, sagte der Priester jetzt und weihte damit Grigo­riew in das größte aller Geheimnisse ein, »sein Name«, sagte er, »ist Oberst Ostrakow. Er ist einer unserer besten und aktivsten Geheimagenten. Er liefert uns hundertprozentig zuverlässiges Nachrichtenmaterial über revolutionsfeindliche Verschwörer in Paris.«

Niemand im Zimmer, sagt Toby, verriet die geringste Überra­schung ob dieser Glorifizierung eines toten russischen Deser­teurs.

Der Priester, sagte Grigoriew, habe sich nun angeschickt, die Lebensweise des heldenhaften Agenten Ostrakow zu schildern und gleichzeitig Grigoriew in die Mysterien der geheimdienstli­chen Tätigkeit einzuführen. Um der Wachsamkeit imperialisti­scher Spionage-Abwehr zu entgehen, erklärte der Priester, müsse man für einen Agenten eine Legende oder gefälschte Bio­graphie erfinden, die ihn für anti-sowjetische Elemente attraktiv mache. Ostrakow wurde daher nach außen hin zum Deserteur aus der Roten Armee, der nach Westberlin »geflüchtet« sei und von dort aus nach Paris, während er seine Frau und eine Tochter in Moskau zurückgelassen habe. Aber um Ostrakows Ansehen bei den Pariser Emigranten aufrechtzuerhalten, sei es logischer­weise notwendig, daß seine Frau für die verräterischen Hand­lungen ihres Mannes büßen mußte.

»Denn schließlich«, sagte der Priester, »falls imperialistische Spione melden sollten, daß die Ostrakowa, Ehefrau eines Deser­teurs und Abtrünnigen, in Moskau in guten Verhältnissen lebe-zum Beispiel die Bezüge ihres Mannes weiterhin erhalte oder noch dieselbe Wohnung innehabe-, stellen Sie sich vor, wie sich das auf Ostrakows Glaubwürdigkeit auswirken würde!«

Grigoriew sagte, das könne er sich gut vorstellen. Der Priester, fügte er beiläufig hinzu, habe in keiner Weise die Autorität her­ausgekehrt, er habe vielmehr Grigoriew eher wie seinesgleichen behandelt, zweifellos mit Rücksicht auf dessen akademische Qualifikation.

»Zweifellos«, sagte Smiley und machte sich eine Notiz.

Daher, habe der Priester ein wenig übergangslos gesagt, seien die Ostrakowa und ihre Tochter mit voller Billigung ihres Eheman­nes in eine entlegene Provinz verbracht worden, wo sie ein eige­nes Haus und andere Namen erhielten und sogar - bescheiden und selbstlos, wie sie seien - eine unerläßliche neue Legende. So, sagte der Priester, sehe die bittere Wirklichkeit jener Menschen aus, die sich für Sonderaufgaben zur Verfügung stellten. Und bedenken Sie, Grigoriew - habe er in eindringlichem Ton hinzu­gefügt -, bedenken Sie, welche Wirkung diese Entbehrungen und Ausflüchte, ganz zu schweigen von der Veränderung der Identität, auf ein empfindsames und vielleicht schon damals labi­les Mädchen haben mochten: ein abwesender Vater, dessen Name sogar für immer aus ihrem Leben getilgt bleiben mußte! Eine Mutter, die, ehe man sie in Sicherheit brachte, die ganze Wucht der öffentlichen Schande zu ertragen hatte! Malen Sie sich selbst aus, beschwor der Priester ihn - Sie, als Vater -, welche Belastung dies alles für das junge und zarte Gemüt eines heran­reifenden Mädchens bedeutete!

Überwältigt von diesem Wortschwall beeilte Grigoriew sich zu sagen, daß er, als Vater, sich diese Belastung unschwer ausmalen könne; und in diesem Moment ging Toby und vermutlich auch allen anderen Anwesenden auf, daß Grigoriew genau das war, was er zu sein behauptete: ein gutherziger und anständiger Mensch in den Fängen von Ereignissen, die sich seinem Ver­ständnis und seiner Kontrolle entzogen.

Während der letzten Jahre, fuhr der Priester fort, und seine Stimme klang jetzt dumpf und bekümmert, sei das Mädchen Alexandra - oder Tatjana, wie sie sich selber nannte - in der Pro­vinz, in der sie lebte, sittenlos und asozial geworden. Auf die Zwänge, denen ihre Situation sie unterwarf, habe sie mit ver­schiedenen kriminellen Handlungen reagiert, zu denen Brand­stiftung und Ladendiebstahl zählten. Sie habe sich mit pseudo­intellektuellen Verbrechern und den denkbar übelsten anti-so­zialistischen Elementen eingelassen. Sie habe sich hemmungslos Männern hingegeben, oft mehreren an einem Tag. Als sie die er­sten Male festgenommen wurde, sei es dem Priester und seinen Leuten noch möglich gewesen, den Lauf der Gerechtigkeit auf­zuhalten. Doch in der Folge mußte dieser Beistand aus Sicher­heitsgründen eingestellt werden, und Alexandra sei wiederholt in staatliche psychiatrische Anstalten eingewiesen worden, die auf die Behandlung von erblichen sozialen Anpassungsschwie­rigkeiten spezialisiert waren - die negativen Resultate habe er be­reits geschildert.

»Außerdem mußte sie mehrmals in gewöhnlichen Strafanstalten einsitzen«, sagte der Priester leise. Und, laut Grigoriew, beschloß er seine traurige Erzählung wie folgt: »Daher werden Sie, mein lieber Grigoriew, als Akademiker, als Vater, ohne weiteres be­greifen, wie tragisch die immer betrüblicheren Nachrichten von seiner Tochter sich auf die Nützlichkeit unseres heldenhaften Agenten Ostrakow in seinem einsamen Pariser Exil auswirkten.« Wiederum habe ihn, Grigoriew, das ungewöhnliche Maß von Mitgefühl beeindruckt - er würde sogar von einem Gefühl un­mittelbarer persönlicher Verantwortlichkeit sprechen -, das der Priester bei seinem Zuhörer zu wecken vermochte.

In unverändert dürrem Ton machte Smiley hier einen weiteren Einwurf.

»Und die Mutter ist jetzt wo, Herr Botschaftsrat, nach Angabe Ihres Priesters?« fragte er.

»Tot«, erwiderte Grigoriew. »Sie starb in der Provinz. Der Pro­vinz, in die sie verbracht worden war. Natürlich wurde sie unter einem anderen Namen begraben. Nach dem, was er mir erzählte, starb sie an gebrochenem Herzen. Auch das bürdete dem hel­denhaften Agenten des Priesters in Paris eine schwere Last auf«, fügte er hinzu. »Und den Behörden in Rußland ebenfalls.«

»Natürlich«, sagte Smiley, und seine Feierlichkeit übertrug sich auf die vier regungslosen Gestalten, die rings im Zimmer aufge­stellt waren.

Schließlich, sagte Grigoriew, sei der Priester zu dem eigentlichen Grund für Grigoriews Vorladung gekommen. Der Tod der Ostrakowa, zusammen mit dem furchtbaren Schicksal Alexan­dras, habe im Leben des heldenhaften Außenagenten eine schwere Krise heraufbeschworen. Kurze Zeit sei er sogar ver­sucht gewesen, seine eminent wichtige Arbeit in Paris aufzuge­ben, um nach Rußland zurückzukehren und sich seines zerrütte­ten und mutterlosen Kindes anzunehmen. Aber letzten Endes sei man doch zu einer anderen Lösung gelangt. Da Ostrakow nicht nach Rußland kommen konnte, mußte seine Tochter in den We­sten gebracht und in einer Privatklinik gepflegt werden, die dem Vater zugänglich war, wann immer er das Mädchen zu besuchen wünschte. Frankreich war für diesen Zweck zu gefährlich, aber jenseits der Grenze, in der Schweiz, dem argwöhnischen Auge von Ostrakows konterrevolutionären Kumpanen entzogen, konnte die Behandlung durchgeführt werden. Als französischer Staatsbürger hatte der Vater die Ausreisegenehmigung für seine Tochter fordern und die notwendigen Papiere erlangen können. Eine passende Klinik war gefunden worden, nur eine kurze Au­tofahrt von Bern entfernt. Grigoriews Aufgabe bestehe nun dar­in, daß er sich um dieses Kind während des Aufenthaltes in der Klinik kümmere. Er müsse das Mädchen besuchen, die Kosten begleichen und wöchentlich über ihre Fortschritte nach Moskau berichten, so daß die Meldung unverzüglich an den Vater wei­tergeleitet werden könne. Dies sei der Zweck, sowohl des Bank­kontos wie dessen, was der Priester als Grigoriews Schweizer Identität bezeichnete.

»Und Sie willigten ein«, sagte Smiley, als Grigoriew eine Pause machte, und man hörte seinen Stift emsig über das Papier krit­zeln.

»Nicht sofort. Ich stellte ihm zuvor noch zwei Fragen«, sagte Grigoriew mit einer kuriosen Aufwallung von Eitelkeit. »Wir Akademiker lassen uns nicht so leicht hinters Licht führen, wis­sen Sie. Zuerst fragte ich ihn natürlich, warum diese Aufgabe nicht von einem der zahlreichen in der Schweiz postierten Ver­treter unseres Staatssicherheitsdienstes wahrgenommen werden könne.«

»Eine ausgezeichnete Frage«, sagte Smiley - ein überraschendes Lob aus seinem Munde. »Was hat er darauf geantwortet?«

»Es sei zu geheim. Geheimhaltung, sagte er, sei eine Frage der Abschottung. Er wünsche nicht, daß der Name Ostrakow mit dem Kernpersonal der Moskauer Zentrale in Verbindung ge­bracht werde. Bei der jetzigen Regelung, sagte er, würde er im Fall einer Panne wissen, daß nur Grigoriew der Schuldige sein könne. Ich war für diese Auszeichnung nicht dankbar«, sagte Grigoriew und feixte Nick de Silsky ein bißchen gezwungen an.

»Und wie lautete Ihre zweite Frage, Herr Botschaftsrat?«

»Sie betraf den Vater in Paris: Wie oft würde er das Mädchen be­suchen? Wenn der Vater häufig käme, so wäre mein Auftreten als Ersatzvater völlig überflüssig. Direkte Zahlungen an die Klinik ließen sich arrangieren, der Vater könne jeden Monat aus Paris zu Besuch kommen und sich selber um das Wohlergehen seiner Tochter kümmern. Darauf erwiderte der Priester, der Vater könne nur sehr selten kommen und dürfe in Gesprächen mit dem Mädchen Alexandra auf keinen Fall erwähnt werden. Er fügte, wenig folgerichtig, hinzu, das Thema >Tochter< sei für den Vater höchst schmerzlich, und es sei daher denkbar, daß er sie überhaupt nie besuchen werde. Ich solle mich geehrt fühlen, einem geheimen Helden der Sowjetunion einen so wichtigen Dienst erweisen zu dürfen. Er wurde scharf. Er sagte, es stehe mir nicht zu, das Verfahren von Fachleuten mit der Logik eines Amateurs zu messen. Ich entschuldigte mich. Ich sagte, daß ich mich in der Tat geehrt fühle. Daß ich stolz darauf sei, meinen Beitrag im Kampf gegen den Imperialismus zu leisten.«

»Aber sie sagten es ohne innere Überzeugung?« mutmaßte Smi­ley, blickte abermals auf und hielt mit Schreiben inne.

»Ja, das stimmt.«

»Warum?«

Zunächst schien Grigoriew nicht recht zu wissen, warum. Viel­leicht hatte ihn noch nie jemand aufgefordert, die Wahrheit über seine Gefühle zu äußern.

»Vielleicht, weil Sie dem Priester nicht glaubten ?« half Smiley aus.

»Die Geschichte enthielt viele Widersprüchlichkeiten«, antwor­tete Grigoriew stirnrunzelnd. »Zweifellos ist das in der Geheim­arbeit unvermeidlich. Dennoch empfand ich vieles als unwahr­scheinlich oder unwahr.«

»Können Sie erklären, warum?«

In der Katharsis des Bekennens vergaß Grigoriew erneut, in wel­cher Gefahr er schwebte, und lächelte überlegen.

»Er hat Gefühle gezeigt«, sagte er. »Ich fragte mich. Danach, als ich anderntags bei Eudokia war, an ihrer Seite lag, die Sache mit ihr durchsprach, fragte ich mich: Was ist zwischen dem Priester und diesem Ostrakow? Sind sie Brüder? Alte Kameraden? Die­ser große Mann, zu dem man mich gebracht hatte, der so mächtig ist, so geheim - er macht Verschwörungen in der ganzen Welt, setzt Druckmittel ein, vergibt Sonderaufträge. Er ist ein gnaden­loser Mann in einem gnadenlosen Beruf. Und doch, während ich, Grigoriew, bei ihm sitze, und wir sprechen über irgend je­mands geistesgestörte Tochter, dann habe ich das Gefühl, ich lese die intimsten Liebesbriefe dieses großen Mannes. Ich sagte zu ihm: >Genosse. Sie erzählen mir viel zuviel. Erzählen Sie mir nichts, was ich nicht unbedingt wissen muß. Sagen Sie mir bloß, was ich tun soll.< Aber er sagt zu mir: >Grigoriew, Sie müssen diesem Kind ein Freund sein. Dann werden Sie auch mein Freund sein. Das verworrene Leben ihres Vaters hat sich schlimm auf sie ausgewirkt. Sie weiß nicht, wer sie ist und wohin sie gehört. Sie spricht von Freiheit und hat keine Ahnung, was das bedeutet. Sie ist das Opfer gemeingefährlicher bourgeoiser Hirngespinste. Sie gebraucht schmutzige Ausdrücke, die sich für ein junges Mädchen nicht schicken. Im Lügen besitzt sie das In­genium des Wahnsinns. Nichts von alledem ist ihre Schuld.< Dann frage ich ihn: >Genosse, kennen Sie dieses Mädchen per­sönlich?< Und er sagt nur darauf: >Grigoriew, Sie müssen ihr ein Vater sein. Ihre Mutter war in vieler Beziehung auch keine be­queme Frau. Für diese Dinge haben Sie Verständnis. Im späteren Leben wurde sie verbittert und unterstützte sogar ihre Tochter in deren anti-sozialistischen Phantastereien.<«

Grigoriew schwieg eine Weile, und Toby Esterhase, dem noch immer schwindelte bei dem Gedanken, daß Grigoriew Karlas Vorschlag nur wenige Stunden danach mit seiner zeitweiligen Geliebten besprochen hatte, war dankbar für die Atempause. »Ich fühlte, daß er auf mich angewiesen war«, fuhr Grigoriew sodann fort. »Ich fühlte, daß er nicht nur Fakten, sondern auch Gefühle verschwieg.«

Blieben noch, sagte Grigoriew, die praktischen Details. Der Priester hatte bereits vorgesorgt. Leiterin der Klinik sei eine Weißrussin, Ordensfrau, früher Angehörige der russisch-or­thodoxen Gemeinde in Jerusalem, aber eine tüchtige Person. In solchen Fällen sollten wir keinen allzu strengen politischen Maß­stab anlegen, habe der Priester gesagt. Diese Frau habe Alex­andra persönlich in Paris abgeholt und in die Schweiz gebracht. Die Klinik verfüge auch über einen russisch sprechenden Arzt. Das Mädchen spreche, dank der ethnischen Verbindungen ihrer Mutter, auch deutsch, weigere sich aber häufig, das zu tun. Diese Faktoren hätten, zusammen mit der isolierten Lage des Hauses, bei der Wahl dieser Klinik den Ausschlag gegeben. Das Geld, das auf das Konto in Thun einbezahlt werde, reiche aus zur Beglei­chung der Klinikkosten, der ärztlichen Betreuung, die im Monat bis zu tausend Franken gehen dürften, und decke den geheimen Zuschuß für Grigoriews neuen Lebensstil. Weitere Gelder seien verfügbar, falls Grigoriew dies für nötig erachte; er solle keine Rechnungen oder Quittungen aufbewahren; falls Grigoriew be­trügen sollte, würde der Priester dies umgehend erfahren. Gri­goriew solle einmal wöchentlich die Klinik aufsuchen, um die Rechnung zu bezahlen und sich über das Befinden des Mädchens zu erkundigen; der sowjetische Botschafter in Bern werde da­hingehend informiert, daß die Grigoriews mit einem geheim­dienstlichen Auftrag betraut seien und daß er ihnen entspre­chenden Bewegungsspielraum lassen solle.

Dann kam der Priester auf die Frage zu sprechen, wie Grigoriew Verbindung mit Moskau halten solle.

»Er fragte mich: >Kennen Sie den Kurier Krassky ?< Ich antworte, natürlich kenne ich diesen Kurier; Krassky kommt mit seiner Eskorte jede Woche einmal, zuweilen auch zweimal in die Bot­schaft. Wenn man nett ist mit ihm, bringt er einem einen Laib Schwarzbrot direkt aus Moskau mit.«

In Zukunft, sagte der Priester, werde Krassky pünktlich jeden Donnerstagabend während seines offiziellen Besuchs in Bern Grigoriew privat aufsuchen, entweder in dessen Haus oder im Büro in der Botschaft, aber wenn irgend möglich zu Hause. Es würden keine konspirativen Gespräche geführt werden, sondern Krassky werde Grigoriew lediglich einen Umschlag mit einem angeblichen persönlichen Brief von Grigoriews Tante in Moskau aushändigen. Den Brief werde Grigoriew an einem sicheren Ort bei vorgeschriebenen Temperaturen mit drei chemischen Lö­sungen behandeln, die auf dem freien Markt erhältlich seien, der Priester nannte sie, Grigoriew wiederholte jetzt die Bezeichnun­gen. Die Schrift, die dann zum Vorschein komme, sagte der Prie­ster, enthalte eine Liste von Fragen, die Grigoriew dem Mädchen Alexandra beim nächsten wöchentlichen Besuch zu stellen habe. Beim selben Treffen mit Krassky solle Grigoriew ihm einen Brief

an dieselbe Tante übergeben, in dem er scheinbar in allen Einzel­heiten über das Befinden seiner Gattin Grigoriewa schreiben, in Wahrheit jedoch dem Priester alles über das Mädchen Alexandra berichten werde. Das nenne man Wort-Code. Später werde der Priester, falls sich dies als nötig erweisen sollte, Grigoriew mit Material zum Zweck einer noch geheimeren Korrespondenz ver­sorgen, doch zunächst genüge der Wort-Code-Brief an Grigo­riews Tante.

Dann händigte der Priester Grigoriew ein ärztliches Zeugnis aus, das von einer Moskauer Kapazität stammte.

»Während Ihres Aufenthalts hier in Moskau erlitten Sie eine kleine Herzattacke als Folge von Streß und Überarbeitung«, sagte der Priester. »Der Arzt rät zu regelmäßigem Radfahren zwecks Besserung Ihrer physischen Kondition. Ihre Frau wird Sie dabei begleiten.«

Indem Grigoriew sich per Fahrrad oder zu Fuß zur Klinik bege­be, erklärte der Priester, werde niemand das Nummernschild des Diplomatischen Corps an seinem Wagen sehen.

Dann erlaubte ihm der Priester den Kauf zweier gebrauchter Fahrräder. Nun blieb noch die Frage, welcher Wochentag sich am besten für Grigoriews Besuche in der Klinik eigne. Samstag war der normale Besuchstag, aber das war zu gefährlich; mehrere Insassinnen waren aus Bern, und so bestand immer das Risiko, daß »Glaser« erkannt würde. Die Leiterin habe daher Mitteilung erhalten, daß die Samstage nicht in Frage kämen, und sei, aus­nahmsweise, mit regelmäßigen Besuchen am Freitag einverstan­den. Der Botschafter werde keine Einwände erheben, aber wie wolle Grigoriew seine Abwesenheit an den Freitagen mit seinen routinemäßigen Obliegenheiten vereinbaren ?

Das sei kein Problem, antwortete Grigoriew. Es sei durchaus zu­lässig, Freitag und Samstag zu vertauschen, er werde also einfach darum nachsuchen, am Samstag arbeiten zu dürfen; dann hätte er den Freitag frei.

Nach beendigter Beichte ließ Grigoriew seinem Publikum ein ra­sches, überbelichtetes Lächeln zukommen.

»Zufällig arbeitete auch eine gewisse junge Dame in der Visa-Ab­teilung immer samstags«, sagte er und zwinkerte zu Toby hin­über. »Dadurch hatten wir Gelegenheit, miteinander ein biß­chen allein zu sein.«

Diesmal war das allgemeine Gelächter nicht ganz so herzhaft, wie es hätte sein können. Die Zeit näherte sich, genau wie Grigo­riews Erzählung, ihrem Ende.


Sie waren wieder dort angelangt, wo sie begonnen hatten, und plötzlich hatten sie nur noch Grigoriew als Gegenüber, Grigo­riew, um den allein sie sich sorgen, den allein sie festhalten muß­ten. Er saß feixend auf dem Sofa, aber sein Übermut verflüch­tigte sich zusehends. Er hatte die Hände ergeben gefaltet und blickte von einem zum ändern, als warte er auf Befehle.

»Meine Frau kann nicht radfahren«, bemerkte er mit einem lei­sen traurigen Lächeln. »Sie hat es immer wieder versucht.«

Ihr Versagen schien ihm eine ganze Menge zu bedeuten. »Der Priester schrieb mir aus Moskau: >Nehmen Sie Ihre Frau mit zu Alexandra. Vielleicht braucht das Mädchen auch eine Mutter.<« Ratlos schüttelte er den Kopf. »Sie kann es einfach nicht«, sagte er zu Smiley. »Wie kann ich Moskau in einer so wichtigen Ge­heimsache sagen, Grigoriewa kann nicht radfahren?« Vielleicht bewährte Smiley sich in seiner Rolle als federführendes Organ niemals trefflicher als durch die Art und Weise, wie er nun, fast en passant, die bisherige Quelle Grigoriew in den idealen Über­läufer Grigoriew verwandelte.

»Herr Botschaftsrat, wie immer auf längere Sicht Ihre Pläne sein mögen, bleiben Sie bitte noch mindestens zwei Wochen an der Botschaft«, verfügte er und schloß umständlich sein Notizbuch. »Danach wird Ihnen, falls Sie sich entschließen sollten, ir­gendwo im Westen ein neues Leben zu beginnen, ein freundli­cher Empfang sicher sein.« Er ließ das Notizbuch in seine Tasche gleiten. »Aber am nächsten Freitag werden Sie unter gar keinen Umständen das Mädchen Alexandra besuchen. Sagen Sie Ihrer Gattin, dies sei der Inhalt Ihres heutigen Treffens mit Krassky gewesen. Wenn der Kurier Krassky Ihnen den fälligen Donners­tagsbrief bringt, nehmen sie ihn wie immer entgegen, aber Sie werden auch danach Ihrer Gattin gegenüber dabei bleiben, daß kein Besuch bei Alexandra stattfinden dürfe. Keine weiteren Er­klärungen. Lassen Sie Madame Grigoriewa getrost im dunkeln tappen.«

Grigoriew quittierte diese Instruktionen durch ein unbehagli­ches Nicken.

»Ich muß Sie indes warnen: Sollten Sie auch nur den kleinsten Fehler machen oder, in der anderen Richtung, irgendeinen Trick versuchen, so wird der Priester es erfahren und Sie vernichten. Außerdem würden Sie Ihre Chancen für eine wohlwollende Aufnahme im Westen verwirken. Ist Ihnen das klar?«

Nun mußte man Grigoriew nur noch die Telefonnummern ge­ben, bei denen er sich gegebenenfalls melden sollte, und ihm er­klären, wie Anrufe zwischen öffentlichen Fernsprechzellen zu tätigen sind; und wider alle Gesetze des Metiers erlaubte Smiley ihm, sich alles aufzuschreiben, denn er wußte, daß Grigoriew die Nummern nicht im Gedächtnis behalten könnte. Als auch das erledigt war, verabschiedete Grigoriew sich in dumpfer Nieder­geschlagenheit. Toby fuhr ihn zu einer Stelle, wo er unauffällig abgesetzt werden konnte, und kehrte dann zu einem kurzen Le­bewohl in die Wohnung zurück.

Smiley saß noch immer in seinem Sessel und hielt die Hände im Schoß gefaltet. Die übrigen waren unter Millie McCraigs Ober­befehl emsig damit beschäftigt, die Spuren ihrer Anwesenheit zu tilgen, sie putzten und polierten, leerten Aschenbecher und Pa­pierkörbe. Toby sagte, außer Smiley und ihm werde alles heute die Stadt verlassen, auch das Observierungsteam. Nicht heute abend, nicht morgen. Jetzt. Sie säßen auf einer Super-Zeitbom­be, sagte er: Schon in diesem Augenblick könne Grigoriew, wenn sein Bekennerdrang anhalte, die ganze Episode seinem gräßlichen Eheweib beichten. Wenn er Eudokia alles über Karla berichtet hatte, wer könne dann sagen, daß er nicht auch der Grigoriewa oder etwa Klein-Natascha sein heutiges Schwätzchen mit George schildern werde? Niemand solle sich abgescho­ben, niemand solle sich ausgeschlossen fühlen, sagte Toby. Sie hätten großartige Arbeit geleistet, und sie würden sich bald wie­der treffen, um ihr Werk zu krönen. Man schüttelte sich die Hände, vergoß sogar ein paar Tränen, aber die Aussicht auf den letzten Akt versüßte allen den Abschied.


Und Smiley, der so still, so regungslos inmitten des allgemeinen Aufbruchs saß, was empfand Smiley? Äußerlich betrachtet konnte er einen stolzen Erfolg verzeichnen. Alles, was er sich vorgenommen hatte, war ihm gelungen, auch wenn er dabei zu Karlas Techniken hatte greifen müssen. Er hatte es ganz allein geschafft; und heute hatte er, wie die Aufzeichnungen zeigen würden, innerhalb weniger Stunden Karlas so sorgfältig ausge­wählten Agenten geknackt und umgedreht. Allein gelassen, ja, sogar behindert von denen, die seine Dienste erneut gefordert hatten, hatte er sich durchgekämpft bis zu dem Punkt, wo er ehr­lich sagen konnte, daß das letzte entscheidende Schloß gesprengt sei. Er war ein betagter Mann, und doch hatte er nie bessere Ar­beit geleistet; zum erstenmal in seiner beruflichen Laufbahn lag er in Führung vor seinem alten Gegenspieler.

Andererseits hatte dieser Gegenspieler jetzt ein menschliches Gesicht von bestürzender Klarheit angenommen. Er war keine reißende Bestie, die Smiley mit solcher Meisterschaft jagte, auch kein hemmungsloser Fanatiker, kein seelenloser Automat. Er war ein Mensch; und einer, dessen Sturz, sobald Smiley sich ent­schließen würde, ihn herbeizuführen, letztlich keine sträflichere Ursache hätte als ein Übermaß an Liebe, eine Schwäche, die Smi­ley aus den Verstrickungen seines eigenen Lebens in hohem Maß vertraut war.

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