23

Die Bahnfahrt nach Thun dauerte eine halbe Stunde, und vom Bahnhof aus unternahm Smiley einen Schaufensterbummel, wo­bei er kleine Umwege machte. Manche Burschen kriegen's mit der Heldenhaftigkeit und wollen plötzlich dringend für ihr Va­terland sterben, dachte er ... Bei Erpressung schalten manche Leute auf stur. Er fragte sich, worauf er schalten würde.

Es war ein Tag, an dem alles in düstere Leere getaucht war. Die wenigen Fußgänger glitten wie langsame Schatten durch den Nebel, und die Seedampfer lagen in ihren Fahrrinnen eingefro­ren. Gelegentlich teilte sich die Leere zu einem Durchblick auf eine Burg, einen Baum, ein Stück Stadtmauer. Und schloß sich dann schnell wieder. Schnee lag auf dem Kopfsteinpflaster und im Geäst der Kugelbäume. Die wenigen Autos fuhren mit ange­schalteten Scheinwerfern, ihre Reifen knirschten auf dem Matsch. Die einzigen Farben waren in den Auslagen: goldene Uhren, Skianzüge wie Nationalflaggen. »Kommen Sie frühe­stens um elf,« hatte Toby gesagt. »Selbst elf ist noch zu früh, Ge­orge, sie kommen nicht vor zwölf.« Es war erst zehn Uhr drei­ßig, aber er brauchte die Zeit, er wollte kreisen, bevor er sich niederließ, Zeit, wie Enderby sagen würde, um die Strecke aus­zulegen. Er ging in eine enge Gasse hinein und sah das Schloß di­rekt über sich aufragen. Die Arkade wurde zu einem Gehsteig, dann zu einer Treppe, dann zu einem steilen Abhang, den er hin­aufstieg. Er ging an einem English Tea-Room, einer American-Bar, einem Oasis Night-Club vorbei, alle bebindestricht, alle neonbeleuchtet, alle eine keimfreie Kopie eines verlorenen Ori­ginals. Er kam auf einen Platz und sah die Bank, diejenige wel­che, und direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite das kleine Hotel, genau wie Toby es beschrieben hatte, mit seinem Cafe-Restaurant im Erdgeschoß und den Gästezimmern dar­über. Er sah das gelbe Postauto, das kühn unter einem Parkver­botsschild abgestellt war, und er wußte, daß es sich um Tobys statischen Posten handelte. Toby hatte sein Leben lang an Post­autos geglaubt, er stahl sie, wo immer er sich befand, behauptete, daß niemand sie wahrnehme oder sich an sie erinnern könne. Er hatte neue Nummernschilder angebracht, aber sie sahen älter aus, als der Wagen. Smiley ging über den Platz. Ein Anschlag an der Bank besagte: Geöffnet Montag bis Donnerstag von 7 Uhr 45 bis 17 Uhr, Freitag von 7 Uhr 45 bis 18 Uhr 15.

»Grigoriew bevorzugt die Mittagszeit, weil in Thun niemand seine Essenspause für einen Gang auf die Bank verschwenden würde,« hatte Toby erklärt. »Er verwechselt ganz einfach Ruhe mit Sicherheit, George. Leere Räume, volle Aufmerksamkeit, Grigoriew verhält sich so auffällig, daß es schon peinlich ist, George.« Er ging über eine Fußgängerbrücke. Es war zehn vor elf. Er überquerte die Straße und hielt auf das kleine Hotel zu, das freie Sicht auf Grigoriews Bank gewährte. Spannung in ei­nem Vakum, dachte er, und lauschte auf das Stapfen seiner Füße und auf das Gurgeln des Wassers aus den Regentraufen; die Saison war zu Ende, und die Stadt lebte außerhalb der Zeit. Ver­brennen, George, ist immer Glückssache, Wie würde Karla es machen? fragte er sich. Was würde der Absolutist anders machen als wir? Smiley fiel nichts ein, er kam zu keiner eindeutigen Schlußfolgerung. Karla würde die operativen Informationen sammeln, dachte er, und dann auf gut Glück vorgehen. Er öff­nete die Tür des Cafes, und die warme Luft schlug ihm entgegen. Er ging auf einen Fenstertisch zu, den ein Schild als >Reserviert< auswies. »Ich warte auf Herrn Jakobi«, sagte er zu der Kellnerin. Sie nickte mißbilligend und schaute an ihm vorbei. Ihr Gesicht war blaß und völlig ausdruckslos. Er bestellte einen café crême im Glas, aber sie sagte, wenn er im Glas serviert werde, müsse er einen Schnaps dazunehmen.

»Dann in der Tasse«, kapitulierte er.

Warum hatte er ihn zuerst im Glas verlangt?

Spannung in einem Vakuum, dachte er wieder und sah sich um. Das Cafe war in neuantikem Stil eingerichtet. Gekreuzte Pla­stiklanzen hingen an Stuckpfeilern. Verborgene Lautsprecher spielten nichtssagende Musik, die Stücke wurden von einer dis­kreten Stimme in jeweils einer anderen Sprache angekündigt. In einer Ecke spielten vier Männer schweigend Karten. Er schaute zum Fenster hinaus auf den leeren Platz. Ein Junge fuhr auf ei­nem Rad vorbei. Er trug eine rote Wollmütze, und die Mütze bewegte sich die Straße hinunter wie eine Fackel, bis der Nebel sie auslöschte. Der Bankeingang bestand aus einer Doppeltür mit einer elektronischen Lichtschranke. Er sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Eine Registrierkasse klingelte. Eine Kaffeema­schine zischte. Einer der Kartenspieler war am Mischen. An den Wänden hingen Holzplatten: tanzende Paare in Nationaltracht. Die Lampen waren aus Schmiedeeisen, doch das Licht kam von kreisförmig an der Decke angebrachten Neonröhren, und es war sehr grell. Er dachte an Hongkong mit seinen bayerischen Bier­kellern im fünfzehnten Stock, und wie damals hatte er das Ge­fühl, auf Erklärungen zu warten, die nie kommen würden. Und dabei geht es heute nur um die Vorbereitung, dachte er: Heute findet nicht einmal der Anstoß statt. Er schaute wieder auf die Bank. Niemand ging hinein, niemand kam heraus. Ihm war, als habe er sein ganzes Leben auf etwas gewartet, das er nicht mehr definieren konnte: Vielleicht könnte man es Entschluß nennen. Er erinnerte sich an Ann und an ihren letzten Spaziergang. Ent­schluß im Vakuum. Er hörte einen Stuhl knarzen, sah die Hand, die Toby ihm nach Schweizer Art zum Schütteln hinhielt, und Tobys strahlendes Gesicht, das glänzte, als komme er von einem Waldlauf.

»Die Grigoriews haben das Haus in Elfenau vor fünf Minuten verlassen«, sagte er ruhig. »Die Grigoriewa fährt. Wahrschein­lich kommen sie sowieso unterwegs um.«

»Und die Fahrräder?« fragte Smiley besorgt.

»Wie immer«, sagte Toby und zog einen Stuhl heran.

»Ist sie letzte Woche gefahren?«

»Auch die vorletzte. Sie besteht darauf. George, dieses Weib ist wirklich ein Monstrum.« Die Kellnerin brachte ihm ungefragt einen Kaffee. »Letzte Woche hat sie Grigoriew förmlich aus dem Fahrersitz gehievt und hat dann den Wagen gegen den Torpfo­sten gefahren und den Kotflügel verbeult. Pauli und Canada Bill haben so gelacht, daß wir glaubten, es würde die Flüsterer zer­reißen.« Er legte Smiley freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Hören Sie, es wird ein hübscher Tag werden. Glauben Sie mir. Hübsches Licht, hübsche Ausstattung, Sie müssen sich nur zurücklehnen und die Schau genießen.«

Ein Telefon läutete, und die Kellnerin rief: >Herr Jakobi.< Toby ging beschwingt zur Theke. Sie reichte ihm den Hörer und errö­tete über irgendetwas, was er ihr zuflüsterte. Von der Küche her kam der Chef mit seinem kleinen Sohn: >Herr Jakobi!< Die Chrysanthemen auf Smileys Tisch waren aus Plastik, aber irgend jemand hatte Wasser in die Vase getan.

»Ciao«, rief Toby angeregt in das Telefon und kam zurück. »Alle sind auf ihrem Posten, alle sind glücklich«, verkündete er zufrieden. »Essen Sie doch was. Amüsieren Sie sich, George. Wir sind doch schließlich in der Schweiz.«

Toby trat fröhlich auf die Straße. Genießen Sie die Schau, dachte Smiley. Genau. Ich hab' sie geschrieben, Toby hat sie inszeniert, und alles, was ich jetzt tun kann, ist mich zurücklehnen und zu­schauen. Nein, dachte er und korrigierte sich: Karla hat sie ge­schrieben, und manchmal machte ihm das ganz gehörig zu schaf­fen.

Zwei Mädchen in Camperinnen-Aufmachung gingen durch die Doppeltür der Bank, auf dem Fuße gefolgt von Toby. Er packt die Bank voll, dachte Smiley. Er beschickt jeden Schalter mit zwei Leuten. Nach Toby ein junges Paar, Arm in Arm, dann eine stämmige Frau mit zwei Einkaufstaschen. Das gelbe Post­auto hatte sich nicht vom Fleck gerührt: Niemand vergreift sich an einem Postwagen. Er bemerkte eine öffentliche Telefonzelle und darin zwei zusammengekuschelte Gestalten, die sich viel­leicht wegen des Regens untergestellt hatten. Zwei sind unauffälliger als einer, predigte man immer in Sarratt, und drei sind un­auffälliger als ein Paar. Ein leerer Ausflugsbus fuhr vorbei. Eine Glocke schlug zwölf, und wie auf ein Stichwort schlitterte ein schwarzer Mercedes aus dem Nebel heraus, dessen eingelassene Scheinwerfer einen glitzernden Strahl auf das Kopfsteinpflaster warfen. Der Wagen bumste gegen den Rinnstein und kam vor der Bank, sechs Fuß vor Tobys Postauto, zum Stehen. Alle Nummern der sowjetischen Botschaftswagen enden auf 73, hatte Toby gesagt. Sie setzt ihn ab und fährt dann ein paarmal um den Block, bis er wieder herauskommt, hatte Toby gesagt. Doch heute bei dem scheußlichen Wetter hatten die Grigoriews an­scheinend beschlossen, den Parkgesetzen und auch Karlas Ge­setzen ein Schnippchen zu schlagen und sich darauf zu verlassen, daß ihr CD-Schild sie vor Unannehmlichkeiten bewahren wür­de. Die Tür an der Mitfahrerseite ging auf, und ein untersetzter, dunkelgekleideter und bebrillter Mann eilte, mit einer Akten­mappe in der Hand, geschäftig zum Bankeingang. Smiley hatte gerade Zeit genug, das dichte, graue Haar und die randlose Brille zu registrieren, die er auf den Fotos gesehen hatte, bevor ein Lastwagen ihm die Sicht verstellte. Als der Laster wieder weiter­fuhr, war Grigoriew verschwunden, doch dafür hatte Smiley jetzt die massige Grigoriewa mit ihrem roten Haar im Visier, die mit verbiesterter Fahrschülermiene hinter dem Steuer saß. George, glauben Sie mir, das ist ein äußerst krasses Weib. Als er sie jetzt sah, die ausgeprägten Kinnbacken, den finsteren Blick, teilte Smiley, wenn auch nur vorsichtig, zum erstenmal Tobys Optimismus. Wenn Furcht die Hauptvoraussetzung für erfolg­reiches Verbrennen war, dann berechtigte die Grigoriewa zu den schönsten Hoffnungen. Sie war wirklich zum Fürchten.

Vor Smileys geistigem Auge spielte sich nun die Szene ab, genau wie er und Toby sie geplant hatten. Die Bank war klein, ein Team von sieben Leuten konnte sie überfluten. Toby hatte für sich selbst ein Privatkonto eröffnet. Herr Jakobi, ein paar tau­send Franken. Toby würde sich einen Schalter vornehmen und ihn mit kleinen Transaktionen beschäftigen. Die Devisenstelle war auch kein Problem. Zwei von Tobys Leuten konnten sie mit einer weit gefächerten Palette von Währungen, einige Minu­ten lang auf Trab halten. Er konnte sich Tobys lärmende Heiter­keit vorstellen, die Grigoriew zwang, die Stimme zu heben, um sich verständlich zu machen. Er stellte sich die beiden Campe­rinnen vor, wie sie ihre Doppelnummer abzogen, ein Rucksack, der nachlässig vor Grigoriews Füße plumste und alles aufnahm, was er zu dem Kassierer sagte; und die verborgenen Kameras, die aus Umhängetaschen knipsten, aus Rucksäcken, Mappen, Bettsäcken oder wo sonst immer sie untergebracht waren. »Es ist wie bei einem Erschießungskommando, George«, erklärte Toby, als Smiley sich wegen des Klickens der Verschlüsse be­sorgt zeigte. »Jeder hört das Geräusch, mit Ausnahme des Op­fers.«

Die Banktüren glitten auf. Zwei Geschäftsleute kamen heraus, ordneten ihre Regenmäntel, als seien sie auf der Toilette gewe­sen. Die stämmige Frau mit den beiden Einkaufstaschen folgte ihnen, und dann kam Toby, der lebhaft mit den Camperinnen plauderte. Schließlich erschien Grigoriew. Selbstvergessen hop­ste er in den schwarzen Mercedes und drückte seiner Frau einen Kuß auf die Wange, bevor sie den Kopf wegdrehen konnte. Smi­ley sah, wie ihr Mund sich tadelnd verzog und bemerkte Grigo­riews versöhnliches Lächeln, als er antwortete. Ja, dachte Smi­ley, da ist sicher etwas, weswegen er sich schuldig fühlt; ja, dachte er und erinnerte sich an das Faible der Observanten für ihn. Ja, ich verstehe auch das. Die Grigoriews fuhren nicht weg, noch nicht. Kaum hatte Grigoriew die Tür hinter sich geschlos­sen, als eine große Frau in einem grünen Lodenmantel, die Smi­ley vage bekannt vorkam, sich dem Wagen näherte, grimmig an das Fenster des Beifahrers klopfte und anscheinend eine gehar­nischte Rede über das verwerfliche Verhalten von Parksündern losließ. Grigoriew war verlegen, doch die Grigoriewa lehnte sich über ihn hinweg und belferte zum Fenster hinaus - Smiley hörte sogar das Wort >Diplomat< in schwerfälligem Deutsch durch den Verkehrslärm herüberschallen -, aber die Frau blieb stehen, wo sie war, mit der Handtasche unter dem Arm und schimpfte ihnen nach, als sie wegfuhren. Sie hat sie im Wagen aufgenommen, mit dem Bankeingang im Hintergrund, dachte er. Heutzutage kann man durch winzige Löcher fotografieren; ein halbes Dutzend nadelstrichfeine Öffnungen, und die Linse kann tadellos sehen. Toby war wieder zurückgekommen und hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt. Er hatte sich ein Zigarillo angezündet. Smiley konnte spüren, daß er zitterte, wie ein Hund nach der Jagd. »Grigoriew hat seine üblichen zehntausend abgehoben«, sagte er. Sein Englisch war ein bißchen hastig geworden. »Genau wie letzte Woche, genau wie vorletzte Woche. Wir haben sie, George, die ganze Szene. Die Jungens sind überglücklich, die Mädchen auch. George, wirklich, sie sind phantastisch. Das Be­ste vom Besten. Ich hatte noch nie so gute. Was halten Sie von ihm?«

Eine scharfe männliche Stimme unterbrach ihn. »Herr Jakobi!« Aber es war nur der Küchenchef, der Toby mit einem Schnaps­glas zuprostete.

In seiner Überraschung über die Frage lachte Smiley doch tat­sächlich auf.

»Er steht sicher unter dem Pantoffel«, meinte er.

»Und ein netter Bursche, wissen Sie? Vernünftig. Er wird sicher auch vernünftig reagieren. Das ist meine Ansicht, George. Und auch die der Jungens.«

»Wohin fahren die Grigoriews von hier aus?«

»Zum Mittagessen am Bahnhofsbuffet, erster Klasse. Die Grigo­riewa nimmt Schweinekotelett mit Chips, Grigoriew ein Steak und ein Glas Bier. Vielleicht genehmigen sie sich auch ein paar Wodkas.«

»Und was tun sie nach dem Mittagessen?«

Toby nickte heftig, als bedürfe die Frage keiner Klärung.

»Natürlich«, sagte er. »Genau das. George, nur Mut. Der Bur­sche wird gefügig sein, glauben Sie mir. Sie haben nie eine derar­tige Frau gehabt. Und Natascha ist ein süßes Kind.« Er senkte die Stimme. »Karla ist sein Nährvater. So einfach ist das. Aber die einfachen Dinge verstehen Sie nicht immer, George. Glauben Sie, die Grigoriewa wird zulassen, daß er die neue Wohnung aufgibt? Den Mercedes?«


Alexandras allwöchentlicher Besuch kam, wie immer, pünkt­lich, wie immer um dieselbe Zeit, am Freitag nach der Mittags­ruhe. Gegessen wurde um ein Uhr, und freitags gab es kalten Braten, Rösti und Apfelkompott oder vielleicht Pflaumen, je nach der Jahreszeit, aber sie konnte nichts essen, und manchmal würgte sie so lange, bis sie sich übergab, oder sie rannte auf die Toilette oder rief Felicitas-Felicitas und beklagte sich in den ge­meinsten Ausdrücken über die Qualität der Mahlzeiten. Die Oberin zeigte sich immer sehr betroffen darüber. Das Heim war stolz darauf, das Obst aus eigenem Anbau zu beziehen, und die Werbebroschüren in Felicitas-Felicitas' Büro enthielten viele Fotos von Früchten und blühenden Bäumen und Alpenbächen und Bergen, alles bunt durcheinandergewürfelt, als ob der Liebe Gott oder die Schwestern oder Dr. Rüedi diese ganze Pracht ei­gens für die Heiminsassinnen geschaffen hätten. Nach dem Mit­tagessen kam eine Ruhestunde, und freitags empfand Alexandra diese Stunde als ganz besonders schlimm, die schlimmste der ganzen Woche, wenn sie sich auf die weiße Bettstatt legen muß­te, angeblich, um sich zu entspannen, während sie den nächstbe­sten Gott anrief und ihn bat, er möge Onkel Anton überfahren oder einen Herzanfall erleiden oder am allerbesten ganz und gar verschwinden lassen - wegsperren mit ihrer eigenen Vergangen­heit, ihren Geheimnissen und ihrem Namen Tatjana. Sie dachte an seine randlose Brille, und in ihrer Phantasie trieb sie ihm diese Brille in den Schädel, so daß sie auf der anderen Seite wieder her­auskam zusammen mit seinen Augen, und Alexandra, statt sei­nem wäßrigen Blick zu begegnen, direkt durch ihn hindurch auf die Welt draußen schauen konnte.

Und jetzt war die Ruhezeit wenigstens vorbei, und Alexandra stand, sonntäglich angezogen, in dem leeren Speiseraum und blickte durch das Fenster auf das Pförtnerhaus, während zwei dienende Nonnen den gefliesten Boden schrubbten. Ihr war Übel. Klump, dachte sie. Fahr dein blödes Rad zu Klump und dich dazu. Andere Mädchen bekamen auch Besuch, aber nur samstags, und keine hatte einen Onkel Anton, nur wenige be­kamen männlichen Besuch irgendwelcher Art, meist kamen bläßliche Tanten und gelangweilte Schwestern. Und keiner wurde Felicitas-Felicitas' Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, damit sie den Besucher hinter verschlossener Tür allein empfan­gen könne. Das war ein Privileg, das allein Alexandra und Onkel Anton genossen, wie Schwester Béatitude nicht müde wurde zu betonen. Doch Alexandra hätte diese Vergünstigung und noch etliche dazu liebend gern für das Privileg eingetauscht, keinerlei Besuch von Onkel Anton zu erhalten.

Das Tor am Pförtnerhaus ging auf, und sie fing absichtlich an zu zittern, schüttelte ihre Hände in den Gelenken, als habe sie eine Maus, eine Spinne oder einen nackten Mann vor sich gese­hen. Eine rundliche Gestalt in einem braunen Anzug radelte die Anfahrt herauf. Aus seiner Bemühtheit konnte sie schließen, daß er kein geübter Radfahrer war. Er kam nicht von weit und brachte auch keine Frische von draußen mit. Es mochte brü­tend heiß sein, Onkel Anton schwitzte nicht und kochte nicht. Es mochte in Strömen regnen, Onkel Antons Mackintosh und Hut würden, wenn er am Haupttor ankam, kaum naß sein, und seine Schuhe waren nie schmutzig. Nur vor drei Wochen, oder war's vor drei Jahren, als gewaltige Massen von Schnee gefallen waren und einen zusätzlichen Wall von einem Meter Höhe um das tote Schloß gezogen hatten, sah Onkel Anton annähernd wie ein echter Mensch aus, der aus echten Elementen kam: Wie er so in seinen dicken Stiefeln, seinem Anorak und seiner Pelz­kappe an den Tannen entlang den Pfad heraufstapfte, trat er ge­radewegs aus Erinnerungen, von denen sie nie sprechen durfte. Und als er sie umarmte, sie »mein Töchterchen« nannte, seine großen Handschuhe auf Felicitas-Felicitas' glänzend polierten Tisch knallte, da spürte sie ein Gefühl der Verwandtschaft und eine Hoffnung in sich hochsteigen, so übermächtig, daß sie sich noch Tage später dabei ertappte, wie sie in der Erinnerung daran lächelte.

»Er war so warm«, vertraute sie Schwester Béatitude in ihrem bißchen Französisch an. »Er hat mich im Arm gehalten, wie ei­nen Freund! Warum macht der Schnee ihn so zärtlich?«

Doch heute sah man nur Matsch und Nebel und große, weiche Flocken, die auf dem gelben Kies nicht liegenbleiben würden. Er kommt in einem Wagen, Sascha - hatte Schwester Beatitude einmal zu ihr gesagt -, mit einer Frau, Sascha. Beatitude hatte sie gesehen. Zweimal. Sie natürlich als gute Schweizerin beobach­tet. Sie hatten Fahrräder auf das Autodach geschnallt, auf den Kopf gestellt, und die Frau saß am Steuer, eine große, starke Frau, ein bißchen wie Mutter Felicitas, bloß nicht so christlich, mit Haaren, die rot genug waren, um einen Stier zu reizen. Wenn sie am Dorfrand ankamen, parkten sie den Wagen hinter der Scheune von Andreas Gertsch, und Onkel Anton nahm sein Fahrrad herunter und fuhr zum Pförtnerhaus. Doch die Frau blieb im Wagen, rauchte und las die Schweizer Illustrierte, manchmal schimpfte sie in den Rückspiegel, und ihr Rad blieb, während sie las, immer auf dem Dach, wie eine Sau, die auf dem Rücken liegt! Und stell dir vor! Onkel Antons Fahrrad war ge­setzeswidrig !Das Rad - als gute Schweizerin hatte Schwester Beatitude hierauf ganz selbstverständlich ihr Augenmerk gerich­tet -, Onkel Antons Rad hatte kein Schild, keine Zulassung, er machte sich strafbar, wie seine Frau, aber die war wahrscheinlich zu dick, um zu radeln!

Doch Alexandra ließen gesetzeswidrige Fahrräder kalt. Was sie interessierte, war das Auto. Welche Marke? Welche Farbe? Und vor allem, woher kam es? Aus Moskau? Aus Paris? Woher? Doch Schwester Beatitude war vom Lande und schlichten Ge­müts, für sie war in der Welt hinter den Bergen eine Stadt wie die andere. Was waren denn für Buchstaben auf dem Nummern­schild, um Himmels willen, du Dummkopf, schrie Alexandra. Schwester Beatitude hatte keine Ahnung. Schwester Béatitude schüttelte den Kopf, wie das tumbe Milchmädchen, das sie war. Von Fahrrädern und Kühen verstand sie etwas. Autos gingen über ihren Horizont.

Alexandra beobachtete, wie Grigoriew näherkam, sie wartete auf den Augenblick, wo er den Kopf nach vorne über die Lenk­stange neigen, sein ausladendes Hinterteil lüpfen und ein Bein­chen über den Sattel schwingen würde, als klettere er von einer Frau herunter. Sie sah, daß die kurze Fahrt sein Gesicht gerötet hatte, sie verfolgte, wie er die Mappe aus dem Gepäckträger über dem Hinterrad zog. Sie lief zur Tür und versuchte ihn zu küssen, zuerst auf die Wange und dann auf die Lippen, denn sie hatte sich vorgenommen, ihre Zunge als Willkommensgruß in seinen Mund zu stecken, doch er schusselte mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, als sei er schon wieder auf dem Rückweg zu seiner Frau. »Grüß dich, Alexandra Borisowna«, hörte sie ihn aufgeregt flü­stern. Er sprach ihren Vaternamen aus, als sei er ein Staatsge­heimnis.

»Grüß dich, Onkel Anton«, antwortete sie, als Schwester Béati­tude sie grob am Arm packte und flüsterte, sie solle sich beneh­men, denn sonst . . .

Das Arbeitszimmer von Mutter Felicitas war bescheiden und prächtig zugleich. Es war klein und karg und sehr hygienisch, die Nonnen schrubbten und polierten es täglich, so daß es wie in ei­nem Schwimmbad roch. Doch ihre kleinen russischen Dinge glänzten wie Geschmeide. Sie besaß Ikonen und reich gerahmte Sepiafotografien von Prinzessinnen, die sie geliebt, und Bischö­fen, denen sie gedient hatte, und an ihrem Namenstag - oder war es ihr Geburtstag oder der des Bischofs? - brachte sie das alles nach unten und machte daraus eine Schaubühne mit Kerzen, ei­ner Jungfrau und dem Christkind. Alexandra wußte das, denn Felicitas hatte sie kommen lassen und neben sich gesetzt, ihr laut alte russische Gebete vorgelesen und Stücke aus der Liturgie im Marschrhythmus vorgesungen, ihr Plätzchen und Punsch gege­ben, nur um russische Gesellschaft zu haben an ihrem Namens­tag- oder war es Ostern oder Weihnachten gewesen? Die Russen sind die besten Menschen der Welt, hatte sie gesagt. Trotz der vielen Pillen, die sie genommen hatte, wurde Alexandra allmäh­lich klar, daß Felicitas-Felicitas stockbetrunken war. Sie hob ihr die Beine hoch, legte ein Kissen für sie zurecht, küßte sie aufs Haar und ließ sie auf dem Tweedsofa einschlafen, auf dem die El­tern saßen, wenn sie neue Patienten anmeldeten. Es war dasselbe Sofa, auf dem Alexandra nun saß und auf Onkel Anton starrte, der das kleine Notizbuch aus der Tasche zog. Sie bemerkte, daß er seinen braunen Tag hatte: brauner Anzug, braune Krawatte, braunes Hemd.

»Du solltest dir braune Hosenklammern kaufen«, sagte sie zu ihm auf Russisch.

Onkel Anton lachte nicht. Um sein Notizbuch war ein strumpf­bandartiges Stück Gummi geschlungen, das er jetzt wie wider­willig löste, während er die offiziellen Lippen befeuchtete. Manchmal hielt Alexandra ihn für einen Polizisten, manchmal für einen verkleideten Priester, manchmal für einen Rechtsan­walt oder Schullehrer und manchmal sogar für eine besondere Art von Arzt. Doch was immer er auch war, er wollte ihr durch das Gummiband und das Notizbuch sowie durch den Ausdruck nervösen Wohlwollens klar zu verstehen geben, daß es da ein Höheres Gesetz gab, für das weder er noch sie persönlich ver­antwortlich waren, daß er nicht ihr Kerkermeister war, daß er sie, wenn schon nicht um ihre Liebe, so doch um Vergebung für die Umstände bat, die ihn zwangen, sie von der Welt abzuschlie­ßen. Und sie sollte auch wissen, daß er traurig war, sogar einsam und ganz sicherlich ihr zugetan und daß er in einer besseren Welt der Onkel gewesen wäre, der ihr getreulich Geburtstagsge­schenke, Weihnachtsgeschenke gebracht, ihr jedes Jahr- >meine Sascha, wie groß du bist< - unters Kinn gegriffen und unauffällig eine ihrer Rundungen betätschelt hätte, um anzudeuten, >meine Sascha, bald bist du reif für den Topf<.

»Wie geht's mit deiner Lektüre vorwärts, Alexandra?« fragte er, während er das vor ihm liegende Notizbuch glattstrich und nach der Liste blätterte. Das war Geplauder. Das war nicht das Hö­here Gesetz. Das war wie ein Gespräch über das Wetter, oder was für ein hübsches Kleid sie trug, oder wie glücklich sie heute aussah, ganz und gar nicht so wie letzte Woche.

»Ich heiße Tatjana und komme vom Mond«, antwortete sie. Onkel Anton tat, als habe sie nichts gesagt, sie hatte also viel­leicht nur zu sich selbst gesprochen, lautlos in Gedanken, wo sie sich eine Menge Dinge erzählte.

»Bist du mit der Novelle von Turgenjew fertig, die ich dir ge­bracht hatte?« fragte er. »Du hast inzwischen wohl die >Früh-lingsströme< gelesen, nehme ich an.«

»Mutter Felicitas liest sie mir vor, aber sie ist zur Zeit heiser«, sagte Alexandra.

»So.«

Das war eine Lüge. Sie hatte ihr Essen auf den Boden geworfen, und um sie zu strafen, las Felicitas-Felicitas ihr nicht mehr vor. Onkel Anton hatte in seinem Notizbuch die Seite mit der Liste gefunden, und auch seinen Kugelschreiber hatte er gefunden, ei­nen Silberstift mit Gleitmine, auf den er ungemein stolz zu sein schien.

»So«, sagte er. »Also dann, Alexandra!«

Plötzlich wollte Alexandra nicht mehr auf seine Fragen antwor­ten. Plötzlich war ihr das unmöglich. Sie überlegte, ob sie ihm nicht die Hosen herunterziehen und ihn verknuspern sollte. Sie überlegte, ob sie nicht wie die Französin in eine Ecke machen sollte. Sie zeigte ihm die blutig gekauten Stellen an ihren Hän­den. Sie wollte ihm durch ihr eigenes göttliches Blut zu verstehen geben, daß sie seine erste Frage nicht hören wollte. Sie stand auf, hielt ihm eine Hand hin, während sie die Zähne in die andere grub. Sie wollte Onkel Anton ein für allemal klarmachen, daß die Frage, die er im Kopf hatte, obszön war, beleidigend, unan­nehmbar und verrückt, und zu dieser Demonstration hatte sie das nächstliegende und beste Beispiel gewählt, das Beispiel Chri­sti: Hing Er nicht an Felicitas' Wand, direkt vor ihr, und Blut lief an seinen Handgelenken herab? Ich hab' das für dich vergossen, Onkel Anton, erklärte sie und dachte jetzt an Ostern, an Felicitas und ihren Gang rund um das Schloß beim Eierpecken. Bitte. Das ist mein Blut, Onkel Anton. Ich hab' es für dich vergossen. Doch die andere Hand hielt sie auf den Mund gepreßt, und alles, was sie mit ihrer Sprechstimme zustande brachte, war ein Schluch­zer. Schließlich setzte sie sich stirnrunzelnd wieder hin, die im Schoß verschränkten Hände bluteten nicht eigentlich, aber sie waren zumindest naß von ihrem Speichel.

Onkel Anton hielt in der Rechten das Notizbuch und in der Lin­ken den Stift. Er war der einzige Linkshänder, den sie kannte, und wenn sie ihm beim Schreiben zusah, fragte sie sich manch­mal, ob er nicht ein Spiegelbild war und sein echtes Ich im Wagen hinter der Scheune von Andreas Gertsch saß. Sie dachte, daß man auf diese Weise glänzend mit dem fertig werden könnte, was Doktor Rüedli eine gespaltene Natur nannte - man schickte eine Hälfte auf einem Fahrrad weg, während die andere Hälfte bei der rothaarigen Frau im Wagen blieb. Felicitas-Felicitas, wenn du mir dein pop-pop Moped leihst, dann setz ich meinen schlechten Teil darauf und schick ihn weg.

Plötzlich hörte sie sich sprechen. Es war ein herrlicher Klang. Ein Klang, den sie an den kräftigen, gesunden Stimmen um sich herum liebte: Politiker im Rundfunk, Ärzte, wenn sie sich über ihr Bett beugten.

»Onkel Anton, wo kommst du bitte her?« hörte sie sich mit ge­messener Neugierde fragen. »Onkel Anton, paß bitte genau auf, während ich jetzt eine Aussage mache. Bevor du mir nicht sagst, wer du bist und ob du wirklich mein Onkel bist, und was für ein Nummernschild dein großer, schwarzer Wagen hat, beantworte ich keine einzige deiner Fragen mehr. Tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich will auch wissen, ob die Rothaarige deine Frau ist oder Felicitas-Felicitas mit gefärbtem Haar, wie Schwester Béatitude immer sagt.«

Doch Alexandras Geist sprach zu oft Wörter, die ihr Mund nicht weitergab, sodaß die Wörter in ihr herumflogen, unfreiwillig von ihr bewacht, so unfreiwillig wie Onkel Anton vorgab, sie selbst zu bewachen.

»Wer gibt dir das Geld, damit du Felicitas-Felicitas für meine Inhaftierung bezahlen kannst? Wer bezahlt Dr. Rüedi? Wer be­stimmt, welche Fragen jede Woche in dein Notizbuch kommen? An wen gibst du die Antworten weiter, die du so gewissenhaft niederschreibst?«

Doch wieder flogen die Wörter in ihr herum wie die Vögel in Krankos Gewächshaus während der Obstzeit, und es gab nichts, womit Alexandra sie bewegen konnte, herauszukommen.

»Also?« sagte Onkel Anton zum drittenmal, mit dem verwa­schenen Lächeln, das Dr. Rüedi aufsetzte, wenn er ihr eine Spritze gab. »Würdest du mir zuerst einmal deinen vollen Na­men nennen, Alexandra?«

Alexandra hielt drei Finger in die Höhe und zählte wie ein braves Kind an ihnen ab. »Alexandra Borisowna Ostrakowa«, sagte sie mit kindlicher Stimme.

»Gut. Und wie hast du dich diese Woche gefühlt, Sascha?« Alexandra lächelte höflich.

»Danke, Onkel Anton. Ich habe mich diese Woche viel besser gefühlt. Dr. Rüedi sagt, daß ich jetzt überm Berg bin.«

»Hast du irgendwie - per Post, Telefon oder mündlich - eine Botschaft von außerhalb bekommen?«

Alexandra hatte nun beschlossen, eine Heilige zu sein. Sie faltete die Hände auf dem Schoß und legte den Kopf auf die Seite und stellte sich vor, sie sei eine von Felicitas-Felicitas' russisch-or­thodoxen Heiligen, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen. Vera, der Glaube, Liubow, die Liebe; Sofia, Olga, Irina oder Xenia; alle die Namen, die Felicitas sie an jenem Abend lehrte, als sie ihr anvertraute, daß ihr richtiger Name >Hoffnung< sei - während Alexandras Name Alexandra oder Sascha war und nicht, aber schon ganz und gar nicht Tatjana, merk dir das. Alex­andra lächelte Onkel Anton an, und sie wußte, daß ihr Lächeln sublim war und tolerant und weise; und daß sie Gottes Stimme hörte und nicht die Onkel Antons; und Onkel Anton wußte das auch, denn er gab einen langen Seufzer von sich, legte das Notiz­buch beiseite und drückte auf die Klingel, um Mutter Felicitas zur Geldzeremonie herbeizurufen.

Mutter Felicitas kam hastig herein, und Alexandra vermutete daß sie nicht weit von der Türe entfernt auf der anderen Seite ge­wartet hatte. Sie hielt die Rechnung fertig in der Hand. Onkel Anton prüfte sie stirnrunzelnd wie immer, zählte dann die Scheine, blaue und orangefarbene, einzeln auf den Tisch, so daß jeder einen Augenblick lang im Strahl der Leselampe durchsich­tig wurde. Dann tätschelte Onkel Anton Alexandra die Schulter, als sei sie fünfzehn und nicht fünfundzwanzig oder zwanzig oder wie alt auch immer sie war, als sie die verbotenen Teile ihres Le­bens abgekappt hatte. Sie sah zu, wie er zur Tür und dann zum Rad watschelte. Sie beobachtete, wie sein Strampeln immer re­gelmäßiger wurde, als er von ihr weg an Krankos Pförtnerhaus vorbei den Hügel hinab zum Dorf fuhr. Und dabei sah sie etwas Merkwürdiges, etwas, was nie zuvor passiert war, zumindest nicht Onkel Anton. Aus dem Nichts tauchten zwei entschlos­sene Gestalten auf, ein Mann und eine Frau, die ein Motorrad schoben. Sie mußten auf der Sonnenbank auf der anderen Seite des Pförtnerhauses gesessen haben, hatten sich vor den Blicken verborgen, vielleicht um sich zu lieben. Sie schwenkten in die Straße ein und starrten ihm nach, stiegen aber nicht auf ihr Mo­torrad, noch nicht. Sie warteten, bis er fast außer Sicht war, be­vor sie hügelab hinter ihm herfuhren. Nun entschloß Alexandra sich zu schreien, und diesmal fand sie ihre Sprechstimme, und der Schrei zerriß das Haus vom First bis zum Grund, bis Schwe­ster Béatitude sich auf sie stürzte, um sie mit einem heftigen Schlag auf den Mund zu zähmen.

»Es sind dieselben Leute«, erklärte Alexandra.

»Wer, es?« fragte Schwester Beatitude, die Hand erhoben für den Fall, daß sie sie nochmals benötigen würde. »Wer sind die­selben Leute, du böses Mädchen?«

»Die Leute, die meiner Mutter nachgegangen sind, bevor sie sie weggezogen und umgebracht haben.«

Schwester Beatitude schnaubte ungläubig. »Mit Rappen, wahr­scheinlich!« spottete sie. »Auf einem Schlitten quer durch Sibi­rien gezogen.«

Alexandra hatte diese Geschichten schon mehrmals ausgespon­nen. Daß ihr Vater ein Fürst war, mächtiger als der Zar. Daß er nachts herrschte, wie die Eulen, wenn die Falken ruhen. Daß seine grauen Augen ihr überallhin folgten, daß seine geheimen Ohren jedes Wort hörten, das sie sagte. Und daß er eines Nachts, als er ihre Mutter im Schlaf beten hörte, nach seinen Männern schickte, die sie mit in den Schnee hinausnahmen. Niemand hat sie je wiedergesehen, nicht einmal der liebe Gott, er schaut im­mer noch nach ihr aus.

Загрузка...