16

Smiley kam in Hamburg Mitte des Vormittags an und fuhr mit dem Flughafenbus ins Stadtzentrum. Es war neblig und sehr kalt. Am Bahnhofsplatz fand er nach einigen >Bedauere, ausge­bucht< ein schmalbrüstiges Hotel mit einem Lift, den, laut Vor­schrift, nur jeweils drei Personen benutzen durften. Er trug sich als Standfast ein und ging dann zu einer Autovermietung, wo er sich einen kleinen Opel aussuchte, den er in einer mit gedämpfter Beethovenmusik berieselten Tiefgarage parkte. Der Wagen war seine Hintertüre. Er wußte nicht, ob er ihn benötigen würde, aber es war nötig, daß er da war. Er machte sich wieder zu Fuß auf den Weg in Richtung Alster, wobei er alles mit besonderer Schärfe wahrnahm: Den irren Verkehr und die Spielzeugläden für Millionärskinder. Der Stadtlärm sprang ihn wie ein Sturm an und ließ ihn die Kälte vergessen. Deutschland war seine zweite Natur, ja seine zweite Seele. In seiner Jugend war die deutsche Literatur seine Leidenschaft und sein Studienfach gewesen. Er konnte die deutsche Sprache anlegen wie eine Uniform und sich kühn darin bewegen. Und doch hatte er das Gefühl, daß jeder Schritt, den er tat, Gefahr bedeutete, denn Smiley hatte hier als junger Mann den halben Krieg in der einsamen Angst des Spions verbracht, und das Bewußtsein, in Feindesland zu sein, war un­ausrottbar in ihm verwurzelt. In seiner Kindheit hatte er Ham­burg als eine reiche und elegante Hafenstadt kennengelernt, die ihre flatterhafte Seele unter einem Mantel von Englischtümelei verbarg; im Erwachsenenalter, als eine Stadt, die durch Luftan­griffe von tausend Flugzeugen in mittelalterliche Finsternis zu­rückgebombt wurde. Er hatte sie in den ersten Friedensjahren gesehen, eine endlose, schwelende Ruinenstätte, in der die Über­lebenden den Schutt wie Felder bearbeiteten. Und er sah sie heute, auf der Flucht in die Anonymität von Konservenmusik, Be­tontürmen und getöntem Glas.

An der Alster ging er den anmutigen Fußweg hinunter zum Landungssteg, wo Willem das Schiff bestiegen hatte. An Wo­chentagen fuhr, wie er feststellte, das erste Boot um 7 Uhr 10, das letzte um 20 Uhr 15, und Willem war an einem Wochentag hier­gewesen. Das nächste Schiff war in fünfzehn Minuten fällig. Während er darauf wartete, beobachtete er die Ruderboote und die roten Eichhörnchen, genau wie Willem dies getan hatte, und als das Schiff ankam, setzte er sich ins Heck, wo Willem gesessen hatte, im Freien unter dem Schutzdach. Seine Mitpassagiere wa­ren eine Horde Schulkinder und drei Nonnen. Er kniff vor der blendenden Helle die Augen halb zu und lauschte dem Ge­schnatter der Kinder. Auf halber Strecke stand er auf, schritt durch die Kabinen zum vorderen Fenster und sah hinaus, offen­sichtlich um etwas zu überprüfen, schaute auf die Uhr, kehrte dann wieder zu seinem Platz zurück und blieb sitzen bis zum Jungfernstieg, wo er an Land ging.

Willems Geschichte stimmte. Smiley hatte es nicht anders erwar­tet, aber in einer Welt beständigen Zweifels war ein zusätzlicher Beweis immer willkommen.

Er aß zu Mittag, ging dann zur Hauptpost und studierte eine Stunde lang alte Telefonbücher, wie damals die Ostrakowa in Paris, wenn auch aus anderen Gründen. Nach Beendigung seiner Nachforschungen ließ er sich zufrieden in der Halle des Hotels Vier Jahreszeiten nieder und las Zeitungen bis zum Abend.


In einem Hamburger Vergnügungsführer war das >Blue Dia­mond< nicht unter Nachtklubs angeführt, sondern unter >L'amour< und mit drei Sternen ausgezeichnet wegen seiner Ex­klusivität und seiner hohen Preise. Es lag in Sankt Pauli, doch diskret abseits vom Touristenrummel, in einer leicht abfallen­den, gepflasterten Straße, die dunkel war und nach Fisch roch. Smiley drückte auf die Klingel, und ein elektrischer Türöffner summte. Er trat ein und stand unmittelbar in einem gepflegten Vorraum, voll grauer Apparaturen, die von einem smarten jun­gen Mann in grauem Anzug bedient wurden. An der Wand dreh­ten sich langsam graue Tonbandspulen, doch die Musik, die sie spielten, war anderswo zu hören. Am Empfangspult flackerte und tickte eine mit den letzten Raffinessen ausgestattete Tele­fonanlage.

»Ich möchte einige Zeit hier verbringen«, sagte er.

Von hier aus haben sie auf meinen Telefonanruf geantwortet, dachte er, als ich Wladimirs Hamburger Gesprächspartner zu er­reichen suchte.

Der smarte junge Mann zog ein Formular aus seinem Pult und erklärte in vertraulichem Gemurmel die Prozedur, wie ein Rechtsanwalt, der er wahrscheinlich tagsüber hauptberuflich war. Mitgliedsbeitrag einhundertfünfundsiebzig Mark, sagte er leise. Dies sei eine einmalige Beitrittsgebühr, die Smiley ein vol­les Jahr zu freiem Eintritt berechtige, sooft er wolle. Das erste Getränk würde ihn weitere fünfundzwanzig Mark kosten, und danach seien die Preise hoch, aber nicht übermäßig. Das erste Getränk sei obligatorisch und, wie der Mitgliedsbeitrag, vor Eintritt zu bezahlen. Alle anderen Arten der Unterhaltung seien gebührenfrei, doch nähmen die Mädchen Zuwendungen dan­kend entgegen. Smiley solle das Formular mit einem Namen sei­ner Wahl unterschreiben. Es würde von dem jungen Mann hier höchstpersönlich abgelegt werden. Bei seinem nächsten Besuch brauche er sich dann nur an seinen Beitrittsnamen zu erinnern, und er würde dann ohne weitere Formalitäten eingelassen wer­den.

Smiley zählte sein Geld hin und fügte den Dutzenden von fal­schen Namen, die er in seinem Leben verwendet hatte, einen weiteren hinzu. Er stieg eine Treppe hinunter bis zu einer zwei­ten Tür, die sich ebenfalls elektronisch öffnete und einen Durch­gang freigab, an dem eine Reihe Separees lagen, leer, denn in die­ser Welt fing die Nacht gerade erst an. Am Ende des Durchgangs war eine dritte Tür, hinter der ihn totale Finsternis empfing und die auf höchste Lautstärke gedrehte Musik von den Tonbändern des smarten jungen Mannes. Eine männliche Stimme sprach zu ihm, ein Punktlicht führte ihn an einen Tisch. Er bekam eine Ge­tränkekarte ausgehändigt. >Besitzer C. Kretzschmar<, las er un­ten auf der Seite in Kleindruck. Er bestellte Whisky.

»Ich möchte allein bleiben. Keine Gesellschaft.«

»Ich werde entsprechend Bescheid geben, mein Herr«, sagte der Kellner mit vertraulicher Würde und nahm sein Trinkgeld an.

»Übrigens, Herr Kretzschmar. Ist er zufällig aus Sachsen?«

»Jawohl, mein Herr.«

Schlimmer als ein Ostdeutscher, hatte Toby Esterhase gesagt. Ein Sachse. Sie klauten zusammen. Sie hurten zusammen, sie fälschten zusammen Berichte. Eine ideale Ehe.


Er nippte an seinem Whisky und wartete, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Von irgendwoher strahlte blaues Schummerlicht und hob Manschetten und Kragen gespenstisch hervor. Er sah weiße Gesichter und weiße Körper. Der Raum war in zwei Ebenen angelegt. Die untere, wo er saß, war mit Ti­schen und Armstühlen ausgestattet. Die obere bestand aus sechs Chambres séparées, die wie Theaterlogen aussahen, jedes mit seinem eigenen blauen Schummerlicht. In einer davon hatte, das stand für ihn fest, das Quartett wissentlich oder unwissentlich für den Fotografen posiert. Er erinnerte sich an den Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen worden war. Von oben -von hoch oben. Aber >hoch oben< bedeutete irgendwo im Dun­kel der Mauern, wohin kein Auge dringen konnte, nicht einmal das von Smiley.

Die Musik erstarb, und aus den Lautsprechern wurde eine Nummer angekündigt. >Alt Berlins sagte dercompére, und die Stimme des compére war auch altberlinerisch: bestimmt, nasal und suggestiv. Der smarte junge Mann hat das Tonband gewech­selt, dachte Smiley. Ein Vorhang ging hoch und gab eine kleine Bühne frei. In dem Licht, das von ihr fiel, schaute Smiley schnell nach oben, und diesmal sah er, wonach er gesucht hatte: ein klei­nes Beobachtungsfenster aus Rauchglas, sehr hoch oben in der Wand. Der Fotograf hat Spezialkameras benützt, dachte er vage. Heutzutage war, wie er sich hatte sagen lassen, Dunkelheit kein Hindernis mehr. Ich hätte Toby fragen sollen, dachte er. Toby kennt diese Finessen auswendig. Auf der Bühne führte ein Paar den Liebesakt vor, mechanisch, witzlos, abschreckend. Smiley wendete seine Aufmerksamkeit den im Raum verstreuten Mitgä­sten zu. Die Mädchen waren schön und nackt und jung, wie die Mädchen auf dem Foto. Wenn sie versorgt waren, saßen sie eng umschlungen mit ihren Partnern, offensichtlich entzückt über deren Senilität und Häßlichkeit. Die Nichtversorgten saßen schweigend in einer Gruppe zusammen, wie Ersatzspieler auf der Reservebank. Der Lärm aus den Lautsprechern schwoll an, eine Mischung aus Musik und hektischer Berichterstattung. Und in Berlin spielen sie Alt Hamburg, dachte Smiley. Auf der Bühne verdoppelte das Paar seine Anstrengungen, ohne daß viel dabei herauskam. Smiley fragte sich, ob er wohl die Mädchen von dem Foto erkennen würde, wenn sie erscheinen sollten. Sicher nicht, dachte er. Der Vorhang fiel. Erleichtert bestellte er noch einen Whisky.

»Ist Herr Kretzschmar heute abend im Haus?« fragte er den Kellner.

Herr Kretzschmar habe viele Verpflichtungen, erklärte der Kell­ner. Herr Kretzschmar müsse seine Zeit zwischen mehreren Etablissements teilen.

»Sollte er kommen, lassen Sie es mich bitte wissen.«

»Er wird um Punkt elf Uhr hier sein, mein Herr.«

An der Bar hatten nackte Paare zu tanzen begonnen. Er litt eine weitere halbe Stunde, bevor er an den jetzt teilweise besetzten Nischen vorbei zum Vorraum am Eingang zurückging. Der smarte junge Mann fragte ihn, wen er melden dürfe.

»Sagen Sie ihm, es handle sich um ein spezielles Anliegen.«

Der smarte junge Mann drückte auf einen Knopf und redete in dem extrem ruhigen Ton, in dem er mit Smiley gesprochen hatte.


Das Büro oben war so blank wie ein ärztliches Behandlungszimmer mit einem polierten Plastikschreibtisch und einer Menge weiterer Apparaturen. Eine Industriefernsehanlage lieferte ein gestochen scharfes Bild dessen, was unten vorging. Durch das Beobachtungsfenster, das Smiley bereits bemerkt hatte, sah man in die Separees. Herr Kretzschmar war das, was die Deutschen seriös nennen. In den Fünfzigern, gepflegt, massig, mit dunklem Anzug und heller Krawatte. Sein Haar war strohblond, wie es sich für einen guten Sachsen gehört, und sein ausdrucksloses Ge­sicht verriet weder Freude noch Ärger über den Besuch. Er schüttelte Smiley lebhaft die Hand und winkte ihn in einen Ses­sel. Er schien mit der Handhabung spezieller Anliegen wohl ver­traut zu sein.

»Bitte«, sagte er, und damit waren die Präliminarien erledigt. Nun gab es nur noch die Flucht nach vorne.

»Wenn ich mich nicht täusche, dann waren Sie einmal der Ge­schäftspartner eines meiner Bekannten namens Otto Leipzig«, sagte Smiley, und seine Stimme kam ihm ein bißchen zu laut vor.

»Ich bin zufällig in Hamburg und habe mich gefragt, ob Sie wohl wissen, wo er ist. Seine Adresse scheint nirgends verzeichnet zu sein.«

Herrn Kretzschmars Kaffee war in einer Silberkanne, deren Henkel mit einer Papierserviette umwickelt war, damit er sich beim Ausgießen die Finger nicht verbrenne. Er trank und stellte seine Tasse sorgfältig ab, um jeden Aufprall zu vermeiden.

»Wer sind Sie, bitte?« fragte Herr Kretzschmar. Der sächselnde Tonfall quetschte seine Stimme platt. Ein kleines Stirnrunzeln verstärkte noch den Eindruck der Seriosität.

»Otto nannte mich Max«, sagte Smiley.

Herr Kretzschmar ging auf diese Information nicht ein, doch er nahm sich Zeit, ehe er seine nächste Frage vorbrachte. Wieder bemerkte Smiley, daß sein Blick seltsam unschuldig war. Otto hatte in seinem ganzen Leben nie ein Haus, hatte Toby gesagt. BeiBlitztreffs amtierte Kretzschmar als Schlüsselverwahrer.

»Und Ihre Geschäfte mit Herrn Leipzig, wenn ich fragen darf?«

»Ich vertrete eine große Firma. Neben anderen Beteiligungsgesellschaften besitzen wir eine literarische und fotografische Agentur für freiberufliche Reporter.«

»Und?«

»Vor längerer Zeit hatte mein Stammhaus gelegentlich Angebote Herrn Leipzigs angenommen - über Vermittler - und sie an un­sere Kunden zur Verarbeitung und Unterbringung weitergege­ben.

»Und?« wiederholte Herr Kretzschmar. Sein Kopf hatte sich leicht gehoben, aber sein Ausdruck blieb unverändert.

»Kürzlich ist die Geschäftsverbindung zwischen meinem Stammhaus und Herrn Leipzig wieder aufgelebt.« Er machte eine kleine Pause. »Zunächst über das Telefon«, sagte er, aber Herr Kretzschmar hatte vielleicht nie etwas von Fernsprechern gehört. »Dann schickte er uns, wieder über Mittelsmänner, eine Musterkollektion seiner Arbeiten, die wir das Vergnügen hatten, für ihn unterzubringen. Ich bin hierher gekommen, um über Be­dingungen zu sprechen und um weitere Arbeiten in Auftrag zu geben. Vorausgesetzt natürlich, daß Herr Leipzig in der Lage ist, sie auszuführen.«

»Was war das für eine Art Arbeit, bitte, die Herr Leipzig Ihnen gesandt hat, bitte, Herr Max?«

»Es war ein Fotonegativ mit erotischem Inhalt. Meine Firma be­steht immer auf Negativen. Herr Leipzig wußte das natürlich.« Smiley deutete bedächtig durch das Zimmer. »Ich möchte an­nehmen, daß es von diesem Fenster aus aufgenommen wurde. Das Besondere an diesem Foto ist, daß Herr Leipzig selbst dar­auf figuriert. Es ist daher anzunehmen, daß ein Freund oder Ge­schäftspartner die Kamera bedient hat.«

Herrn Kretzschmars blauäugiger Blick verlor nichts von seiner Direktheit und Unschuld. Sein seltsam glattes Gesicht kam Smi­ley mutig vor, ohne daß er hätte sagen können, warum.

Wenn Sie sich mit einem Knilch wie Leipzig einlassen wollen, dann sollten Sie einen Knilch wie Toby zu Ihrem Schutz dabei haben, hatte Toby gesagt.

»Da ist noch ein anderer Aspekt«, sagte Smiley.

»Ja?«

»Unglücklicherweise erlitt der Herr, der bei dieser Gelegenheit als Vermittler fungierte, einen schweren Unfall, kurz nachdem das Negativ in unseren Besitz gelangt war. Die übliche Verbin­dung zu Herrn Leipzig war damit abgebrochen.«

Herr Kretzschmar machte kein Hehl aus seiner Bestürzung. Ein Schatten, der echte Besorgnis auszudrücken schien, flog über sein Gesicht, und er sagte scharf:

»Wieso ein Unfall? Was für ein Unfall?«

»Ein tödlicher. Ich bin gekommen, um Otto zu warnen und um mit ihm zu sprechen.«

Herr Kretzschmar besaß einen schönen, goldenen Kugelschrei­ber. Er zog ihn bedachtsam aus einer Innentasche, ließ die Spitze herausspringen und zeichnete, immer noch stirnrunzelnd, einen perfekten Kreis auf die Schreibunterlage vor ihm. Dann setzte er obenauf ein Kreuz, zog einen Strich durch sein Werk, machte »ts, ts«, sagte »schade«, und nachdem er dies alles getan hatte, richtete er sich auf und sprach in knappem Ton in einen Apparat: »Ich bin für niemanden zu sprechen.« Murmelnd bestätigte die Stimme des grauen Empfangschefs die Anweisung.

»Sie sagten, Herr Leipzig sei ein alter Bekannter Ihres Stamm­hauses?« faßte Herr Kretzschmar zusammen.

»Wie Sie selbst auch, glaube ich, Herr Kretzschmar.«

»Bitte, erklären Sie das näher,« sagte Herr Kretzschmar und drehte den Kugelschreiber langsam in beiden Händen, als wolle er die Qualität des Goldes prüfen.

»Wir sprechen natürlich von alten Geschichten«, sagte Smiley beschwichtigend.

»So habe ich es verstanden.«

»Nach seiner Flucht aus Rußland kam Herr Leipzig nach Schleswig-Holstein«, sagte Smiley. »Die Organisation, die seine Flucht ermöglicht hatte, war in Paris ansässig, aber als Balte zog er es vor, in Norddeutschland zu leben. Deutschland war immer noch besetzt, und es war schwierig für ihn, sich seinen Lebens­unterhalt zu verdienen.«

»Für jeden«, korrigierte ihn Herr Kretzschmar. »Für jeden war es schwierig. Die Zeiten waren phantastisch hart. Die Jugend von heute hat keine Ahnung.«

»Nicht die geringste«, bestätigte Smiley. »Und sie waren beson­ders hart für Flüchtlinge. Ob sie nun aus Estland oder aus Sach­sen kamen, das Leben war hart für sie.«

»Absolut richtig. Die Flüchtlinge hatten es am schwersten. Bitte, fahren Sie fort.«

»Damals blühte der Handel mit Informationen. Aller Art von Informationen. Militärischer, industrieller, politischer, wirt­schaftlicher. Die Siegermächte waren bereit, hohe Summen für Material zu bezahlen, das sie jeweils über die anderen aufklärte. Mein Stammhaus war in diesem Handel tätig und unterhielt hier einen Vertreter, dessen Aufgabe darin bestand, derartiges Mate­rial zu sammeln und es nach London zu übermitteln. Herr Leip­zig und sein Partner wurden gelegentlich von uns mit Aufträgen betraut. Als freie Mitarbeiter.«

Trotz der Nachricht vom tödlichen Unfall des Generals huschte ein schnelles und unerwartetes Lächeln wie eine Brise über Herrn Kretzschmars Züge:

»Freie Mitarbeiter«, sagte er, als habe der Ausdruck es ihm be­sonders angetan. »Frei«, wiederholte er. »Genau das waren wir.«

»Derartige Verbindungen sind naturgemäß nicht auf Dauer an­gelegt«, fuhr Smiley fort. »Doch Herr Leipzig hatte als Balte ge­wisse Ziele im Auge und korrespondierte weiterhin noch längere Zeit mit meiner Firma über Mittelsmänner in Paris«, er hielt inne, »vornehmlich über einen General. Der General mußte vor ein paar Jahren aufgrund eines Streits nach London übersiedeln, doch Otto blieb mit ihm in Kontakt. Und der General seinerseits spielte weiter den Mittelsmann.«

»Bis zu seinem Unfall«, warf Herr Kretzschmar ein.

»Ganz recht.«

»War es ein Verkehrsunfall? Ein alter Mann - ein bißchen un­achtsam?«

»Erschossen«, sagte Smiley und sah, wie Herrn Kretzschmars Gesicht sich wieder unwillig verzog. »Er ist erschossen wor­den«, fügte Smiley hinzu, wie um ihn zu beruhigen. »Es war kein Selbstmord oder sonstiges Selbstverschulden.«

»Natürlich«, sagte Herr Kretzschmar und bot Smiley eine Ziga­rette an. Smiley lehnte ab, also zündete er sich selbst eine an, tat ein paar Züge und drückte sie aus. Seine blasse Gesichtsfarbe war um eine Schattierung bleicher geworden.

»Sind Sie mit Otto zusammengekommen? Kennen Sie ihn?« fragte Herr Kretzschmar und machte auf leichten Plauderton.

»Ich bin einmal mit ihm zusammengekommen.«

»Wo?«

»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«

Herr Kretzschmar runzelte die Stirne, doch eher ratlos als miß­billigend.

»Sagen Sie, bitte. Wenn Ihr Stammhaus - na schön, London -Herrn Leipzig direkt erreichen wollte, wie ging es da vor?« fragte Herr Kretzschmar.

»Über das Hamburger Abendblatt.«

»Und wenn es sehr dringend war?«

»Über Sie.«

»Sind Sie von der Polizei?« fragte Herr Kretzschmar ruhig.

»Scotland Yard?«

»Nein.« Smiley starrte Herrn Kretzschmar an, und Herr Kretz­schmar starrte zurück.

»Haben Sie etwas für mich mitgebracht?« fragte Herr Kretz­schmar. Smiley war ratlos und antwortete nicht sofort. »So et­was wie einen Empfehlungsbrief? Eine Karte, zum Beispiel?«

»Nein.«

»Nichts vorzuzeigen? Sehr schade.«

»Vielleicht werde ich Ihre Frage besser verstehen, wenn ich ihn gesehen habe.«

»Aber das Foto, das haben Sie doch offensichtlich gesehen? Ha­ben Sie es zufällig bei sich?«

Smiley zog seine Brieftasche und reichte den Abzug über den Schreibtisch. Herr Kretzschmar hielt ihn an den Rändern, sah ihn einen Augenblick prüfend an, aber nur pro forma und legte ihn dann auf die Plastikfläche vor sich hin. Sein sechster Sinn sagte Smiley, daß Herr Kretzschmar sich anschickte, eine Aus­sage zu machen, wie dies die Deutschen manchmal so tun, eine Aussage zu seiner philosophischen Einstellung oder seiner per­sönlichen Entlastung, auf daß man ihn liebe oder bemitleide. Smiley schwante, daß Herr Kretzschmar, zumindest nach sei­nem Selbstverständnis, ein umgänglicher, wenn auch mißver­standener Mensch war; ein Mann von Herz, ja Herzensgüte, und daß seine Wortkargheit nur ein berufliches Requisit war, das er widerstrebend zur Schau stellte, in einer Welt, die mit seinem von Natur aus zartbesaiteten Wesen oft nicht in Einklang stand. »Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich hier ein anständiges Haus leite«, bemerkte Herr Kretzschmar, nachdem er nochmals einen Blick auf den Abzug unter der klinisch modernen Lampe gewor­fen hatte. »Es liegt nicht in meiner Gewohnheit, Gäste zu foto­grafieren. Manche Leute verkaufen Krawatten, ich verkaufe Sex. Ich lege größten Wert auf korrektes Geschäftsgebaren. Aber hier handelte es sich nicht um Geschäft. Hier handelte es sich um Freundschaft.«

Smiley war klug genug, den Mund zu halten.

Herr Kretzschmar runzelte die Stirn. Seine Stimme senkte sich zu einem vertraulichen Ton: »Kannten Sie ihn, Herr Max? Den alten General? Waren Sie ihm persönlich verbunden?«

»Ja.«

»Er war wer. Stimmt's?«

»Stimmt.«

»Ein Löwe, was?«

»Ein Löwe.«

»Otto hat einen Narren an ihm gefressen. Ich heiße Claus. >Claus<, sagte er immer zu mir. >Dieser Wladimir. Ich liebe die­sen Mann.< Können Sie mir folgen? Otto ist ein äußerst loyaler Bursche. Der General auch?«

»Genau so«, sagte Smiley. »Gewesen.«

»Eine Menge Leute glaubten nicht an Otto. Auch ihr Stammhaus glaubte nicht immer an ihn. Das ist verständlich. Ich mache nie­mandem einen Vorwurf. Aber der General, der glaubte an Otto. Nicht in allen Kleinigkeiten. Aber in den großen Dingen.« Herr Kretzschmar winkelte den Unterarm hoch und ballte die Hand zur Faust, zu einer überraschend stattlichen Faust. »Wenn's mulmig wurde, glaubte der General hundertprozentig an Otto. Auch ich glaube an Otto, Herr Max. In den großen Dingen. Aber ich bin Deutscher, ich interessiere mich nicht für Politik, nur für Geschäfte. Diese Flüchtlingsgeschichten sind für mich aus und vorbei. Können Sie mir folgen?«

»Ich glaube schon.«

»Aber nicht für Otto. Nie und nimmer. Otto ist ein Fanatiker. Das darf ich wohl sagen. Ein Fanatiker. Das ist einer der Grün­de, warum sich unsere Wege getrennt haben. Aber er ist mein Freund geblieben. Wer Otto etwas antut, der kriegt es mit Kretzschmar zu tun.« Ein Schatten der Ratlosigkeit überflog sein Gesicht. »Sie haben wirklich nichts für mich, Herr Max?«

»Außer dem Foto habe ich nichts für Sie.«

Widerstrebend fand Herr Kretzschmar sich mit dieser Tatsache ab, aber er brauchte einige Zeit dazu. Verlegene Pause.

»Der alte General wurde in England erschossen?« fragte er schließlich.

»Ja.«

»Und Sie glauben trotzdem, daß auch Otto in Gefahr ist?«

»Ja. Aber ich glaube, er will es nicht anders.«

Herrn Kretzschmar gefiel diese Antwort, und er nickte zweimal energisch mit dem Kopf.

»Das glaube ich auch. Genau diesen Eindruck habe ich auch von ihm. Wie oft hab' ich zu ihm gesagt: >Otto, du hättest Hochseil­künstler werden sollen.< Für Otto ist ein Tag, der nicht bei sechs verschiedenen Gelegenheiten sein letzter werden könnte, nicht lebenswert. Gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen über meine Beziehung zu Otto?«

»Bitte«, sagte Smiley höflich.

Herr Kretzschmar legte die Unterarme auf die Schreibtischplatte und setzte sich bequem zur Beichte zurecht. »Es gab eine Zeit, da haben Otto und Claus Kretzschmar alles zusammen getan, eine Menge Pferde gestohlen, wie man so sagt. Ich bin aus Sachsen gekommen, Otto aus dem Osten. Ein Balte. Nicht aus Rußland, aus Estland, wie er immer betonte. Er hatte viel durchgemacht, eine ganze Anzahl Gefängnisse von innen kennengelernt, ein paar üble Burschen hatten ihn verraten, damals in Estland. Ein Mädchen war gestorben, was ihm ziemlich zugesetzt hatte. Da gab's einen Onkel in der Nähe von Kiel, aber das war ein Schwein. Das kann man wohl sagen. Ein Schwein. Wir hatten kein Geld, wir waren Kameraden und Diebsgenossen. Das war normal, Herr Max.«

Smiley bestätigte nickend diese Auslegung des Zeitgeists.

»Einer unserer Geschäftszweige war der Verkauf von Informa­tionen. Wie Sie ganz richtig bemerkten, war Information damals eine geschätzte Handelsware. Wir hörten zum Beispiel von ei­nem Flüchtling, der gerade von drüben gekommen war und den die Alliierten noch nicht ausgequetscht hatten. Oder vielleicht von einem russischen Deserteur. Oder dem Kapitän eines Frach­ters. Wir hören von ihm, wir fragen ihn aus. Wenn wir es schlau anstellen, können wir den gleichen Bericht in verschiedenen Fas­sungen an zwei oder drei Käufer absetzen. Die Amerikaner, die Franzosen, die Briten und die Deutschen, die schon wieder fest mitmischten, jawohl. Manchmal- wenn er nur vage genug war, sogar an fünf Käufer.« Er lachte herzlich. »Aber nur, wenn er vage war, okay? Bei anderen Gelegenheiten haben wir, wenn uns die Quellen ausgingen, einfach erfunden - ohne Frage. Wir hat­ten Landkarten, eine gute Phantasie, gute Kontakte. Mißverste­hen Sie mich nicht: Kretzschmar ist ein Kommunistenfeind. Wir sprechen von alten Geschichten, wie Sie sagten, Herr Max. Es war eine Frage des Überlebens. Otto hatte die Idee, Kretzschmar tat die Arbeit. Otto hat die Arbeit nicht erfunden, möchte ich sa­gen.« Herr Kretzschmar runzelte die Stirne. »Aber in einer Hin­sicht kannte Otto keinen Spaß. Er hatte eine Schuld zu kassieren. Davon hat er öfter gesprochen. Der Schuldner war vielleicht der Bursche, der ihn verraten und sein Mädchen umgebracht hat, vielleicht aber auch die ganze menschliche Rasse. Was weiß ich? Er mußte einfach aktiv sein. Politisch aktiv. Dazu fuhr er nach Paris, sooft sich eine Gelegenheit bot. Immer wieder.«

Herr Kretzschmar gestattete sich eine kurze Denkpause.

»Ich werde ganz offen sein«, verkündete er.

»Und ich werde Ihr Vertrauen zu würdigen wissen«, sagte Smi­ley.

»Ich glaube Ihnen. Sie sind Max. Der General war Ihr Freund, das weiß ich von Otto. Otto ist einmal mit Ihnen zusammenge­kommen, er bewunderte Sie. Schön. Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Vor vielen Jahren ist Otto für mich ins Gefäng­nis gegangen. Damals war ich keine Respektsperson. Heute hab ich Geld und kann es mir leisten, eine zu sein. Wir haben gemein­sam etwas gestohlen, er wurde gefaßt, er hat gelogen und alles auf sich genommen. Ich wollte ihn dafür entschädigen. Er sagte: >Was soll der Quatsch? Wenn man Otto Leipzig ist, ist ein Jahr Gefängnis der reinste Urlaub.< Ich besuchte ihn jede Woche, ich habe die Wärter bestochen, damit sie ihm anständiges Essen und einmal sogar ein Mädchen besorgten. Als er herauskam, ver­suchte ich wieder, ihn mit Geld zu entschädigen. Er hat meine Angebote abgelehnt. >Eines Tages werd' ich dich um etwas bit­ten<, sagte er. >Vielleicht um deine Frau.< >Ich geb sie dir<, sagte ich zu ihm. >Kein Problem.< Herr Max, ich nehme an, Sie sind Engländer. Sie werden meine Lage verstehen.«

Smiley sagte, er verstehe.

»Vor zwei Monaten - was weiß ich, kann länger, kann kürzer zurückliegen - ruft der alte General an. Er brauche dringend den Otto. >Nicht morgen, sondern heute abend.< Manchmal hatte er so von Paris aus angerufen, mit Codenamen und all diesem Blöd­sinn. Der alte General ist ein Geheimniskrämer. Otto ebenfalls. Wie Kinder, verstehen Sie? Wie dem auch sei.«

Herr Kretzschmar fuhr sich mit seiner großen Hand nachsichtig über die Stirn, als wolle er Spinnweben wegwischen.

»>Hören Sie<, sage ich zu ihm. >Ich weiß nicht, wo Otto ist. Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, steckte er wegen irgend­welcher Geschäfte in einer üblen Klemme. Ich muß ihn zuerst finden, und das kann etwas dauern. Vielleicht morgen, vielleicht in zehn Tagen.< Der alte Mann sagt zu mir: >Ich schicke Ihnen ei­nen Brief für ihn. Behüten Sie ihn mit Ihrem Leben.< Am näch­sten Tag kommt der Brief, per Eilboten für Kretzschmar, abge­stempelt in London. Drinnen ein zweiter Umschlag. >Dringend und streng geheim< für Otto. Streng geheim, verstehen Sie. Der Alte ist verrückt. Sei's drum. Sie kennen ja seine große Hand­schrift, energisch wie ein Heeresbefehl.«

Smiley kannte sie.

»Ich finde Otto. Er ist wieder mal in Geldschwierigkeiten und versteckt sich. Hat nur einen einzigen Anzug, ist aber gekleidet wie ein Filmstar. Ich gebe ihm den Brief des Alten.«

»Ein dicker Brief«, meinte Smiley und dachte dabei an die sieben Seiten Fotokopierpapier. An Mikhels schwarze Maschine, die wie ein alter Tank in der Bibliothek stand.

»Sicher. Ein langer Brief. Er hat ihn in meiner Gegenwart auf­gemacht -«

Herr Kretschmar unterbrach sich, starrte auf Smiley, und in sei­nen Zügen schien sich das unwillkürliche Eingeständnis einer gewissen Hemmung zu spiegeln.

»Ein langer Brief«, wiederholte er. »Viele Seiten. Otto ist beim Lesen ganz aufgeregt geworden. >Claus<, hat er gesagt. >Leih mir ein bißchen Geld. Ich muß nach Paris.< Ich leih ihm ein bißchen Geld, fünfhundert Mark, kein Problem. Danach hab' ich längere Zeit nicht viel von ihm gesehen. Ein paarmal kommt er hierher und telefoniert. Ich hör nicht hin. Vor einem Monat ist er dann zu mir gekommen.« Wieder unterbrach er sich und wieder spürte Smiley sein inneres Zögern. »Ich will ganz offen sein«, sagte er, als wolle er Smiley nochmals zur Geheimhaltung ver­gattern. »Er war, nun, ich würde sagen, aufgeregt.«

»Er wollte Ihren Nachtklub für seine Zwecke benutzen«, sprang Smiley hilfreich ein.

»>Claus<, sagte er. >Tu, was ich verlange, und du hast deine Schuld mir gegenüber abgetragen.< Er nannte es eine Sex-Falle. Er wollte einen Mann in den Klub mitbringen, einen Iwan, den er gut kannte, den er sich seit Jahren warm hielt, ein ganz beson­deres Schwein. Dieser Mann war das Ziel. Er nannte ihn: >Das Ziel<. Er sagte, es sei die Chance seines Lebens, alles, worauf er seit jeher gewartet habe. Die besten Mädchen, der beste Cham­pagner, die beste Show. Für eine Nacht, gratis und franko von Kretzschmar. Die Krönung seiner Bemühungen, sagte er. Die Gelegenheit, alte Schulden abzutragen und ein bißchen Geld zu machen. Er habe gesät, sagte er. Jetzt würde er ernten. Er ver­sprach, daß keinerlei Folgen zu befürchten seien. Ich sagte >kein Problem<. >Also, Claus, ich möchte, daß du uns fotografierst<, sagt er zu mir. Ich sage wieder >kein Problem<. Dann ist er ge­kommen und hat sein >Ziel< mitgebracht.«

Herrn Kretzschmars Erzählweise war plötzlich ungewöhnlich schmucklos geworden. Abgehackt. In eine der Pausen ließ Smi­ley eine Frage gleiten, die weit über den Gegenstand hinauspeil­te, den sie betraf.

»In welcher Sprache unterhielten sie sich denn?«

Herr Kretzschmar zögerte, zog die Stirn kraus und antwortete schließlich:

»Zuerst gab sein Ziel vor, Franzose zu sein, aber die Mädchen konnten nur ein paar Brocken französisch, also sprach er deutsch mit ihnen. Aber mit Otto sprach er russisch. Er war unange­nehm, dieses Ziel. Er stank furchtbar, er schwitzte furchtbar und war auch in gewissen anderen Beziehungen kein Gentleman. Die Mädchen wollten nicht bei ihm bleiben. Sie sind zu mir gekom­men und haben sich beklagt. Ich hab' sie zurückgeschickt, aber sie murrten.«

Es schien ihm peinlich zu sein.

»Noch eine kleine Frage«, sagte Smiley, als wieder ein Augen­blick der Verlegenheit eintrat.

»Bitte.«

»Wie konnte Otto Leipzig versprechen, daß keine Folgen zu befürchten seien, wo doch das Ganze vermutlich auf eine Erpres­sung hinauslief.«

»Das Ziel war nicht derZweck«, sagte Herr Kretzschmar, wobei er die Lippen schürzte, um diesem Punkt Nachdruck zu verlei­hen. »Er war das Mittel.«

»Das Mittel, zu jemand anderem zu gelangen?«

»Otto drückte sich nicht klar aus. >Eine Sprosse auf der Leiter des Generals< war seine Rede. >Für mich, Claus, genügt das Ziel. Das Ziel und später das Geld. Aber für den General ist er nur eine Sprosse auf der Leiter. Für Max auch.< Aus Gründen, die ich nicht verstand, hing die Bezahlung des Geldes auch davon ab, ob der General zufrieden sein würde. Oder vielleicht auch Sie.« Er machte eine Pause, als hoffe er, Smiley würde ihn aufklären. Was Smiley nicht tat. »Ich wollte weder Fragen noch Bedingungen stellen«, fuhr Herr Kretzschmar fort und wählte seine Worte mit noch strengerer Sorgfalt. »Otto und sein Ziel wurden durch den Hintereingang eingelassen und direkt in ein Separee geführt. Wir haben dafür gesorgt, daß nirgends der Name des Etablissements erschien. Kürzlich ist ein Nachtklub am anderen Ende der Straße bankrott gegangen«, sagte Herr Kretzschmar in einem Ton, der anzudeuten schien, daß ihm dieses Ereignis nicht völlig das Herz gebrochen hatte. »Ein Lokal namens >Freudenjacht<. Ich hatte bei der Versteigerung ein paar Dinge gekauft. Zündhölzer. Tel­ler. Wir haben sie über die Separees verteilt.«

Smiley erinnerte sich an die Buchstaben ACHT auf dem Aschenbecher des Fotos.

»Können Sie mir sagen, worüber sich die beiden Männer unter­hielten?«

»Nein.« Er korrigierte seine Antwort. »Ich kann nicht russisch«, sagte er. Wieder machte er mit der Hand diese wegwischende Bewegung. »Auf deutsch sprachen sie über Gott und die Welt. Alles und jedes.«

»Verstehe.«

»Das ist alles, was ich weiß.«

»Wie hat Otto sich verhalten? War er immer noch so aufgeregt?«

»Ich hatte Otto vorher nie im Leben so gesehen. Er lachte wie ein Henker, sprach drei Sprachen auf einmal, war nicht betrunken, aber ziemlich angeheitert, sang, riß Witze, was weiß ich. Das ist alles, was ich weiß«, wiederholte Herr Kretzschmar verlegen. Smiley warf diskret einen Blick auf das Beobachtungsfenster und auf die grauen Gehäuse der Apparaturen. Er sah wieder auf Herrn Kretzschmars kleinem Bildschirm, wie die weißen Kör­per jenseits der Wand sich lautlos umschlangen und trennten. Er sah seine letzte Frage, erkannte ihre Logik, erahnte den Schatz der Erkenntnisse, die sie versprach. Doch derselbe lebenslange Instinkt, der ihn bis hierher gebracht hatte, hielt ihn nun zurück. Nichts, keine kurzfristige Dividende war im Augenblick das Ri­siko wert, Herrn Kretzschmar zu vergrämen und den Weg zu Otto Leipzig zu versperren.

»Und Otto hat Ihnen sonst weiter nichts über dieses Ziel ge­sagt?« fragte Smiley, nur um irgendwas zu fragen; um das Ge­spräch zum Abschluß zu bringen.

»Im Verlauf des Abends kam er einmal zu mir herauf. Hierher. Er entschuldigte sich bei den anderen und kam hierher, um sich zu vergewissern, daß alles plangemäß verlief. Er schaute auf den Bildschirm da und lachte. >Jetzt hab' ich ihn in der Zange, und er kann nicht mehr raus<, sagte er. Ich habe nicht weiter gefragt. Das war alles.«


Herr Kretzschmar schrieb seine Instruktionen für Smiley auf ei­ner Schreibunterlage aus Leder mit Goldecken.

»Otto lebt in schlimmen Verhältnissen«, sagte er. »Daran kann man nichts ändern. Sein sozialer Status läßt sich durch Geldzu­wendungen nicht verbessern. Er bleibt-« Herr Kretzschmar zö­gerte, »- er bleibt im Herzen, Herr Max, ein Zigeuner. Mißver­stehen Sie mich nicht.«

»Werden Sie ihm melden, daß ich komme?«

»Wir haben abgemacht, auf telefonische Verständigung zu ver­zichten. Es besteht keinerlei offizielle Verbindung mehr zwi­schen uns.« Er reichte ihm das Blatt Papier. »Ich rate Ihnen dringend, sich vorzusehen«, sagte Herr Kretzschmar. »Otto wird sehr zornig sein, wenn er erfährt, daß der alte General erschossen worden ist.« Er begleitete Smiley zur Tür. »Wieviel haben sie Ihnen drunten berechnet?«

»Wie, bitte?«

»Im Lokal unten. Wieviel haben Sie bezahlt?«

»Einhundertfünfundsiebzig Mark Mitgliedsbeitrag.«

»Mit den Getränken mindestens zweihundert. Ich werde An­weisung geben, daß man Ihnen den Betrag am Eingang zurück­erstattet. Ihr Engländer seid recht arm geworden. Zuviele Ge­werkschaften. Wie hat Ihnen die Show gefallen?«

»Sehr künstlerisch«, sagte Smiley.

Herrn Kretzschmar schien diese Antwort zu gefallen. Er klopfte Smiley auf die Schulter.

»Vielleicht sollten Sie sich ein bißchen mehr amüsieren in Ihrem Leben.«

»Hätte ich vielleicht tun sollen«, pflichtete Smiley bei.

»Grüßen Sie Otto von mir«, sagte Herr Kretzschmar.

»Werde ich nicht verfehlen«, versprach Smiley.

Herr Kretzschmar zögerte, und wieder flog über sein Gesicht ein Schatten von Ratlosigkeit.

»Und Sie haben nichts für mich?« wiederholte er. »Keine Papie­re, zum Beispiel?«

»Nein.«

»Schade.«

Als Smiley ging, war Herr Kretzschmar bereits wieder am Tele­fon und nahm weitere spezielle Anliegen entgegen.


Er kehrte in sein Hotel zurück. Er wurde eingelassen von einem betrunkenen Nachtportier, der Smiley Wundersames zu berich­ten wußte über die herrlichen Mädchen, die er ihm aufs Zimmer schicken könnte. Der Klang von Kirchenglocken und das Tuten der Schiffe, das der Wind vom Hafen herüberwehte, weckte ihn auf, wenn er überhaupt geschlafen haben sollte. Doch es gibt Alpträume, die nicht dem Tageslicht weichen, und als er in seinem gemieteten Opel durch die Marschen nach Norden fuhr, lauerten in den Nebelschwaden die gleichen Schreckensbilder, die ihn die ganze Nacht hindurch gepeinigt hatten.

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