5

Mostyn saß in seltsamer Starre da. Er sprach leise. Lacon hatte sich zum Zuhören in eine Ecke verzogen und die Hände wie ein Richter unter der Nase gefaltet. Doch Strickland hatte sich bol­zengerade aufgesetzt und schien, genau wie Mostyn selber es tat, die Worte des Jungen nach Ausrutschern abzupatrouillieren. »Wladimir rief den Circus heute zur Lunchzeit an, Sir«, begann Mostyn, wobei einigermaßen unklar blieb, an welchen »Sir« er sich wandte. »Ich war gerade der Diensthabende im Zwinger und nahm den Anruf entgegen.«

Strickland verbesserte ihn mit unschöner Hast: »Sie meinen, ge­stern. Immer präzise, wenn ich bitten darf.«

»Verzeihung, Sir. Gestern«, sagte Mostyn.

»Passen Sie besser auf«, mahnte Strickland.

Diensthabender im Zwinger sein, erklärte Mostyn, bedeute kaum mehr, als die Mittagslücke füllen und bei Büroschluß Schreibtische und Papierkörbe kontrollieren. Das Personal des Zwinger sei zu unerfahren für den Nachtdienst, und so sehe der Dienstplan nur die Lunchzeit und den Abend vor.

Und Wladimir, wiederholte er, habe zur Lunchzeit angerufen, über die Lebensleitung.

»Lebensleitung?« wiederholte Smiley ratlos. »Ich glaube nicht, daß ich genau weiß, was darunter zu verstehen ist.«

»So heißt unser Kontaksystem mit toten Agenten, Sir«, sagte Mostyn, legte dann die Finger an die Schläfen und flüsterte: »Oh mein Gott.« Er nahm einen neuen Anlauf: »Ich meine, ausge­diente Agenten, die immer noch auf der Unterstützungliste ste­hen, Sir«, sagte Mostyn gequält.

»Er hat also angerufen und Sie haben abgehoben«, sagte Smiley freundlich. »Um wieviel Uhr war das?«

»Genau um ein Uhr fünfzehn, Sir. Der Zwinger sieht aus wie eine Zeitungsredaktion, verstehen Sie. Zwölf Schreibtische und der Hühnerkäfig des Abteilungsleiters am Ende, mit einer Glas­wand zwischen uns und ihm. Die Lebensleitung ist in einem ver­schlossenen Kasten, und normalerweise hat der Abteilungsleiter den Schlüssel dazu. Aber zur Mittagszeit gibt er ihn dem Dienst­hund. Ich habe den Kasten aufgesperrt und dann diese fremdlän­dische Stimme >Hallo< sagen hören.«

»Machen Sie schon weiter, Mostyn«, knurrte Strickland.

»Ich habe auch nur >Hallo< gesagt, Mr. Smiley. Mehr tun wir nicht. Wir nennen keine Nummer. Er sagte: >Hier ist Gregory, ich will Max sprechen. Ich habe etwas sehr Dringendes für ihn. Bitte, holen Sie sofort Max.< Ich fragte ihn routinemäßig, von woher er anrufe, aber er sagte nur, er habe genügend Kleingeld. Wir haben keine Anweisung, ankommende Gespräche zu lokali­sieren, und außerdem würde das ohnehin zu lange dauern. Bei der Lebensleitung ist ein elektrischer Karteikartenwähler mit al­len Decknamen. Ich sagte dem Anrufer, er solle am Apparat bleiben und habe >Gregory< eingetippt. Das tun wir als nächstes, nachdem wir gefragt haben, woher der Anruf komme. Und schon hatte ich die Antwort aus dem Wähler. >Gregory gleich Wladimir, Ex-Agent, Ex-General der Sowjet-Armee, Ex-Füh­rer der Rigagruppe.< Dann das Aktenzeichen. Ich habe >Max< eingetippt und Sie gefunden, Sir.« Smiley nickte kurz. »>Max gleich Smiley.< Dann habe ich >Riga-Gruppe< eingetippt und festgestellt, daß Sie ihr letzter Vikar waren.«

»Ihr Vikar?« sagte Lacon, als habe er eine Häresie entdeckt.

»Smiley ihr letzter Vikar, Mostyn? Was soll nun das schon wie­der -?«

»Ich dachte, Sie hätten von all dem gehört, Oliver«, unterbrach Smiley ihn.

»Nur in Grundzügen«, gab Lacon zurück. »In einer Krisensi­tuation beschränkt man sich auf das Grundsätzliche.«

Ohne Mostyn aus den Augen zu lassen, lieferte Strickland in sei­nem verquetschten Schottisch die gewünschte Erläuterung:

»Organisationen wie diese Gruppe hatten traditionsgemäß zwei Einsatzleiter. Den Postboten, der die Kleinarbeit für sie erledig­te, und den Vikar, der über dem Getümmel stand. Ihre Vaterfi­gur«, sagte er, und nickte flüchtig in Smileys Richtung.

»Und wer war als letzter Postbote der Gruppe eingetragen, Mo­styn?« fragte Smiley, ohne Strickland im mindesten zu beachten. »Esterhase, Sir, Codename Hector.«

»Und der Anrufer hat nicht nach ihm verlangt?« sagte Smiley zu Mostyn, wiederum direkt an Strickland vorbei.

»Wie bitte, Sir?«

»Wladimir hat nicht Hector verlangt? Seinen Postboten? Er hat mich verlangt. Max. Nur Max. Wissen Sie das ganz genau?« »Er verlangte Sie und niemanden sonst, Sir«, erwiderte Mostyn ernst.

»Haben Sie sich Notizen gemacht?«

»Die Lebensleitung liegt automatisch auf Band, Sir. Sie ist au­ßerdem an die Zeitansage angeschlossen, so daß wir auch da ge­naue Angaben bekommen.«

»Verdammt, Mostyn, das ist eine vertrauliche Angelegenheit«, schnappte Strickland. »Mr. Smiley ist zwar ein hervorragendes Ex-Mitglied, aber er gehört nicht mehr zur Familie.«

»Was haben Sie dann als Nächstes getan?« fragte Smiley.

»Die Dienstvorschrift ließ mir sehr wenig Spielraum, Sir«, ant­wortete Mostyn, wobei er wieder, wie Smiley, gezielt an Strick­land vorbeiredete. »Sowohl >Smiley< wie >Esterhase< standen auf der Warteliste, das heißt, sie konnten nur über die fünfte Etage angesprochen werden. Mein Abteilungsleiter war zum Lunch gegangen und wurde nicht vor zwei Uhr fünfzehn zurückerwar­tet.« Er zuckte leicht die Achseln. »Ich habe abgeblockt. Ihm ge­sagt, er solle es um zwei Uhr dreißig nochmals versuchen.«

Smiley wandte sich an Strickland. »Sagten Sie nicht, daß alle Emigranten-Akten gesondert geführt und verwahrt werden?«

»Stimmt.«

»Hätte nicht irgendetwas Diesbezügliches auf der Karte erschei­nen müssen?«

»Hätte schon, hat aber nicht«, sagte Strickland.

»Genau das war der springende Punkt, Sir«, pflichtete Mostyn bei, ausschließlich an Smileys Adresse. »Nichts deutete bei die­sem Stand der Dinge darauf hin, daß Wladimir und seine Gruppe tabu waren. Der Karte nach sah er wie ein x-beliebiger pensio­nierter Agent aus, der Wind machte. Ich nahm an, er wolle ein bißchen Geld oder Gesellschaft oder dergleichen. Wir haben ei­nige von dieser Sorte. Überlaß ihn dem Abteilungsleiter, dachte ich.«

»Keine Namen, Mostyn«, sagte Strickland. »Vergessen Sie das nicht.«

Hier hatte Smiley den Eindruck, daß Mostyn vielleicht mit sei­nem Zögern - seiner Miene, als streiche er bei allem, was er sagte, angewidert um irgendein gefährliches Geheimnis - zu verstehen geben wolle, er decke einen nachlässigen Vorgesetzten. Doch Mostyns nächste Worte widerlegten diesen Eindruck, denn er deutete jetzt sehr wohl an, daß sein Boß einen Fehler begangen habe.

»Die Sache war nur, daß mein Abteilungsleiter erst um drei Uhr fünfzehn vom Lunch zurückkam, und als Wladimir um zwei Uhr dreißig anrief, mußte ich ihn also wieder vertrösten. Er war wütend«, sagte Mostyn. »Wladimir, meine ich. Ich fragte ihn, ob ich inzwischen irgendetwas für ihn tun könne, und er sagte: >Finden Sie Max. Sehen Sie zu, daß Sie Max finden. Sagen Sie Max, ich sei in Verbindung gewesen mit gewissen Freunden, und über Freunde auch mit Nachbarn.< Auf der Karte waren ein paar Anmerkungen zu seinem Wortcode, und ich sah, daß mit Nach­bar der sowjetische Geheimdienst gemeint war.«

Smileys Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren. Die Erregung von vorhin war völlig verschwunden.

»Was Sie alles pflichtgemäß Ihrem Abteilungschef um drei Uhr fünfzehn meldeten?«

»Jawohl, Sir.«

»Spielten Sie ihm das Band vor?«

»Er hatte keine Zeit, es sich anzuhören«, sagte Mostyn gnadenlos. »Er mußte unverzüglich zu einem langen Wochenende auf­brechen.«

Mostyns hartnäckige Bündigkeit war jetzt so ausgeprägt, daß Strickland sich offenbar verpflichtet glaubte, die Lücken zu fül­len.

»Nun ja, wenn wir nach Sündenböcken suchen, George, dann kann man nur sagen, daß der Abteilungsleiter sich bis auf die Knochen blamiert hat, das steht völlig außer Frage«, erklärte Strickland forsch. »Er versäumte es, nach Wladimirs Unterlagen zu schicken - die natürlich nie gekommen wären. Er versäumte es, sich mit der geltenden Regelung über die Behandlung von Emigranten vertraut zu machen. Auch schien er einem schweren Anfall von Wochenend-Fieber erlegen zu sein und nicht hinter­lassen zu haben, wo man ihn im Ernstfall erreichen könne. Gott stehe ihm am Montagmorgen bei, kann ich nur sagen. Weiter im Text, Mostyn, wir warten, mein Junge.«

Mostyn nahm gehorsam den Faden wieder auf. »Wladimir rief zum dritten- und letztenmal um drei Uhr dreiundvierzig an, Sir«, sagte er, wobei er noch langsamer sprach als bisher. »Ei­gentlich war ein Viertel vor vier abgemacht, aber er ging zwei Minuten vor.« Mostyn hatte inzwischen summarische Anwei­sungen von seinem Chef bekommen, die er jetzt für Smiley wie­derholte: »Er nannte es eine Baldrian-Tour. Ich sollte herausfin­den, was der alte Knabe eigentlich wollte, und wenn es gar nicht anders ginge, einen Treff mit ihm ausmachen, damit er Ruhe gebe. Ich sollte ihm einen Drink spendieren, Sir, ihm auf die Schulter klopfen und ihm weiter nichts versprechen, als daß ich seine Botschaft weitervermitteln würde.«

»Und die Nachbarn?« fragte Smiley. »Haben die Ihren Abtei­lungsleiter nicht stutzig gemacht?«

»Er dachte, es sei die übliche Agenten-Angeberei, Sir.«

»Verstehe. Ja, ich verstehe«, sagte Smiley und schüttelte im Wi­derspruch zu dieser Behauptung ratlos den Kopf. »Wie verlief nun Ihr drittes Gespräch mit Wladimir?«

»Laut Wladimir sollte es ein sofortiger Treff sein oder gar nichts, Sir. Ich habe, wie befohlen, alle Alternativen an ihm ausprobiert - >Schreiben Sie uns einen Brief- wollen Sie Geld haben? - hat si­cher Zeit bis Montag< -, aber da hat er mich auch schon niederge­brüllt. >Ein Treff oder gar nichts. Heute abend oder überhaupt nicht. Moskauer Regeln. Betone, Moskauer Regeln. Sagen Sie das Max - <«

Mostyn unterbrach sich, hob den Kopf und gab, ohne mit der Wimper zu zucken, Stricklands feindseliges Glotzen zurück. »Sagen Siewas Max?« sagte Smiley, und sein Blick flog zwischen den beiden hin und her.

»Wir sprachen französisch, Sir. Laut Karte war französisch seine bevorzugte Fremdsprache, und ich bin im Russischen erst An­fänger.«

»Unerheblich«, schnappte Strickland.

»Sagen Sie Max was?« beharrte Smiley.

Mostyns Blick wählte als neuen Fixierpunkt einen Fleck auf dem Fußboden, in ein bis zwei Metern Entfernung von seinen Füßen. »Er meinte: >Sagen Sie Max, unter allen Umständen Moskauer Regeln. <«

Lacon, der sich während der letzten Minuten ganz unnatürlich still verhalten hatte, fiel nun ein: »Hier gilt es, einen wichtigen Punkt klarzumachen: Der Circus war in diesem Fall nicht der Bittsteller. Das war er. Der Ex-Agent. Er hatalles durchdrücken wollen, er hat alles eingefädelt. Hätte er unseren Vorschlag an­genommen und uns seine Information brieflich gegeben, dann hätte nichts von alledem passieren müssen. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, George, ich möchte dies nochmals unmißver­ständlich klarstellen!«

Strickland zündete sich eine neue Zigarette an.

»Moskauer Regeln in Hampstead. Ist ja zum totlachen«, sagte Strickland und wedelte das Streichholz aus. »Tot ist richtig«, sagte Smiley ruhig.

»Mostyn, bringen Sie die Geschichte zu Ende«, befahl Lacon, der dunkelrot anlief.

Sie hatten sich auf einen Zeitpunkt geeinigt, faßte Mostyn hölzern zusammen und starrte jetzt in seine linke Handfläche, als wolle er sich selber wahrsagen. »Zehn Uhr zwanzig, Sir.«

Sie hatten sich auf Moskauer Regeln geeinigt, sagte er, und auf die üblichen Kontaktprozeduren, die Mostyn bereits am frühe­ren Nachmittag anhand des im Zwinger aufliegenden Treff-In­dex zusammengestellt hatte.

»Und was waren die Kontakt-Prozeduren genau?« fragte Smi­ley.

»Ein Bilderbuch-Treff, Sir«, antwortete Mostyn. »Genau, wie wir's im Ausbildungskurs in Sarratt gelernt haben.«

Smiley spürte plötzlich, wie Mostyns unverhüllte Respektsbe­zeigungen ihm lästig wurden. Er wollte nicht der Held dieses Jungen sein, nicht von seiner Stimme, seinen Blicken, seinem »Sir« umworben werden. Er war auf die besitzergreifende Be­wunderung dieses Fremden nicht vorbereitet.

»Auf der Hampstead Heath steht ein Schutzhäuschen, zehn Mi­nuten zu Fuß von der East Heath Road, über einem Spielfeld an der Südseite der Allee, Sir. Das Sicherheitssignal war eine neue Reißzwecke oben im ersten Holzsparren links vom Eingang.«

»Und das Gegensignal?« fragte Smiley.

Doch er kannte die Antwort bereits.

»Ein gelber Kreidestrich«, sagte Mostyn. »Ich vermute, gelb war eine Art Gruppenkennzeichen aus den alten Tagen.« Jetzt ver­riet sein Tonfall, daß es dem Ende zuging. »Ich brachte die Reiß­zwecke an, kam dann nach hierher zurück und wartete. Als er nicht auftauchte, dachte ich, na schön, wenn er den Geheimnis­fimmel hat, dann muß ich eben nochmals zur Hütte und nach seinem Gegensignal schauen, dann wird sich schon herausstel­len, ob er in der Gegend ist und es lieber mit der Ausweich-Lö­sung probieren will.«

»Die worin bestand?«

»Aufgabeln mit einem Auto Nähe Swiss Cottage U-Bahn-Sta­tion um elf Uhr vierzig, Sir. Ich wollte gerade aufbrechen, als Mr. Strickland anrief und mir befahl, ich solle mich bis auf weite­res nicht vom Fleck rühren.« Smiley nahm an, er sei nun am Ende, aber das traf nicht ganz zu. Mostyn, der alle übrigen An­wesenden vergessen zu haben schien, schüttelte langsam den hübschen bleichen Kopf. »Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte er in bedächtigem Staunen. »Er war mein erster Agent, und ich habe ihn nicht einmal zu sehen bekommen. Ich werde nie er­fahren, was er mit erzählen wollte«, sagte er. »Mein erster Agent, und er ist tot. Unglaublich. Ich bin schon ein Unglücks­rabe.« Sein Kopfschütteln hielt noch eine ganze Weile an, nach­dem er zu sprechen aufgehört hatte.

Lacon fügte ein schwungvolles Postscriptum hinzu: »Nun, Scot­land Yard verfügt heutzutage über einen Computer, George. Die Polizeistreife Heath fand die Leiche und sperrte die Gegend ab, und sowie der Name in den Computer eingefüttert worden war, spuckte der eine Menge Bits oder dergleichen Zeugs aus, und sofort wußte man, daß er auf unserer Sonderüberwachungs­liste stand. Von da an lief alles wie am Schnürchen. Der Commis­sioner rief das Innenministerium an, das Innenministerium rief den Circus an - «

»Und Sie riefen mich an«, sagte Smiley. »Warum, Oliver? Von wem ging der Vorschlag aus, mich in dieses Spiel einzubezie­hen?«

»George, ist das wichtig?«

»Enderby?«

»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ja, es war Saul Enderby. George, hören Sie mir zu.«


Endlich war Lacons großer Augenblick gekommen. Das Ziel, was immer es sein mochte, lag vor ihnen, sie hatten es umschrie­ben, wenn auch noch nicht definiert. Mostyn war vergessen. La­con beugte sich zutraulich über Smileys sitzende Gestalt und gab sich ganz als guter alter Freund.

»George, wie die Dinge stehen, kann ich zu den Weisen gehen und sagen: >Ich habe Nachforschungen angestellt, die Hände des Circus sind rein.< Das kann ich sagen. >Der Circus hat weder diese Leute noch ihren Anführer ermutigt. Seit einem Jahr hat er von dort weder Gehalt noch Unterstützung bezogen!< Auf Ehre. Der Circus ist nicht Eigentümer der Wohnung dieses Mannes oder seines Wagens, bezahlt nicht seine Miete, kommt nicht für seine unehelichen Kinder auf, schickt seiner Mätresse keine Blumen, unterhält keine der alten- und beklagenswerten Bezie­hungen mit ihm oder seinesgleichen. Die einzige Verbindung gehört der Vergangenheit an. Seine Einsatzleiter sind endgültig von der Bühne abgetreten. Sie und Esterhase, beide Ehemalige, beide aus dem Spiel. Das kann ich, Hand aufs Herz, sagen. Den Weisen, und wenn nötig, meinem Minister persönlich.«

»Ich komme da nicht mit«, sagte Smiley mit vorsätzlicher Be­griffstutzigkeit. »Wladimir war unser Agent. Er versuchte, uns etwas mitzuteilen.«

»Unser Ex-Agent, George. Woher wollen Sie wissen, daß er uns etwas mitteilen wollte? Er hatte keinen Auftrag von uns. Er sprach von Dringlichkeit - sogar vom sowjetischen Geheim­dienst -, das tun eine Menge Ex-Agenten, wenn sie ihre Mütze für einen Zuschuß hinhalten.«

»Nicht Wladimir«, sagte Smiley.

Aber Sophisterei war Lacons zweite Natur. Er war dafür gebo­ren, er atmete sie, er konnte darin fliegen und schwimmen, nie­mand in Whitehall war darin besser als er.

»George, mankann uns nicht für jeden Ex-Agenten verantwort­lich machen, der unklugerweise einen nächtlichen Spaziergang auf einer von Londons immer gefährlicher werdenden Freiflä­chen unternimmt!« Er streckte die Hände beschwörend aus. »George. Was soll es sein? Wählen Sie. Die Wahl liegt beiIhnen. Entweder, Wladimir bat um ein Plauderstündchen mit Ihnen. Pensionierte Kumpels - ein Schwatz über alte Zeiten -, warum nicht? Und um der Sache in bißchen Pepp zu geben, was ja nur menschlich ist, behauptet er, etwas für Sie zu haben. Ein Gold­körnchen Information. Warum nicht? So machen sie's alle. Auf dieser Basis wird mein Minister uns decken. Keine Köpfe müs­sen rollen, es gibt kein Trara, keine Kabinetts-Hysterie. Er wird uns helfen, den Fall zu begraben. Natürlich kein Vertuschen. Aber er wird seinen Grips bemühen. Wenn ich ihn in der richti­gen Stimmung erwische, könnte er sogar entscheiden, daß kein Anlaß bestehe, die Weisen damit zu belästigen.«

»Amen«, echote Strickland.

»Oder aber«, fuhr Lacon gewichtig fort und bot seine ganze Überredungskunst für den Fangschuß auf, »sollten irgendwel­che Dinge aufgerührt werden, George, und der Minister zu der Annahme gelangen, daß wir seine guten Dienste mißbrauchten, um die Spuren eines nicht abgesegneten verunglückten Abenteu­ers zu verwischen« - er schritt aufs neue aus, umging einen ima­ginären Morast -, »und es kommt zu einem Skandal, George, und der Circus ist nachweislich darin verwickelt - Ihr altes Amt, George, an dem Sie noch immer hängen, da bin ich ganz sicher, gibt sich mit einer notorisch revanchistischen Emigrantengruppe ab - unberechenbaren, schwatzhaften, bis aufs Messer entspan­nungsfeindlichen Elementen - mit allen möglichen anachronisti­schen Komplexen - totales Relikt aus den schlimmsten Tagen des kalten Krieges - Musterbeispiel für alles, wovor unsere Herren und Meister uns gewarnt haben« - er war wieder in seiner Ecke angelangt, ein wenig außerhalb des Lichtkreises -, »und es hat dabei einen Toten gegeben, George, und einen Vertuschungs­versuch, wie sie es zweifellos nennen würden - mit der ganzen dazugehörigen Publicity -, nun, dann könnte es gerade ein Skandal zuviel sein. Das Amt ist immer noch ein schwaches Kind, George, kränklich und in den Händen dieser Leute ver­zweifelt anfällig. In diesem Stadium seiner Wiedergeburt könnte es an einem gemeinen Schnupfen eingehen. Sollte es soweit kommen, dann wäre dafür nicht zuletzt auch Ihre Generation zu tadeln. George, Ihnen ist eine Pflicht auferlegt, wie uns allen. Eine Loyalität.«

Pflicht wozu ? fragte sich jener Teil von Smileys Ich, der manch­mal als Zuschauer den Rest zu beobachten schien. Loyalität wem gegenüber? »Es gibt keine Loyalität ohne Verrat«, beliebte Ann in ihrer Jugend zu ihm zu sagen, wenn er es wagte, gegen ihre Seitensprünge zu protestieren.

Eine Zeitlang sprach niemand.

»Und die Waffe?« fragte Smiley schließlich in einem Ton, als wolle er eine Theorie testen. »Wo bringen Sie die unter, Oliver?« »Was für eine Waffe? Da war keine Waffe. Er wurde erschossen, wahrscheinlich von seinen eigenen Genossen, sind ja dauernd untereinander in Kabalen verstrickt. Ganz zu schweigen von seinem Appetit auf anderer Leute Frauen.«

»Ja, er wurde erschossen«, pflichtete Smiley bei. »Mitten ins Ge­sicht geschossen. Aus nächster Nähe. Mit einem Dumdum-Ge­schoß. Und flüchtig durchsucht. Brieftasche abgenommen. So­weit die Polizeidiagnose. Aber unsere Diagnose würde anders lauten, nicht wahr, Lauder?«

»Keineswegs«, sagte Strickland und glotzte ihn durch eine Wolke von Zigarettenrauch finster an.

»Nun, meine schon.«

»Dann heraus damit, George«, sagte Lacon großmütig.

»Die Waffe, mit der Wladimir getötet wurde, war ein Stan­dard-Mordinstrument aus der Zentrale Moskau«, sagte Smiley. »Versteckt in einer Kamera, in einer Aktenmappe oder wie im­mer. Ein Dumdum-Geschoß wird aus nächster Nähe abgefeu­ert. Um auszulöschen, zu bestrafen und andere einzuschüch­tern. Wenn ich mich recht erinnere, war sogar ein Exemplar in Sarratt ausgestellt, in dem schwarzen Museum neben der Bar.«

»Ist es noch. Ein grauenhaftes Ding«, sagte Mostyn.

Strickland bedachte ihn mit einem giftigen Blick.

»Aber George!« rief Lacon.

Smiley wartete, denn er wußte, daß Lacon in seiner jetzigen Stimmung fähig gewesen wäre, das Vorhandensein von Big Ben abzustreiten.

»Diese Leute - diese Emigranten -, zu denen der arme Kerl ja ge­hörte - kommen sie denn nicht aus Rußland? Hatte nicht die Hälfte von ihnen irgendwann Kontakt mit der Moskauer Zentrale - sei es mit unserem Wissen, sei es ohne ? Eine derartige Waffe- ich sage natürlich nicht, daß Sie recht haben -, eine derartige Waffe könnte in ihrer Welt etwas so Landläufiges sein, wie Käse!«

Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens, dachte Smiley; aber Schiller hatte die Bürokraten vergessen. Lacon wandte sich an Strickland.

»Lauder. Da steht immer noch diese Presseverlautbarung aus.« Es war ein Befehl. »Vielleicht sollten Sie mal nachstochern und sehen, wie weit es damit ist.«

Strickland machte sich gehorsam auf die Socken, tappte durchs Zimmer und wählte eine Nummer.

»Mostyn, vielleicht sollten Sie das alles hier in die Küche brin­gen. Wir müssen ja nicht unbedingt Spuren hinterlassen, nicht wahr?«

Nachdem Mostyn ebenfalls aus dem Weg war, waren Lacon und Smiley plötzlich allein.

»Ein klares Ja oder Nein, George«, sagte Lacon. »Jemand muß den Aufwasch machen, Erklärungen geben, den Geschäftsleu­ten, was weiß ich. Post. Milch. Freunde. Was eben bei solchen Leuten anfällt. Keiner kennt sich da so aus wie Sie. Die Polizei hat versprochen, Ihnen einen Vorsprung zu lassen. Sie wird nichts verschleppen, nur eine gemessene Ordnung bei der Erle­digung der Dinge einhalten und der Routine ihren Lauf lassen.« Mit einem nervösen Sprung näherte Lacon sich Smileys Sessel und hockte sich linkisch auf die Armlehne. »George, Sie waren sein Vikar. Na schön, dann bitte ich Sie jetzt, hinzugehen und die Messe zu lesen. Er wollte Sie, George. Nicht uns. Sie.«

Von seinem Stammplatz am Telefon aus unterbrach ihn Strick­land: »Man braucht eine Unterschrift für diese Presseverlautba­rung, Oliver. Vorzugweise die Ihre, wenn's Ihnen nichts aus­macht.«

»Warum nicht die vom Chef?« fragte Lacon vorsichtig.

»Scheinen anzunehmen, Ihre hätte mehr Gewicht, wenn Sie mich fragen.«

»Sagen Sie, Moment noch«, sagte Lacon und rammte mit wind­mühlenartigem Armschwung eine Faust in die Tasche. »Kann ich Ihnen die Schlüssel geben, George?« Er ließ sie vor Smileys Gesicht baumeln. »Unter bestimmten Bedingungen? Einverstanden?« Die Schlüssel baumelten weiter. Smiley starrte sie an, und vielleicht fragte er »Welche Bedingungen?«, aber vielleicht starrte er auch schweigend; er war nicht eigentlich in der Stim­mung zu palavern. Seine Gedanken waren bei Mostyn und den fehlenden Zigaretten; oder bei Anrufen, Nachbarn betreffend; bei Agenten ohne Gesicht; beim Schlaf. Lacon zählte auf. Er legte größten Wert auf Numerierung seiner Klauseln. »Erstens, daß Sie Privatmann sind. Wladimirs Testamentsvollstrecker, nicht unserer. Zweitens, daß Sie der Vergangenheit angehören, nicht der Gegenwart, und sich entsprechend verhalten. Der keimfreien Vergangenheit. Daß Sie Öl auf die Wogen gießen und sie nicht etwa aufrühren. Daß sie Ihr altes berufliches Interesse an ihm unterdrücken, versteht sich, denn Ihres bedeutet unseres. Kann ich Ihnen zu diesen Bedingungen die Schlüssel geben? Ja? Nein?«

Mostyn stand in der Küchentür. Er wandte sich an Lacon, doch seine ernsten Augen glitten dauernd zu Smiley.

»Was gibt's, Mostyn?« fragte Lacon. »Machen Sie schon!«

»Mir ist gerade eine Eintragung auf Wladimirs Karte eingefallen, Sir. Er hatte eine Frau in Reval. Ich fragte mich, ob sie benach­richtigt werden sollte. Ich dachte nur, ich müßte es erwähnen.« »Die Kartei ist auch hierin ungenau«, sagte Smiley und erwiderte Mostyns Blick. »Seine Frau war bei ihm in Moskau, als er über­lief, sie wurde verhaftet und in ein Arbeitslager gebracht, wo sie starb.«

»Mr. Smiley muß in dieser Angelegenheit das tun, was er für rich­tig hält«, sagte Lacon schnell, um einem weiteren Ausbruch zu­vorzukommen, und ließ die Schlüssel in Smileys passive Hand fal­len. Plötzlich geriet alles in Bewegung. Smiley war auf den Bei­nen, Lacon war bereits halbwegs durchs Zimmer, und Strickland hielt ihm den Hörer hin. Mostyn war in die dunkle Diele ge­schlüpft und hatte Smileys Regenmantel vom Haken genommen. »Was hat Wladimir sonst noch am Telefon zu Ihnen gesagt, Mostyn?« fragte Smiley ruhig und ließ einen Arm in den Ärmel fallen.

»Er sagte: >Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann. Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen. Dann wird er mich vielleicht treffen wollen.< Er sagte es zweimal. Es war auf dem Band, aber Strickland hat es gelöscht.«

»Wissen Sie, was Wladimir damit gemeint hat? Sprechen Sie lei­se.«

»Nein, Sir.«

»Nichts auf der Karte?«

»Nein, Sir.«

»Wissen die anderen, was er meinte?« fragte Smiley und ruckte mit dem Kopf rasch in Richtung Strickland und Lacon.

»Strickland vielleicht, ich bin nicht sicher.«

»Wladimir hat wirklich nicht nach Esterhase gefragt?«

»Nein, Sir.«

Lacon war am Telefon fertig. Strickland nahm ihm den Hörer ab und sprach selber hinein. Als er Smiley an der Tür sah, sprang Lacon quer durchs Zimmer und schüttelte seine Hand wie einen Pumpenschwengel.

»George! Altes Haus! Leben Sie wohl! Hören Sie. Ich möchte mit Ihnen gelegentlich über die Ehe sprechen. Ein Seminar, bei dem alle Griffe erlaubt sind. Ich erwarte von Ihnen eine Aufklä­rung mit allen Schikanen. George!«

»Ja. Wir müssen uns wiedersehen«, sagte Smiley.

Als er an sich herunterblickte, sah er, daß Lacon ihm die Hand schüttelte.


Ein bizarres Nachspiel machte den konspirativen Zweck dieser Zusammenkunft zunichte. Nach den gängigen Zunftregeln des Circus müssen in sicheren Häusern verborgene Mikrophone an­gebracht werden. Die Agenten finden sich in ihrer sonderbaren Art damit ab, auch wenn sie darüber nicht informiert werden, auch wenn ihre Einsatzleiter so tun, als machten sie sich Noti­zen. Für seinen Treff mit Wladimir hatte Mostyn in Erwartung des alten Mannes die Anlage ordnungsgemäß eingeschaltet, und niemandem war es in der darauffolgenden Panik eingefallen, sie wieder abzustellen. Der Routineweg brachte die Bänder zur Ab­teilung Abhörprotokollierung, die in aller Unschuld einige Ex­emplare des ausgeschriebenen Textes in Umlauf gab. Der glück­lose Chef des Zwingers bekam eine Kopie, desgleichen das Se­kretariat, desgleichen die Leiter der Abteilungen Personal, Ein­satz und Finanzen. Erst, als eine Kopie in Lauder Stricklands Einlaufkorb landete, kam es zum Knall, und die unschuldsvollen Empfänger wurden unter allen möglichen fürchterlichen Dro­hungen zur Geheimhaltung vergattert. Das Band ist tadellos. Lacons rastloses Hin- und Hergehen ist darauf, Stricklands halblaute Bemerkungen, einige davon obszöner Natur, sind zu hören. Nur Mostyns in der Diele geflüsterte Geständnisse feh­len.

Was Mostyn selber betrifft, so spielte er in der Angelegenheit weiter keine Rolle mehr. Er reichte einige Monate später von sich aus seine Entlassung ein und erhöhte so die Ausschußrate, über die heutzutage allerseits so bewegte Klage geführt wird.

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