26

Laut Circus-Überlieferung ist die Zeit, die man bei einer Ge­heimaktion mit Warten verbringt, länger als die Ewigkeit, und George Smiley wie auch Toby Esterhase hatten, jeder auf seine ganz spezielle Art, den Eindruck, daß die Zeit zwischen Sams­tagabend und Freitag es durchaus mit der Endlosigkeit des Jen­seits aufnehmen konnte.

Sie lebten eigentlich nicht so sehr nach den Moskauer Regeln, sagte Toby, als vielmehr nach Georges Kriegsregeln. Beide wechselten noch am selben Samstagabend Hotel und Namen. Smiley zog in ein kleines hôtel garni in der Altstadt, das Arca, und Toby in ein scheußliches Motel außerhalb der Stadt. Danach verständigten sich die beiden Männer per Telefon von öffentli­chen Zellen aus, die sie in einem vorher abgesprochenen Turnus benützten, und wenn sie sich treffen wollten, wählten sie belebte Orte im Freien, gingen eine kurze Strecke nebeneinander her und trennten sich wieder. Toby hatte beschlossen, seine Spuren zu verwischen, wie er sagte, und er verwendete den Wagen so wenig wie möglich. Er hatte die Aufgabe, Grigoriew im Auge zu behalten. Die ganze Woche gab er der unerschütterlichen Über­zeugung Ausdruck, daß Grigogiew, nach den kürzlich genosse­nen Wonnen eines Geständnisses, sich todsicher den Luxus einer weiteren Beichte leisten würde. Um dem zuvorzukommen, hielt er Grigoriew so kurz wie möglich an der Leine, aber es war schon ein Kunststück, ihn überhaupt zu halten. So brach Grigo­riew zum Beispiel jeden Morgen um ein Viertel vor acht Uhr von zu Hause auf und ging fünf Minuten zu Fuß zur Botschaft. So weit, so gut: Toby fuhr dann um Punkt sieben Uhr fünfzig die Straße hinunter. Trug Grigoriew seine Mappe in der rechten Hand, dann wußte Toby, daß nichts im Busch war. Die Linke bedeutete jedoch »Alarm« mit einem Blitztreff in den Gärten von Schloß Elfenau und einer Ausweichlösung in der Stadt. Am Montag und Dienstag benützte Grigoriew über die ganze Strecke nur die rechte Hand. Doch am Mittwoch schneite es, er wollte seine Brillengläser abwischen, blieb also stehen und suchte nach dem Taschentuch. Ergebnis: Toby sah zuerst die Mappe in seiner Linken, raste um den Block, um sich nochmals zu vergewissern, und siehe da, Grigoriew grinste ihn an wie ein Irrer und winkte ihm mit der Mappe zu, die er in der Rechten hielt. Toby hatte, nach seinen eigenen Worten, >einen totalen Herzanfall<. Am nächsten Tag, dem entscheidenden Donners­tag, brachte Toby in dem kleinen Dorf Allmendingen, vor den Toren der Stadt, einen Autotreff mit Grigoriew zustande und konnte direkt mit ihm sprechen. Eine Stunde zuvor war der Ku­rier Krassky gekommen und hatte Karlas wöchentliche Order gebracht: Toby hatte ihn bei Grigoriew ins Haus gehen sehen. Wo sind also die Instruktionen aus Moskau? fragte Toby. Grigo­riew war aufsässig und ein wenig betrunken. Er verlangte zehn­tausend Dollar für den Brief, was Toby so wütend machte, daß er Grigoriew mit allen möglichen Bloßstellungen bedrohte; er würde ihn zur nächsten Polizeiwache bringen und ihn persönlich anzeigen, weil er sich als Schweizer ausgab, weil er seinen Status als Diplomat mißbrauchte, weil er die Schweizer Zollgesetze verletzte und noch wegen fünfzehn anderer Dinge einschließlich Hurerei und Spionage. Der Bluff funktionierte, Grigoriew rückte den bereits behandelten Brief heraus, die Geheimschrift trat deutlich lesbar zwischen den handgeschriebenen Zeilen her­vor. Toby machte mehrere Aufnahmen davon und gab ihn dann Grigoriew zurück.

Die Fragen aus Moskau, die Toby spät am Abend Smiley bei ei­nem ihrer seltenen Treffen in einer Landgaststätte zeigte, hatten einen flehenden Klang:

». . . berichten Sie ausführlicher über Alexandras Aussehen und Geistesverfassung ... Ist sie bei Verstand? Lacht sie und klingt ihr Lachen glücklich oder traurig? Hält sie sich reinlich, saubere Fingernägel, Haar gebürstet? Wie lautet der letzte Befund des Arztes, empfiehlt er irgendeine andere Behandlung?«

Doch Grigoriews Hauptsorge bei ihrem Treffen in Allmendin­gen galt weder Krassky noch dem Brief, noch dem Verfasser des Briefes. Seine Freundin aus der Visa-Abteilung habe ihn wegen seiner Freitagsausflüge zur Rede gestellt. Daher seine Depres­sion und sein betrunkener Zustand. Grigoriew hatte auswei­chend geantwortet, aber er hatte sie im Verdacht, eine Spionin aus Moskau zu sein, die entweder der Priester oder, schlimmer noch, irgendein Organ des Staatssicherheitsdienstes auf ihn an­gesetzt hatte. Toby teilte zufällig diese Vermutung, hatte aber den Eindruck, daß nichts damit ausgerichtet wäre, wenn er es sagte.

»Ich habe ihr gesagt, ich würde erst wieder mit ihr ins Bett gehen, wenn ich ihr völlig trauen könnte«, sagte Grigoriew ernsthaft. »Ich bin mir auch noch nicht ganz sicher, ob sie mich nach Au­stralien begleiten und mit mir ein neues Leben anfangen darf.« »George, das ist ein Narrenhaus!« sagte Toby zu Smiley in einem Furioso von Bildern, während Smiley weiterhin Karlas drän­gende Fragen studierte, ungeachtet der Tatsache, daß sie in Rus­sisch abgefaßt waren. »Hören Sie, wie lange meinen Sie, daß wir den Damm noch halten können? Der Kerl ist total überge­schnappt!«

»Wann fliegt Krassky nach Moskau zurück?«

»Samstagmittag.«

»Grigoriew muß vor seinem Rückflug ein Treffen mit ihm ver­einbaren. Er soll Krassky sagen, er habe eine Sonderbotschaft für ihn. Eine dringende.«

»Klar«, sagte Toby. »Klar, George.« Und damit hatte es sich.

Wo weilte George in seinen Gedanken? fragte sich Toby, wäh­rend er Smiley wieder einmal in der Menge verschwinden sah. Karlas Instruktionen an Grigoriew schienen Smiley aus dem Häuschen gebracht zu haben. »Ich war eingeklemmt zwischen einem komplett Schwachsinnigen und einem total Depressiven«, lautet Tobys Urteil über diese aufreibenden Tage.

Während Toby wenigstens über die Flausen seines Herrn und seines Agenten stöhnen konnte, hatte Smiley nichts Gleichwer­tiges zum Zeitvertreib, und dieser Mangel schien ihm zu schaffen zu machen. Am Donnerstag fuhr er mit der Bahn nach Zürich und aß in der Kronenhalle mit Peter Guillam zu Mittag, der auf Saul Enderbys Order über London angeflogen war. Ihre Unter­haltung war reserviert, und das nicht nur aus Sicherheitsgrün­den. Guillam hatte, wie er sagte, bei seinem Londoner Aufent­halt aus eigenem Antrieb Ann aufgesucht und sei nun gespannt zu erfahren, ob er ihr irgendeine Botschaft übermitteln könne? Smiley sagte eisig, daß es nichts zu übermitteln gebe, und ließ Guillam etwas zuteil werden, was, soweit der sich zurückerin­nern konnte, einem Anschnauzer am nächsten kam. Bei anderer Gelegenheit, gab er zu verstehen, würde Guillam vielleicht so freundlich sein, seine verdammten Finger von Smileys Privatan­gelegenheiten zu lassen. Guillam schaltete hastig aufs Geschäftli­che um. Apropos Grigoriew, sagte er. Saul Enderby trage sich mit der Idee, Grigoriew, so wie er war, an die Vettern zu verkau­fen, statt ihn in Sarratt zu bearbeiten. Was meine George dazu? Saul habe so das Gefühl, der Glanz eines höherrangigen russi­schen Überläufers würde den Vettern in Washington einen drin­gend benötigten Auftrieb geben, selbst wenn er nichts zu erzäh­len hätte, während Grigoriew in London sozusagen den zu er­wartenden reinen Wein nur verwässern würde. Was George nun davon halte?

»Genau«, sagte Smiley.

»Saul hat sich auch gefragt, ob diese Freitagsache wirklich so dringend notwendig war«, sagte Guillam mit offensichtlicher Überwindung.

Smiley hob ein Tischmesser auf und starrte lang auf die Klinge.

»Sie ist ihm seine Karriere wert«, sagte er schließlich mit aufrei­zender Hartnäckigkeit. »Er stiehlt für sie, er lügt für sie, er ris­kiert seinen Hals für sie. Er muß unbedingt wissen, ob sie sich die Fingernägel putzt und das Haar bürstet. Meinen Sie nicht, daß wir verpflichtet sind, sie uns anzuschauen?«

Verpflichtet wem gegenüber? fragte sich Guillam nervös, als er zur Berichterstattung nach London zurückflog. Hatte Smiley gemeint, er sei sich selbst gegenüber dazu verpflichtet? Oder meinte er Karla gegenüber? Aber er war zu vorsichtig, um diese Theorien vor Saul Enderby auszubreiten.


Aus der Ferne gesehen hätte es ein Schloß sein können oder eines dieser Gehöfte, die im Schweizer Weinland auf den Hügelkup­pen kauern, mit Türmchen und Wassergräben, über die über­dachte Brücken zu Innenhöfen führen. Wenn man näher kam, nahm es prosaischere Züge an, mit einer Müllverbrennungsanla­ge, einem Obstgarten und modernen Anbauten, deren Fenster ziemlich klein waren. Am Dorfrand gab ein Schild die Richtung an, pries die ruhige Lage, den Komfort und die Tüchtigkeit des Personals. Der Orden wurde als >interkonfessionell christlich-theosophisch< bezeichnet, und ausländische Patienten seien eine Spezialität des Hauses. Felder und Dächer waren mit altem, schwerem Schnee bedeckt, doch die Straße, auf der Smiley fuhr, war geräumt. Der Tag war makellos weiß, Himmel und Schnee waren zu einer einzigen, unvermessenen Leere verschmolzen. Vom Haus am Eingangstor rief ein finsterer Pförtner telefonisch nach oben, erhielt von irgend jemand die Erlaubnis und winkte Smiley weiter. Ein Parkplatz war >Für Ärzte< und einer >Für Be­sucher, und Smiley stellte seinen Wagen auf dem zweiten ab. Als er auf die Klingel drückte, öffnete ihm eine einfältig aussehende, grau gekleidete Frau, die errötete, bevor Smiley überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er hörte Krematoriumsmusik, Ge­schirrklappern aus der Küche und menschliche Stimmen, alles durcheinander. Es war ein Haus mit blanken Fußböden und vorhanglosen Fenstern.

»Mutter Felicitas erwartet Sie«, flüsterte Schwester Béatitude scheu.

Ein Schrei würde im ganzen Haus widerhallen, dachte Smiley. Er bemerkte Topfpflanzen, die außer Reichweite standen. Seine Begleiterin schlug kräftig an eine Tür mit der Aufschrift >Büro< und stieß sie dann auf. Die Oberin Felicitas war eine große, tem­peramentvoll wirkende Frau, mit einem Blick von verwirrender Weltlichkeit. Smiley saß ihr gegenüber. Auf ihrem ausladenden Busen ruhte ein reich geschmücktes Kreuz, über das sie beim Sprechen mit ihren breiten Händen strich. Ihr Deutsch war lang­sam und königlich.

»So«, sagte sie. »So, Sie sind also Herr Lachmann, und Herr Lachmann ist ein Bekannter von Herrn Glaser, und Herr Glaser ist diese Woche unpäßlich.« Sie spielte mit diesen Namen, als wüßte sie genau, daß sie falsch waren. »Er war nicht so unpäß­lich, daß er nicht hätte telefonieren können, aber er war so un­päßlich, daß er nicht radfahren konnte. Ist das so?«

Smiley sagte, daß es so sei.

»Bitte, senken Sie nicht Ihre Stimme, nur weil ich eine Nonne bin. Wir betreuen hier ein lärmendes Haus, aber deswegen ist niemand weniger fromm. Sie sehen blaß aus. Haben Sie Grippe?«

»Nein. Nein, ich fühle mich ganz wohl.«

»Nun, dann sind Sie besser dran als Herr Glaser, der an Grippe erkrankt ist. Letztes Jahr hatten wir die ägyptische Grippe, vor­letztes die asiatische Grippe, doch heuer scheint das malheur ganz und gar einheimischen Ursprungs zu sein. Darf ich fragen, ob Herr Lachmann Papiere hat, die ihn ausweisen?«

Smiley reichte ihr eine Schweizer Kennkarte.

»Aber, aber. Ihre Hand zittert ja. Doch Sie haben keine Grippe. Beruf Professor«, las sie laut. »Herr Lachmann stellt sein Licht unter den Scheffel. Herr Lachmann ist Herr Professor Lach­mann. Darf man fragen, in welchem Fach Herr Professor Profes­sor ist?«

»Philologie.«

»So, so. Philologie. Und Herr Glaser, was ist er von Beruf? Er hat es mir gegenüber nie erwähnt.«

»Soviel ich weiß, ist er geschäftlich tätig.«

»Ein Geschäftsmann, der perfekt russisch spricht. Sprechen Sie auch perfekt russisch, Herr Professor?«

»Leider, nein.«

»Aber Sie sind Freunde.« Sie gab ihm die Kennkarte zurück.

»Ein schweizerisch-russischer Geschäftsmann und ein beschei­dener Professor der Philologie sind Freunde. So, so. Hoffen wir, daß es eine fruchtbare Freundschaft ist.«

»Wir sind auch Nachbarn«, sagte Smiley.

»Wir sind alle Nachbarn, Herr Lachmann. Kennen Sie Alex­andra schon?«

»Nein.«

»Junge Mädchen werden in vielen Eigenschaften hierher ge­bracht. Wir haben Patenkinder. Wir haben Mündel. Nichten. Waisen. Vettern und Basen. Tanten, ein paar. Etliche Schwe­stern. Aber Sie würden überrascht sein zu erfahren, wie wenig Töchter es auf der Welt gibt. Wie ist zum Beispiel Herr Glaser mit Alexandra verwandt?«

»Soviel ich weiß, ist er ein Freund von Monsieur Ostrakow.«

»Der in Paris lebt. Aber unsichtbar ist. Genau wie Madame Ostrakowa. Unsichtbar. Wie heute auch Herr Glaser. Sie sehen, wie schwierig es für uns ist, die Welt in den Griff zu bekommen. Wenn wir selbst kaum wissen, wer wir sind, wie können wir dann ihnen sagen, wer sie sind.« Eine Glocke verkündete das Ende der Ruhezeit. »Manchmal lebt sie in Dunkelheit. Manch­mal sieht sie zuviel. Beides ist schmerzlich. Sie ist in Rußland aufgewachsen. Ich weiß nicht, warum. Es ist eine komplizierte Geschichte, voller Kontraste, voller Lücken. Wenn es auch nicht der Grund ihrer Krankheit ist, so ist es doch sicherlich, sagen wir einmal, der äußere Anlaß. Sie glauben wohl nicht, daß Herr Gla­ser der Vater ist?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Haben Sie den unsichtbaren Ostrakow kennen­gelernt? Nein. Existiert der unsichtbare Ostrakow überhaupt? Alexandra behauptet, er sei ein Phantom. Alexandra bildet sich ganz andere Eltern ein. Nun, das tun viele von uns.«

»Darf ich fragen, was Sie ihr über mich erzählt haben?«

»Alles, was ich weiß. Das heißt, nichts. Daß Sie ein Freund von Onkel Anton sind, den sie nicht als ihren Onkel akzeptiert. Daß Onkel Anton krank ist, was sie anscheinend entzückt, aber wahrscheinlich sehr beunruhigt. Ich hab' ihr gesagt, ihr Vater wünsche, daß jemand sie einmal die Woche besuche, aber sie sagte mir, ihr Vater sei ein Bandit und habe ihre Mutter mitten in der Nacht von einem Berg hinabgestürzt. Ich hab' ihr gesagt, sie solle deutsch mit Ihnen sprechen, aber es kann sein, daß sie rus­sisch für besser hält.«

»Ich verstehe«, sagte Smiley.

»Da kann ich Sie nur beglückwünschen«, gab Mutter Felicitas zurück. »Ich kann nicht das gleiche von mir behaupten.«

Alexandra trat ein, und er sah zuerst nur ihre Augen: so klar, so schutzlos. Er hatte sie sich aus irgendeinem Grund größer vorge­stellt. Ihre Lippen waren voll in der Mitte, doch an den Winkeln bereits ausgedünnt und zu beweglich, und ihr Lächeln war von gefährlicher Entrücktheit. Mutter Felicitas befahl ihr, sich zu setzen, sagte etwas auf Russisch, küßte sie auf das flachsfarbene Haar und verließ das Zimmer. Sie hörten ihre Schlüssel klirren, als sie den Flur hinunterging, hörten, wie sie auf Französisch eine der Schwestern anherrschte, sie möge unverzüglich diesen Dreck aufputzen. Alexandra trug einen grünen Hänger mit lan­gen, an den Handgelenken enganliegenden Ärmeln und eine Strickweste, die sie wie ein Cape um die Schultern geworfen hat­te. Sie schien ihre Kleidung mehr herumzutragen als zu tragen, als hätte jemand sie für dieses Treffen angezogen.

»Ist Anton tot?« fragte sie, und Smiley bemerkte, daß zwischen dem Ausdruck auf ihrem Gesicht und den Gedanken in ihrem Kopf keine Verbindung bestand.

»Nein, Anton hat eine böse Grippe«, antwortete er.

»Anton sagt, er sei mein Onkel, aber das stimmt nicht«, erklärte sie. Ihr Deutsch war gut, und er fragte sich, ob sie es wirklich, wie Karla zu Grigoriew gesagt hatte, von ihrer Mutter mitbe­kommen oder ob sie die Sprachbegabung ihres Vaters geerbt habe, oder beides. »Er behauptet auch, keinen Wagen zu ha­ben.« Wie einst ihr Vater, sah sie ihn unbewegt und unbeteiligt an. »Wo ist Ihre Liste?« fragte sie. »Anton bringt immer eine Li­ste mit.«

»Oh, ich habe meine Fragen im Kopf.«

»Es ist verboten, Fragen zu stellen, ohne eine Liste zu haben. Fragen aus dem Kopf sind von meinem Vater ganz und gar ver­boten.«

»Wer ist Ihr Vater?« fragte Smiley.

Eine Zeitlang sah er wieder nur ihre Augen, die ihn wie die einer Blinden aus ihrer unzugänglichen Einsamkeit anstarrten. Sie hatte eine Rolle Scotchtape vom Schreibtisch der Mutter Felicitas aufgenommen und strich mit den Fingern leicht über die glän­zende Oberfläche.

»Ich habe Ihren Wagen gesehen«, sagte sie. »BE bedeutet Bern.«

»Stimmt«, sagte Smiley.

»Was für einen Wagen hat Anton?«

»Einen Mercedes. Einen schwarzen. Sehr groß.«

»Wieviel hat er dafür bezahlt?«

»Er hat ihn gebraucht gekauft. An die fünftausend Franken würde ich sagen.«

»Warum kommt er dann immer per Fahrrad zu mir?«

»Vielleicht braucht er ein bißchen körperliche Bewegung.«

»Nein«, sagte sie. »Er hat ein Geheimnis.«

»Haben Sie ein Geheimnis, Alexandra?« fragte Smiley.

Sie hörte seine Frage, lächelte darüber und nickte ihm mehrmals zu, als sei er weit von ihr entfernt. »Mein Geheimnis heißt Tatja­na.«

»Ein guter Name«, sagte Smiley. »Wie sind Sie dazu gekom­men?«

Sie hob den Kopf und lächelte strahlend die Ikone an der Wand an. »Es ist verboten, darüber zu sprechen. Wenn man darüber spricht, glaubt einem niemand, und man wird in eine Klinik ge­bracht.«

»Aber Sie sind ja bereits in einer Klinik«, bemerkte Smiley.

Sie sprach nicht lauter, nur schneller. Dabei war sie so völlig reglos, daß sie nicht einmal zwischen den Wörtern Atem zu holen schien. Ihre Klarsichtigkeit und ihre Höflichkeit hatten etwas Unheimliches. Sie respektiere seine Freundlichkeit, sagte sie, aber sie wisse, daß er ein äußerst gefährlicher Mann sei, gefährli­cher als Lehrer oder Polizisten. Herr Doktor Rüedi habe das Ei­gentum und die Gefängnisse erfunden und viele der geschickten Argumente, die es der Welt erlaubten, ihre Lügen völlig auszu­leben, sagte sie. Mutter Felicitas sei zu nahe an Gott, sie begreife nicht, daß Gott jemand war, dem man die Peitsche und die Spo­ren geben müsse wie einem Pferd, damit er einen in die richtige Richtung trüge:

»Aber Sie, Herr Lachmann, repräsentieren die Vergebung der Obrigkeit. Ja, das wird wohl leider so sein.«

Sie seufzte und bedachte ihn mit einem müden, nachsichtigen Lächeln, doch als er auf den Tisch sah, bemerkte er, daß sie ihren Daumen gepackt hatte und ihn zurückbog, bis er fast zu brechen schien.

»Vielleicht sind Sie mein Vater, Herr Lachmann«, meinte sie lä­chelnd.

»Nein, leider, ich habe keine Kinder«, antwortete Smiley.

»Sind Sie Gott?«

»Nein, ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch.«

»Mutter Felicitas sagt, in jedem gewöhnlichen Menschen steckt ein Teil, der Gott ist.«

Diesmal ließ Smiley mit der Antwort lange auf sich warten. Er machte den Mund auf und schloß ihn dann wieder mit einem ganz uncharakteristischen Zögern.

»Das hab' ich auch sagen hören«, antwortete er und sah dabei ei­nen Augenblick von ihr weg.

»Sie müssen mich fragen, ob ich mich besser fühle.«

»Fühlen Sie sich besser, Alexandra?

»Ich heiße Tatjana«, sagte sie.

»Wie fühlt sich dann Tatjana?«

Sie lachte. Ihre Augen glänzten unnatürlich. »Tatjana ist die Tochter eines Mannes, der so wichtig ist, daß es ihn gar nicht gibt«, sagte sie. »Er herrscht über ganz Rußland, aber es gibt ihn nicht. Wenn irgendwelche Leute sie verhaften, dann sorgt ihr Vater dafür, daß sie wieder frei kommt. Es gibt ihn nicht, aber jeder fürchtet ihn. Tatjana gibt es auch nicht«, fügte sie hinzu.

»Es gibt nur Alexandra.«

»Und wie steht es mit Tatjanas Mutter?«

»Sie ist bestraft worden«, sagte Alexandra ruhig, wobei sie diese Information mehr den Ikonen anvertraute als Smiley. »Sie ist der Geschichte nicht gefolgt. Das heißt, sie glaubte, die Geschichte habe einen falschen Lauf genommen. Sie irrte. Das Volk sollte nie versuchen, die Geschichte zu ändern. Es ist Sache der Ge­schichte, das Volk zu ändern. Ich möchte, daß Sie mich mitneh­men, bitte. Ich möchte aus dieser Klinik heraus.«

Ihre Hände rangen wütend miteinander, während sie weiterhin die Ikone anlächelte.

»Hat Tatjana je ihren Vater kennengelernt?«

»Ein kleiner Mann hat die Kinder immer auf ihrem Weg zur Schule beobachtet«, antwortete sie. Er wartete, aber sie sprach nicht weiter.

»Und dann?« fragte er.

»Von einem Wagen aus. Er hat immer das Fenster herunterge­kurbelt und nur mich angeschaut.«

»Haben auch Sie ihn angeschaut?«

»Natürlich. Wie könnte ich sonst wissen, daß er mich ange­schaut hat?«

»Wie sah er aus? War er groß? War er klein? Hat er gelächelt?«

»Er rauchte. Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Mutter Felici­tas genehmigt sich auch ab und zu eine Zigarette. Aber das ist nur menschlich, nicht wahr? Rauchen beruhigt das Gewissen, wie man mir gesagt hat.«

Sie hatte auf die Klingel gedrückt. Die Hand ausgestreckt und lange darauf gedrückt. Er hörte wieder das Klirren der Schlüssel, als Mutter Felicitas den teppichlosen Gang herunterkam, hörte sie mit den Füßen scharren, als sie vor der Tür stehenblieb, um aufzusperren, hörte die Geräusche, die jedem Gefängnis der Welt zueigen sind.

»Ich möchte mit Ihnen in Ihrem Wagen wegfahren«, sagte Alex­andra.

Smiley beglich die Rechnung, und Alexandra sah zu, wie er die Scheine unter der Lampe hinzählte, genau wie Onkel Anton dies immer tat. Mutter Felicitas bemerkte Alexandras gespannten Blick, und vielleicht witterte sie Ungemach, denn sie blickte Smiley scharf an, als verdächtige sie ihn einer Ungehörigkeit. Alexandra begleitete ihn zur Tür, war Schwester Béatitude beim öffnen behilflich, schüttelte Smiley mit Grandezza die Hand, wobei sie den Ellbogen abspreizte und das Knie des vorgestellten Beins beugte. Sie versuchte, ihm die Hand zu küssen, doch Schwester Beatitude hinderte sie daran. Sie schaute ihm auf dem Weg zum Wagen nach und begann zu winken. Er war bereits am Anfahren, als er sie aus nächster Nähe schreien hörte und sah, daß sie versuchte, die Wagentür zu öffnen, um mit ihm zu kom­men. Schwester Beatitude riß sie vom Auto und zog die unauf­hörlich Schreiende ins Haus zurück.


Eine halbe Stunde später in Thun, in demselben Cafe, von dem aus Smiley vor einer Woche Grigoriews Gang zur Bank beob­achtet hatte, händigte er Toby wortlos den von ihm vorbereite­ten Brief aus. Grigoriew solle ihn am heute abend Krassky ge­ben, sagte er.

»Grigoriew möchte diese Nacht abspringen«, wandte Toby ein.

Smiley schrie. Zum erstenmal in seinem Leben schrie er. Er riß den Mund sehr weit auf, er schrie, und das ganze Cafe fuhr hoch - das heißt, das Mädchen hinter der Theke sah von ihren Heirats­anzeigen auf, und von den vier Kartenspielern in der Ecke drehte mindestens einer den Kopf. »Noch nicht!«

Und um zu zeigen, daß er sich wieder in der Gewalt hatte, wie­derholte er ruhig: »Noch nicht, Toby. Verzeihen Sie bitte. Noch nicht.«


Von dem Brief, den Smiley über Grigoriew an Karla schickte, existiert keine Kopie, ein Manko, das vielleicht von Smiley beabsichtigt war, indes kann kaum ein Zweifel über den Tenor des Schreibens bestehen, war doch Karla, wie er selbst von sich ge­sagt hatte, ein erklärter Verfechter der Kunst dessen, was er Un­terdrucksetzen nannte. Smiley dürfte die nackten Tatsachen vorgebracht haben: daß Alexandra unbestreitbar seine Tochter sei und die seiner ehemaligen und jetzt toten Geliebten, deren anti-sowjetische Einstellung amtsbekannt war; daß er Alexan­dras illegale Ausreise aus der Sowjetunion bewerkstelligt habe, unter dem Vorwand, sie sei seine Geheimagentin; daß er öffent­liche Gelder und Einrichtungen mißbraucht habe; daß er zwei Morde und vielleicht auch die mutmaßliche offizielle Hinrich­tung von Kirow organisiert habe, um sein verbrecherisches Vor­haben zu decken. Smiley dürfte auch darauf hingewiesen haben, daß angesichts Karlas prekärer Stellung innerhalb der Moskauer Zentrale die angehäufte Beweislast mehr als genüge, um seine Liquidierung durch die Kollegiumsgenossen zu sichern; und daß, falls dies eintreten sollte, die Zukunft seiner Tochter im We­sten - wo sie unter falschen Angaben weilte - äußerst unsicher sein würde, um es milde auszudrücken. Es würde kein Geld für sie da sein, und aus Alexandra würde eine auf Lebenszeit zum Exil verdammte Kranke werden, die man von Spital zu Spital schleppt, ohne Freunde, ohne ordentliche Papiere, völlig mittel­los. Im schlimmsten aller denkbaren Fälle würde sie nach Ruß­land zurückgebracht und dem vollen Zorn der Feinde ihres Va­ters ausgeliefert werden.

Nach der Peitsche bot Smiley das Zuckerbrot, wie vor mehr als zwanzig Jahren in Delhi: Retten Sie Ihre Haut, kommen Sie zu uns, sagen Sie uns, was Sie wissen, und wir werden für Sie sor­gen. Ein klares Wiederholungsspiel, sagte später Enderby, der sportliche Metaphern liebte. Er dürfte Karla auch versprochen haben, daß man ihn nicht wegen Beihilfe zum Mord an Wladimir belangen würde, und es gibt Beweise dafür, daß Enderby über seine deutsche Verbindungsstelle die gleiche Zusicherung der Straffreiheit im Hinblick auf den Mord an Otto Leipzig erwirk­te. Ganz zweifellos stellte Smiley auch noch allgemeine Garantien bezüglich Alexandras Zukunft im Westen in Aussicht - Be­handlung, Pflege und, wenn nötig, Staatsbürgerschaft. Schlug er wieder die Saite der Seelenverwandtschaft an, wie damals in De­lhi? Appellierte er an Karlas Menschlichkeit, die jetzt so demon­strativ zur Schau stand? Versetzte er das alles mit Argumenten, die Karla das Gefühl der Demütigung ersparen und, angesichts seines Stolzes, vor einem Akt der Selbstzerstörung bewahren sollten?

Ganz sicher gab er Karla wenig Zeit, sich zu entschließen. Einer der Lehrsätze über die Ausübung von Druck lautet, wie auch Karla sehr wohl wußte: Zeit zum Nachdenken ist gefährlich. Nur daß in diesem Fall Anlaß besteht zu vermuten, daß die Zeit auch für Smiley gefährlich war, wenn auch aus völlig anderen Gründen: Er hätte in elfter Stunde zurückschrecken können. Ausschließlich der unmittelbare Zwang zum Handeln kann, nach Sarratt-Überlieferung, das Wild dazu bringen, seine Scheu abzuwerfen und sich jedem angeborenen oder anerzogenen In­stinkt zuwider ins Unbekannte zu stürzen. Das gleiche mag bei dieser Gelegenheit wohl auch für den Jäger gegolten haben.

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