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In der Gegend der Paddington Station gibt es viktorianische Häuserblocks, die außen strahlend weiß sind, wie Luxusdamp­fer, und innen dunkel wie Gräber. Westbourne Terrace glänzte an diesem Samstagmorgen so hell wie nur irgendeines der Ge­bäude, doch die Dienstboten- und Lieferantenanfahrt, die zu Wladimirs Behausung führte, wurde am einen Ende von einem Haufen faulender Matratzen blockiert und am anderen durch ei­nen zersplitterten Schlagbaum, gleich einer Grenzschranke.

»Vielen Dank, ich steige hier aus«, sagte Smiley höflich bei den Matratzen und bezahlte den Taxifahrer.

Er war direkt von Hampstead hierhergekommen, und seine Knie schmerzten. Der griechische Chauffeur hatte ihm während der ganzen Fahrt einen Vortrag über Zypern gehalten, und Smiley hatte sich aus Artigkeit auf den Klappsitz gekniet, um den Aus­führungen trotz des Motorgeräuschs besser folgen zu können. Wladimir, wir hätten dir Besseres zukommen lassen sollen, dachte er beim Anblick des verdreckten Pflasters und der armse­ligen Wäsche, die von den Baikonen hing. Der Circus hätte sei­nem senkrechten Mann mehr Ehre erweisen sollen. Es betrifft den Sandmann, dachte er. Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen.

Er ging langsam, denn er wußte, daß sich der frühe Morgen eher zum Verlassen als zum Betreten von Häusern eignet. An der Bushaltestelle hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Ein Milchmann drehte seine Runde, desgleichen ein Zeitungsjunge. Ein Schwärm landsässiger Möwen säuberte graziös das Umfeld der überquellenden Müllkästen. Wenn die Möwen in die Städte kommen, dachte er, werden dann die Tauben ans Meer ziehen? Als er den Lieferantenweg überquerte, sah er, wie ein Motorradfahrer mit amtlich schwarzer Beiwagen-Maschine seinen Renner hundert Yards entfernt am Randstein parkte. Etwas an der Hal­tung des Mannes erinnerte ihn an den großen Boten, der die Schlüssel in die sichere Wohnung gebracht hatte - ein Eindruck von Verläßlichkeit, selbst auf diese Entfernung; eine respektvol­le, fast militärische Aufmerksamkeit.

Abblätternde Kastanienbäume verdunkelten den Säuleneingang, eine narbenbedeckte Katze äugte argwöhnisch zu Smiley hoch. Die Türklingel war ganz oben, die letzte von dreißig, aber Smi­ley klingelte nicht, und als er gegen die zweiflügelige Tür drück­te, schwang sie widerstandslos auf und gab den Zugang zu den gleichen düsteren, zum Schutz vor Graffiti-Schreibern mit ei­nem Ölanstrich versehenen Korridoren frei, und zu den gleichen mit quietschendem Linoleum belegten Treppen. Er erinnerte sich an alles. Nichts hatte sich geändert, und jetzt würde sich nie mehr etwas ändern. Es gab keinen Lichtschalter, und das Trep­penhaus wurde immer dunkler, je höher er stieg. Warum hatten Wladimirs Mörder ihm die Schlüssel nicht abgenommen? fragte er sich, als er sie bei jedem Schritt gegen seine Hüfte schlagen fühlte. Vielleicht brauchten sie die Schlüssel nicht. Vielleicht hat­ten sie bereits ihren eigenen Satz. Er erreichte ein Podest und zwängte sich an einem luxuriösen Kinderwagen vorbei. Er hörte Hundegeheul, die Morgennachrichten in deutsch und die Was­serspülung aus einem Gemeinschaftsklo. Er hörte ein Kind, das seine Mutter anschrie, dann einen Klatsch, und den Vater, der das Kind anschrie. Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann. Es roch nach Curry und billigem Bratfett und Desinfektionsmit­teln. Es roch nach zu vielen Menschen mit zu wenig Geld, auf zu engem Raum zusammengepfercht. Auch daran erinnerte er sich. Nichts hatte sich geändert.

Wenn wir ihn besser behandelt hätten, wäre es nie passiert, dachte Smiley. Vernachlässigte werden zu leicht umgebracht, dachte er und stellte damit, ohne es zu wissen, eine Parallele zu der Ostrakowa her. Er erinnerte sich an den Tag, als sie ihn hier­her gebracht hatten, Smiley, der Vikar und Esterhase, der Postbote. Sie waren nach Heathrow gefahren, um ihn abzuholen: Toby, der mit allen Wassern gewaschene Kanalarbeiter, wie er sich selbst nannte. Obwohl Toby fuhr wie der Teufel, wären sie damals beinah zu spät gekommen. Das Flugzeug war bereits ge­landet. Sie hasteten zur Zollabfertigung, und da stand er: silber­haarig und majestätisch, reglos wie ein Turm im Getümmel der gewöhnlichen Sterblichen, die auf dem Weg von der Landungs­halle an ihm vorbeiströmten. Er erinnerte sich an ihre feierliche Umarmung - »Max, alter Freund, sind Sie's wirklich?« »Ja, Wladimir, ich bin's wirklich, man hat uns wieder zusammenge­spannt.« Er erinnerte sich, wie Toby Esterhase sie durch die Hintertüren der Einwanderungskontrolle schmuggelte, da die wütende französische Polizei dem alten Knaben, ehe sie ihn hin­auswarf, die Papiere abgenommen hatte. Er erinnerte sich an das Mittagessen selbdritt bei Scott's, als der alte Knabe in seiner Eu­phorie sogar aufs Trinken vergessen und mit Grandezza von ei­ner Zukunft gesprochen hatte, die, wie sie alle wußten, hinter ihm lag. »Es wird wieder genauso sein, wie in Moskau, Max. Vielleicht schnappen wir uns sogar den Sandmann.« Am näch­sten Tag gingen sie auf Wohnungssuche. »Nur um Ihnen ein paar Möglichkeiten zu zeigen, General«, wie Toby Esterhase erklärt hatte. Es war um die Weihnachtszeit, und der Übersiedelungs-­Etat für das laufende Jahr war aufgebraucht. Smiley hatte sich an die Finanzabteilung gewandt; Lacon und das Schatzamt um ei­nen Nachtragshaushalt bekniet, jedoch ohne Erfolg. »Ein Schuß Realität wird ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück­bringen«, hatte Lacon entschieden. »Machen Sie Ihren Einfluß auf ihn geltend, George. Dafür haben wir Sie wieder eingesetzt.« Der erste Schuß Realität war ein Nuttenbunker in Kensington gewesen, der zweite ging auf einen Rangierbahnhof bei der Wa­terloo-Station hinaus. Westbourne Terrace war der dritte, und als sie, mit Toby an der Spitze, dieselbe Treppe hinaufquietsch­ten, die Smiley jetzt erklomm, war der alte Mann plötzlich ste­hengeblieben, hatte den großen gesprenkelten Kopf zurückge­worfen und theatralisch die Nüstern gebläht.

Ab! Wenn ich Hunger kriege, brauche ich nur auf den Korridor hinausgehen und schnuppern, und schon bin ich satt! hatte er in seinem harten Französisch verkündet. So kann ich's eine ganze Woche ohne Essen aushalten!

Jetzt war es selbst Wladimir aufgegangen, daß man ihn endgültig abhalftern wollte.

Smiley kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Auf dem näch­sten Podest beherrschte, wie er bei seinem einsamen Aufstieg feststellte, die Musik das Feld. Durch eine Tür kamen in voller Lautstärke Rockrhythmen, durch die andere Sibelius und der Geruch von gebratenem Speck. Als er durchs Treppenfenster lugte, sah er zwischen den Kastanien zwei Männer herumlun­gern, die bei seiner Ankunft noch nicht dagewesen waren. So würde ein Team vorgehen, dachte er. Ein Team würde Späher aufstellen, während die anderen ins Haus gingen. Ein Team, das fürwen arbeitete? Für Moskau? Für die Polizei? Für Saul Ender­by ? Weiter unten auf der Straße hatte der große Motorradfahrer eine kleinformatige Zeitung gekauft, die er nun im Sattel sitzend las.

Auf Smileys Seite öffnete sich eine Tür, und eine alte Frau im Morgenrock erschien mit einer Katze auf der Schulter. Er konnte die Alkoholfahne von gestern abend riechen, noch ehe die Frau den Mund auftat und ihn fragte:

»Sind Sie ein Einbrecher, Herzchen?«

»Ich muß Sie leider enttäuschen«, erwiderte Smiley lachend.

»Nur ein Besucher.«

»Egal, Hauptsache, man ist gefragt, nicht wahr, Herzchen?«

»Da haben Sie recht«, sagte Smiley höflich.

Die letzte Treppe war steil und sehr eng und erhielt echtes Tages­licht durch eine vergitterte Luke in der Dachschräge. Auf dem obersten Podest waren zwei Türen, beide zu, beide sehr schmal. An eine war eine maschinengeschriebene Karte geheftet: »Mr. W. Miller, ÜBERSETZUNGEN.« Smiley erinnerte sich an das Gerangel um Wladimirs neue Identität, jetzt, da er Londoner werden und auf Tauchstation bleiben sollte. »Miller« war kein Problem gewesen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fand der alte Knabe, Miller sei großartig. »Miller, c'est bien«, hatte er erklärt. »Miller gefällt mir, Max.« Aber »Mister« war alles an­dere als gut. Er bestand zunächst auf General, ließ sich dann bis zum Colonel herab. Smiley, als wiedererstandener Vikar, war indessen in diesem Punkt unnachgiebig: Mister bringe weit we­niger Scherereien, als ein falscher Dienstgrad in der verkehrten Armee, hatte er verfügt.

Er klopfte kräftig, da er wußte, daß ein leises Anklopfen mehr auf­fällt, als ein lautes. Er hörte das Echo, sonst nichts. Kein Geräusch von Schritten, keinen plötzlich verstummenden Laut. Er rief »Wladimir« durch den Briefschlitz, als sei er ein alter Freund, der auf Besuch kommt. Er probierte einen Yale-Schlüssel aus dem Bund; der Schlüssel klemmte. Er probierte einen zweiten. Er paß­te. Smiley trat in die Wohnung und schloß die Tür. Er war auf ei­nen Schlag über den Hinterkopf gefaßt, dachte aber, ein einge­schlagener Schädel sei immer noch besser, als ein weggeschoßenes Gesicht. Er fühlte Schwindel und merkte, daß er den Atem an­hielt. Der gleiche weiße Anstrich, stellte er fest, die gleiche Ge­fängnisöde. Dieselbe merkwürdige Stille, wie in einer Telefonzel­le, und auch dieselbe Mischung von öffentlichen Gerüchen.

Genau an dieser Stelle, so erinnerte sich Smiley, standen wir drei an jenem Nachmittag. Toby und ich wie Hochseeschlepper mit dem alten Schlachtschiff zwischen uns. Das Angebot der Immo­bilienfirma hatte von einem »Penthouse« gesprochen.

»Hoffnungslos«, hatte Toby Esterhase, der wie immer als erster das Wort ergriff, in seinem ungarischen Französisch verkündet und sich bereits wieder zur Tür gewandt, um die Wohnung zu verlassen. »Ich meine, absolut gräßlich. Ich meine, ich hätte sie mir vorher ansehen sollen, ich Idiot«, hatte Toby gesagt, als Wladimir sich immer noch nicht rührte. »General, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Das hier ist wirklich eine Zumutung.« Smiley hatte sich im gleichen Sinn geäußert. Wir können Ihnen etwas Besseres bieten, als das, Wladi. Etwas viel Besseres. Wir dürfen nur nicht locker lassen.

Doch die Augen des alten Mannes hatten auf dem Fenster ver­weilt, so wie jetzt Smileys Augen, auf dem Wald von Kaminen und Giebeln und schrägen Dächern, der jenseits der Brüstung aufschoß. Und plötzlich hatte er eine behandschuhte Pranke auf Smileys Schulter fallen lassen.

»Verwenden Sie Ihr Geld lieber dazu, diese Schweine in Moskau abzuknallen, Max«; hatte er geraten.

Unter Tränen, die ihm die Wangen hinabrannen, und mit dem gleichen entschlossenen Lächeln hatte Wladimir weiter auf die Moskauer Kamine gestarrt; und auf den schwindenden Traum von einem Leben unter russischem Himmel.

»On reste ici«, hatte er schließlich befohlen, so, als beziehe er eine letzte Verteidigungsstellung.

Eine schmale Bettcouch stand an einer Wand, auf dem Fenster­brett ein Gaskocher. Der Geruch nach Gipsmörtel weckte in Smiley die Vermutung, daß der alte Mann die Wohnung ständig selbst getüncht, die feuchten Stellen übermalt und die Risse ver­spachtelt hatte. Auf einem Schreib- und Eßtisch waren eine ur­alte Remington und ein paar abgegriffene Wörterbücher. Seine Übersetzungsarbeit, dachte Smiley, ein paar Extra-Pennies zur Aufbesserung seiner »Rente«. Smiley drückte die Ellbogen nach hinten, als schmerze ihn das Rückgrat, richtete sich zu seiner ganzen, wenn auch nicht stolzen Größe auf und machte sich an den Vollzug der vertrauten Totenriten für heimgegangene Spio­ne. Eine estnische Bibel lag auf dem Nachtkästchen aus Fichten­holz. Er tastete das Buch behutsam nach Hohlräumen ab, hielt es dann mit der Schnittseite nach unten, um Papierschnitzel oder Fotos herauszuschütteln. Er zog die Kommodenschublade auf und fand darin ein Flaschen mit Patentpillen zur Neubelebung der schwindenden Manneskraft und drei auf einer Chromspange aufgezogene Tapferkeitsorden der Roten Armee. Soviel zur Tarnung, dachte Smiley und fragte sich, wie um alles in der Welt Wladimir und seine zahlreichen Gespielinnen auf diesem kärgli­chen Lager zurechtgekommen sein mochten. Ein Lutherbild hing über dem Kopfende der Bettcouch. Daneben ein Farbdruck, betitelt »Die roten Dächer von Alt-Riga«, den Wladimir wohl irgendwo herausgerissen und auf ein Stück Pappe geklebt hatte. Eine weitere Ansicht zeigte »Die Kazari-Küste«, eine dritte »Windmühlen mit Burgruine«. Smiley suchte die Wand hinter den Bildern ab. Dann fiel sein Blick auf die Nachttisch­lampe. Er drückte auf den Knopf, und als kein Licht anging, zog er den Stecker heraus, entfernte die Glühbirne und fischte im Sockel herum, ohne Erfolg. Bloß die Birne ausgebrannt, dachte er. Ein jäher Schrei von draußen ließ ihn an die Wand zurück­weichen, doch als er sich wieder gefaßt hatte, sah er, daß es wie­der diese Binnenmöwen waren: eine ganze Kolonie hatte sich rings um die Kaminhauben geschart. Wieder spähte er hinunter auf die Straße. Die beiden Eckensteher waren verschwunden. Sie sind schon unterwegs zu mir herauf, dachte er; mein Vorsprung ist abgelaufen. Es sind gar keine Polizisten, dachte er; es sind Mörder. Das Motorrad mit seinem schwarzen Beiwagen stand einsam und verlassen. Er schloß das Fenster und sinnierte, ob es wohl ein Spezial-Walhall für tote Spione gebe, wo er und Wla­dimir einander wiedersehen würden und er die Dinge richtigstel­len könnte; er sagte sich, daß sein Leben lange genug gewährt habe und daß dieser Augenblick so gut wie jeder andere sei, ihm ein Ende zu setzen. Ohne auch nur eine Sekunde daran zu glau­ben.

Die Tischlade enthielt leeres Schreibpapier, einen Heftapparat, einen angenagten Bleistift, ein paar Gummiringe und eine un­längst ausgestellte, nicht bezahlte Telefonrechnung über acht­undsiebzig Pfund, eine Summe, die ihm mit Wladimirs einfacher Lebensweise in krassem Widerspruch zu stehen schien. Er öff­nete den Heftapparat und fand nichts. Er steckte die Telefon­rechnung zu späterer Prüfung in die Tasche und suchte weiter, wobei er genau wußte, daß dies eigentlich keine richtige Durch­suchung war, daß zu einer richtigen Durchsuchung drei Männer mehrere Tage gebraucht hätten, ehe sie mit Sicherheit hätten sa­gen können, es sei alles gefunden worden, was zu finden war. Wenn er überhaupt nach etwas Bestimmtem Ausschau hielt, dann am ehesten nach einem Adressen- oder Tagebuch oder et­was, das dem einen oder anderen Zweck hatte dienen können, und wäre es auch nur ein Fetzchen Papier. Er wußte, daß alte Spione, selbst die besten, manchmal wie alte Liebhaber waren: Wenn sie in die Jahre kamen fingen sie an zu mogeln, aus Angst, ihre Fähigkeiten könnten sie im Stich lassen. Sie behaupteten, al­les im Kopf zu haben, aber so, wie sie insgeheim ihrer Männlich­keit nachhalfen, so schrieben sie insgeheim Dinge auf, oft in ei­nem selbstgebastelten Code, den jeder, der die Spielregeln kann­te, innerhalb von Stunden oder Minuten knacken konnte: Na­men und Adressen von Kontakten, Unteragenten. Nichts war ihnen heilig. Prozeduren, Treffzeiten und -orte, Decknamen, Telefonnummern, sogar Safekombinationen, als Sozialversiche­rungsnummern und Geburtsdaten getarnt. Zu seiner Zeit hatte Smiley erlebt, daß ganze Netze gefährdet wurden, nur, weil ein Agent seinem Gedächtnis nicht mehr traute. Er glaubte nicht, daß dies bei Wladimir der Fall gewesen war, aber es gab immer ein Erstesmal.

Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbrin­gen ...

Er stand an der Stelle, die der alte Mann seine Küche genannt ha­ben würde: am Fenstersims mit dem Gaskocher darauf und dem selbstgebastelten Vorratskästchen, in das Luftlöcher gebohrt waren. Wir Männer, die unsere Kocherei selber besorgen müs­sen, sind Halb-Menschen, dachte er, als er die zwei Regale mu­sterte, den Topf und die Bratpfanne herauszog, zwischen Cay­enne-Pfeffer und Paprika herumstocherte. Überall sonst im Haus - sogar im Bett - kann man sich einigeln, seine Bücher le­sen, sich einreden, daß der Mensch am besten allein sei. Doch in der Küche sind die Zeichen der Unvoilständigkeit zu augenfällig. Ein halber Laib Schwarzbrot. Eine halbe Mettwurst. Eine halbe Zwiebel. Eine halbe Flasche Milch. Eine halbe Zitrone. Ein hal­bes Päckchen schwarzer Tee. Ein halbes Leben. Er öffnete alles, was sich öffnen ließ, grub mit einem Finger im Paprika. Er ent­deckte eine lose Kachel und krallte sie heraus, er schraubte den Holzgriff der Bratpfanne ab. Als er den Kleiderschrank aufma­chen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne, als lausche er wieder, doch diesmal hatte er etwas gesehen, nicht gehört.

Auf dem Vorratsschränkchen lag eine Stange Gauloises Caporal, Wladimirs Lieblingszigaretten, wenn er keine russischen kriegen konnte. Er las die verschiedenen Aufdrucke. »Duty Free«, »Filt­re«, ferner »Exportation« und »Made in France«. In einer Zello­phanhülle. Er nahm sie herunter. Von den ursprünglichen zehn Päckchen fehlte eines. Im Aschenbecher drei ausgedrückte Stummel derselben Marke. Er schnüffelte, und jetzt erst ge­wahrte er, neben dem Geruch nach Essen und Gipsmörtel, ganz schwach das Aroma französischer Zigaretten in der Luft.

Und keine Zigaretten in der Tasche, erinnerte er sich.

Smiley hielt die blaue Packung in beiden Händen, drehte sie langsam und versuchte, hinter ihren tieferen Sinn zu kommen. Sein Instinkt - besser gesagt, eine noch unterschwellige Wahr­nehmung - signalisierte ihm eindringlich, daß an diesen Zigaret­ten irgendetwas faul war. Nicht das Äußere. Nicht die Füllung, kein Mikrofilm oder Sprengstoff oder Dumdum-Geschoße oder ähnlich abgedroschenes Zeug.

Nur die Tatsache, daß sie hier waren, hier und nirgendwo an­ders, war faul.

So neu, so staubfrei, ein fehlendes Päckchen, drei Zigaretten ge­raucht.

Und keine Zigaretten in der Tasche.

Er arbeitete jetzt rascher, wollte möglichst schnell weg. Die Wohnung lag zu hoch oben. Sie war zu leer und zu voll. Er hatte immer mehr das Gefühl, daß irgendetwas nicht stimmte. Warum hatten sie die Schlüssel nicht genommen? Smiley öffnete den Schrank. Er enthielt Kleidung und Schriften, doch Wladimir be­saß von beiden nicht sehr viel. Die Schriften waren meist hekto­graphierte Pamphlete in Russisch und Englisch oder in etwas, das Smiley für eine der baltischen Sprachen hielt. Da war ein Ordner mit Briefen aus dem alten Pariser Hauptquartier der Gruppe und eine Anzahl Plakate mit Aufschriften wie »DENKT AN LETTLAND«, »DENKT AN ESTLAND«, »DENKT AN LITAUEN«, vermutlich zum Aushang bei öffentlichen Veranstaltungen. Da war eine Schachtel Schulkreide, gelb, aus der zwei Stücke fehlten. Und Wladimirs heißgeliebtes Norfolk-Jackett, vom Haken auf den Boden gefallen. Vielleicht herunter­gerutscht, als Wladimir die Schranktür ein bißchen zu hastig ge­schlossen hatte.

Wladimir, der so eitel war? dachte Smiley. So militärisch in sei­ner Erscheinung? Und sein bestes Jackett liegt zusammenge­knüllt auf dem Schrankboden? Oder hatte eine achtlosere Hand als die Wladimirs es nicht wieder über den Bügel gehängt?

Smiley hob das Jackett auf, durchsuchte die Taschen, hing es dann wieder in den Schrank zurück und schlug die Tür zu, um zu sehen, ob es herunterfallen würde.

Was es tat.

Sie haben die Schlüssel nicht genommen, und sie haben seine Wohnung nicht durchsucht, dachte er. Sie haben Wladimir durchsucht, wurden jedoch, nach Meinung des Superintendent, dabei gestört.

Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen. Er ging wieder ins Küchenrevier zurück, stellte sich vor das Schränkchen und betrachtete nochmals eingehend die blaue Pak­kung, die obenauf lag. Dann schaute er in den Papierkorb. Wie­derum nachdenklich auf den Aschenbecher. Dann in den Ab­falleimer, ob das fehlende Päckchen vielleicht zerknüllt darin lie­ge. Er fand nichts, und aus irgendeinem Grund freute er sich darüber.

Zeit zu gehen.

Aber er ging nicht, noch nicht. Eine weitere Viertelstunde grub und stocherte Smiley herum, wobei er mit einem Ohr auf ver­dächtige Geräusche lauschte. Er hob Dinge auf und stellte sie wieder zurück, immer noch auf der Suche nach dem losen Die­lenbrett oder der klassischen Nische hinter den Regalen. Aber diesmal wollte er nichts finden. Diesmal wollte er nur ein Nicht­vorhandensein feststellen. Erst als er sich soweit überzeugt hatte, wie die Umstände dies zuließen, trat er endlich leise auf den Treppenabsatz hinaus und versperrte hinter sich die Tür. Auf dem Podest der nächsten Etage begegnete er einem Aushilfs­briefträger mit Armbinde, der aus einem anderen Korridor auf­getaucht war. Smiley tippte ihn am Ellbogen an.

»Wenn Sie irgendetwas für Wohnung 6 B haben, dann kann ich Ihnen den Aufstieg ersparen«, sagte er bescheiden.

Der Briefträger kramte in seiner Tasche und brachte einen brau­nen Umschlag zum Vorschein. Abgestempelt in Paris vor fünf Tagen, im fünfzehnten Arrondissement. Smiley steckte ihn ein. Noch ein Stockwerk weiter unten würde eine Tür zur Feuer­treppe führen, die mit einem Riegel gesichert und nur von innen zu öffnen war. Smiley hatte sich das beim Hinaufsteigen im Geist notiert. Er drückte, die Tür gab nach, er klomm eine ekelhafte Betontreppe hinab und ging durch einen Innenhof auf eine men­schenleere Hintergasse hinaus, wobei er noch immer über die Unterlassung nachgrübelte. Warum hatten sie seine Wohnung nicht durchsucht? Die Moskauer Zentrale hatte, wie jeder andere bürokratische Apparat, feste Prozeduren. Man beschließt, einen Mann zu töten. Also stellt man Posten vor seinem Haus sowie auf seinem Weg auf und setzt dann das Mörderteam an, tötet ihn. Die klassische Methode. Warum also nicht auch seine Wohnung durchsuchen? - Wladimir, ein Junggeselle, der in einem Haus wohnte, wo dauernd Fremde aus- und eingingen? Warum nicht die Posten heraufschicken, sobald er sich auf den Weg gemacht hatte? Weil sie wußten, daß er es bei sich hatte, dachte Smiley. Und die Durchsuchung des Toten, die der Superintendent als flüchtig bezeichnet hatte? Angenommen, sie waren nicht gestört worden, sondern hatten bereits gefunden, was sie suchten?

Er rief ein Taxi und sagte zum Fahrer: »Bywater Street in Chel­sea bitte, an der King's Road.«

Nach Hause, dachte er. Ein Bad nehmen, die Sache durchden­ken. Rasieren. Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen.

Plötzlich beugte er sich vor, klopfte an die Trennscheibe und nannte ein neues Ziel. Als sie wendeten, hielt der Motorradfah­rer kreischend hinter ihnen an, stieg ab und schob seine mächtige schwarze Maschine samt Beiwagen gemessen auf die Gegenspur. Ein Herrschaftsdiener, dachte Smiley, der ihm zusah. Ein Herr­schaftsdiener, der den Teewagen hereinrollt. Mit durchgedrück­tem Kreuz und ausgestellten Ellbogen folgte er ihnen wie eine of­fizielle Eskorte durch die Außenviertel von Camden, dann, im­mer noch in vorschriftsmäßigem Abstand, langsam hügelan. Das Taxi hielt, Smiley beugte sich vor, um den Fahrpreis zu entrich­ten. In diesem Augenblick zog die dunkle Gestalt feierlich an ih­nen vorbei, die ledergepanzerte Faust salutierend aus dem Ellbo­gen hochgewinkelt.

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