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Das Verbrennen von »Tricky Tony« - so der launige Codename, den Grigoriew von seinen Beschattern erhielt - ging später in die Circus-Mythologie als eine jener seltenen Operationen ein, bei denen sich Glück, Zeitwahl und organisatorische Vorbereitung zur idealen Verbindung zusammentaten. Allen Beteiligten war von Anfang an klar gewesen, daß es darum ging, Grigoriews al­lein habhaft zu werden, und zwar bei einer Gelegenheit, die ein paar Stunden später eine reibungslose Rückführung in sein nor­males Leben ermöglichen würde. Doch bis zum Wochenende nach dem Einsatz in der Thuner Bank hatte die intensive Ausfor­schung von Grigoriews Verhaltensmuster noch keine klaren Hinweise darauf ergeben, wann eine solche Gelegenheit eintre­ten werde. Skordeno und de Silsky, Tobys harte Männer, ent­warfen in ihrer Verzweiflung bereits den hirnrissigen Plan, Gri­goriew auf dem Weg zur Arbeit zu schnappen, irgendwo an den paar hundert Metern zwischen seinem Haus und der Botschaft. Toby winkte sofort ab. Eines der Mädchen bot sich als Lockvo­gel an: Vielleicht könnte sie sich als Anhalterin an Grigoriew heranmachen? Ihre noble Geste erntete Beifall, die praktische Durchführbarkeit war jedoch gleich null.

Das Hauptproblem war, daß Grigoriew unter doppelter Bewa­chung stand. Nicht nur hielten die Sicherheitsbeamten der Bot­schaft routinemäßig ein Auge auf ihn; seine Gattin stand ihnen an Wachsamkeit nicht nach. Die Observanten waren überzeugt, daß Madame Grigoriewa den Gatten einer kleinen Schwäche für Klein-Natascha verdächtigte. Diese Überzeugung bestätigte sich, als es Tobys Lauschtrupp gelang, den Kabelkasten an der Straßenecke anzuzapfen. Während eines einzigen Tages rief die Grigoriewa ihren Mann nicht weniger als dreimal an, nur um sich zu vergewissern, daß er wirklich noch in der Botschaft war. »George, ich meine, dieses Weib ist ein Ungeheuer«, wetterte Toby, als er davon erfuhr. »Liebe - ich meine, alles recht und schön. Aber totale Besitzergreifung, das verurteile ich absolut. Für mich ist das eine Prinzipfrage.«

Das einzige schwache Glied in der Kette war Grigoriews regel­mäßige Donnerstag-Nachmittagsfahrt zur Autowerkstatt, wo er den Mercedes nachsehen ließ. Wenn ein erfahrener Altwagenfri­sierer wie Canada Bill in der Nacht vom Mittwoch einen Motor­schaden basteln könnte - so daß der Mercedes zwar vom Fleck käme, aber nur mit knapper Not -, wäre es dann nicht möglich, Grigoriew aus der Werkstatt zu schnappen, während er darauf wartete, daß der Mechaniker den Fehler entdeckte? Der Plan starrte von Unsicherheitsfaktoren. Selbst wenn alles klappen sollte, wie lange würden sie Grigoriew für sich haben? Zum Bei­spiel mußte Grigoriew an Donnerstagen rechtzeitig wieder zu Hause sein, um den allwöchentlichen Besuch des Kuriers Krassky nicht zu versäumen. Trotz allem blieb es ihr bisher ein­ziger Plan - der schlechteste mit Ausnahme aller übrigen, sagte Toby -, und so begann ein banges fünftägiges Warten, während Toby und seine Teamführer über Ausweich-Prozeduren für die zahlreichen unerfreulichen Folgesituationen brüteten, die ein Platzen des Vorhabens nach sich ziehen würde: Jeder mußte sein Bündel geschnürt und sich in seinem Hotel abgemeldet haben; Fluchtpapiere und Geld allezeit bei sich tragen; Funkausrüstung verpacken und unter einem amerikanischen Namen in den Tre­sorräumen einer größeren Bank verwahren, damit eventuelle Spuren auf die Vettern, nicht auf den Circus verweisen würden; keinerlei Zusammenkünfte, nur kurzer Wortwechsel auf der Straße im Vorübergehen; Wellenlängen alle vier Stunden ändern. Toby kannte seine schweizerische Polizei, sagte er. Er hatte schon früher hier gejagt. Wenn die Sache aufflöge, sagte er, sei es umso besser, je weniger von seinen Jungens und Mädchen in der Gegend seien und Fragen beantworten könnten. »Gott sei Dank, daß die Schweizer bloß neutral sind!«

Als recht schwachen Trost und zur Auffrischung der anfälligen Kampfmoral der Observanten bestimmten Smiley und Toby, daß Grigoriews Überwachung während der bevorstehenden Wartetage auf vollen Touren weiterlaufen sollte. Der Beobach­tungsposten am Brunnadernrain würde rund um die Uhr besetzt sein; Auto- und Motorradpatrouillen verkürzten die Abstände. Jeder sollte sprungbereit sein, für den unwahrscheinlichen Fall, daß Gott in einer völlig uncharakteristischen Anwandlung sich auf die Seite der Gerechten schlagen würde.

In der Tat schickte Gott ein idyllisches Sonntagswetter, und dies brachte die Entscheidung. Gegen zehn Uhr vormittags schien es, als sei die Alpensonne vom Oberland herabgestiegen, um das Leben der umnebelten Talbewohner zu erleuchten. Im Bellevue Palace, wo sonntags geradezu überwältigende Stille herrscht, hatte ein Kellner soeben fürsorglich eine Serviette über Smileys Knie gebreitet. Smiley trank geruhsam Kaffee und versuchte, sich auf die Wochenend-Ausgabe der Herald Tribune zu kon­zentrieren, als er, aufblickend, die liebenswürdige Erscheinung des Chefportiers Franz vor sich stehen sah.

»Excusez, Mr. Barraclough, Sie werden am Telefon verlangt. Ein Mr. Anselm.«

Die Kabinen waren in der Haupthalle, die Stimme war Tobys Stimme, und der Name Anselm bedeutete Alarmstufe 6. »Das Büro in Genf meldete uns soeben, daß der Herr Generaldirektor jetzt auf dem Wege nach Bern ist.«

Das Büro in Genf war der Codename des Beobachtungspostens Brunnadernrain.

»Fährt seine Gattin mit?« sagte Smiley.

»Madame ist leider verhindert, sie macht einen Ausflug mit den Kindern«, erwiderte Toby. »Könnten Sie vielleicht in die Filiale herüberkommen, Mr. Barraclough?«

Tobys Filiale war ein Pavillon in einem gepflegten Park in der Nähe des Bundeshauses. Smiley war in fünf Minuten dort. Unten lag das Bett des grünen Flusses. In der Ferne ragten die besonnten Gipfel des Berner Oberlands prachtvoll in den blauen Himmel.

»Grigoriew hat die Botschaft vor fünf Minuten verlassen, allein, in Hut und Mantel«, sagte Toby zur Begrüßung. »Er ist zu Fuß auf dem Weg in die Stadt. Alles, wie am ersten Sonntag unserer Beschattung. Er geht zu Fuß zur Botschaft, zehn Minuten später marschiert er in die Stadt. Er will das Schachspiel verfolgen, George, kein Zweifel. Was sagen Sie?«

»Wer ist bei ihm?«

»Skordeno und de Silsky zu Fuß, dahinter ein Observierungs­wagen, zwei weitere Autos vor ihm. Ein Team ist im Moment unterwegs zur Münsterterrasse. Wollen wir, George, oder wol­len wir nicht?«

Sekundenlang konnte Toby wieder jenen Zwiespalt wahrneh­men, der Smiley immer dann zu befallen schien, wenn ein Un­ternehmen ins Rollen kam: nicht so sehr Unentschlossenheit, vielmehr ein rätselhafter Widerwillen gegen den Vorstoß.

Toby drängte: »Grünes Licht, George? Oder nicht? George, bitte! Es geht jetzt um Sekunden!«

»Wird das Haus überwacht sein, wenn die Grigoriewa mit den Kindern zurückkommt?«

»Vollständig.«

Wiederum zögerte Smiley sekundenlang. Sekundenlang wog er die Mittel gegen den Zweck ab, dann schien Karlas graue und ferne Gestalt ihn anzuspornen.

»Also grünes Licht«, sagte Smiley. »Ja. Wir wollen.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als Toby auch schon in der keine zwanzig Meter vom Pavillon entfernten Telefonzelle stand. »Mit Herzklopfen wie eine komplette Dampfmaschine«, wie er später behauptete. Aber auch mit dem Feuer des Kampfes in den Augen.


In Sarratt existiert sogar ein maßstabgetreues Modell der Szene, und von Zeit zu Zeit holen die Schulungsleiter es hervor und er­zählen die Geschichte.

Die Altstadt von Bern beschreibt man am besten als einen Berg, eine Festung und eine Halbinsel, alles zugleich, wie das Modell zeigt. Zwischen der Kirchenfeld- und der Kornhausbrücke zieht die Aare, tief in einer schwindelnden Schlucht, einen hufeisen­förmigen Bogen, und die alte Stadt nistet besonnen in seinem Schutz, ihre mittelalterlichen Straßen steigen hügelan bis zu dem prächtigen Spitzturm des spätgotischen Münsters, das die Krone und die Krönung des Berges bildet. Der Fremdling, der die Aus­sicht von der Südseite, der auf gleicher Höhe liegenden Platt­form, aus genießen will, mag schaudernd unter sich etwa dreißig Meter nackte Felswand erblicken, die senkrecht in den brodeln­den Fluß abstürzt. Eine Stelle, die Selbstmörder anziehen muß und es zweifellos schon mehrmals getan hat. Eine Stelle, an der, wie der Volksmund zu berichten weiß, einst ein frommer Mann von seinem Pferd abgeworfen wurde, und, obgleich er in diese furchtbare Tiefe stürzte, durch Gottes Hilfe überlebte, von Stund an der heiligen Kirche diente und dreißig Jahre danach in hohem Alter eines friedlichen Todes starb. Im übrigen ist die Plattform ein angenehmer Aufenthaltsort mit Bänken und Baumreihen und einem Kinderspielplatz - und, seit kurzem, ei­nem Freiluft-Schachspiel. Die Figuren sind über einen halben Meter hoch, leicht genug, daß man sie bewegen kann, aber schwer genug, um den gelegentlichen Stößen des Südwinds standzuhalten, der von den Höhen herabstürmt. Auch diese Schachfiguren sind im Sandkastenmodell von Sarratt zu sehen. Als Toby Esterhase an jenem Sonntagvormittag dort ankam, hatte der unerwartete Sonnenschein bereits eine kleine und adrette Schar von Spielbegeisterten angezogen, die rings um das schwarz-weiß karierte Pflastergeviert standen oder saßen. Und mitten unter ihnen, keine zwei Meter von Toby entfernt, stand, so blind und taub für seine Umgebung, wie man es sich irgend wünschen konnte, Botschaftsrat (Außenhandel) Anton Grigo­riew von der sowjetischen Gesandtschaft in Bern, der alle Amts­- und Familienbande abgeschüttelt hatte und aufmerksam durch seine randlose Brille jeden Zug der Spieler verfolgte. Und hinter Grigoriew standen Skordeno und sein Kollege de Silsky und be­obachteten Grigoriew. Die Spieler waren jung und bärtig und lässig - Kunststudenten vielleicht, auf jeden Fall wollten sie für solche gehalten werden. Und sie vergaßen auch nicht einen Au­genblick lang, daß sie ein Duell unter den Augen der Öffentlich­keit ausfochten.

Toby war schon früher ebenso nah an Grigoriew herangekom­men, aber nie, während die Aufmerksamkeit des Russen so aus­schließlich einer anderen Sache galt. Mit der Ruhe, die dem Kampf vorausgeht, taxierte Toby ihn und fand bestätigt, was er schon immer behauptet hatte: Anton Grigoriew war kein ausge­bildeter Agent. Seine hingerissene Aufmerksamkeit, die sorglose Offenheit seines Mienenspiels verrieten eine Unschuld, die in den Palastkämpfen der Moskauer Zentrale nie und nimmer hätte überleben können.

Tobys äußere Erscheinung gehörte gleichfalls zu den Glücks­treffern dieses Tages. Zu Ehren des Berner Sonntags trug er einen dunklen Mantel und seine schwarze Pelzmütze. Somit war er in diesem entscheidenden Augenblick aus dem Stegreif das, was er zu scheinen beabsichtigt hätte, wenn alles bis in die letzte Klei­nigkeit geplant gewesen wäre: ein angesehener Bürger, der sich sonntags ein bißchen Muße gönnt.

Tobys dunkle Augen hoben sich zum Münsterplatz. Die Ab­setzautos standen bereit.

Gedämpftes Lachen stieg auf. Mit ausholender Bewegung hob einer der bärtigen Spieler seine Königin vom Feld, wirbelte sie scheinbar mühsam, als wäre sie zentnerschwer, ein paar Schritte weit und ließ sie ächzend niederplumpsen. Grigoriew runzelte düster die Stirn, während er diesen unerwarteten Zug betrachte­te. Auf Tobys Nicken hin schoben sich Skordeno und de Silsky rechts und links an ihn heran, so dicht, daß Skordenos Schulter an die Schulter der Beute stieß, doch Grigoriew achtete nicht darauf. Tobys Hilfstruppen, die dies als ihr Signal auffaßten, schlängelten sich langsam durch die Menge und bildeten eine zweite Staffel hinter de Silsky und Skordeno. Jetzt wartete Toby nicht länger. Er trat direkt vor Grigoriew hin, lächelte und lüf­tete die Pelzmütze. Grigoriew erwiderte das Lächeln - ein wenig unsicher, es mochte sich um einen anderen Diplomaten handeln, an den er sich nicht mehr recht erinnerte - und lüftete gleichfalls den Hut.

»Wie geht's Ihnen heute, Herr Botschaftsrat?« fragte Toby auf Russisch, in leicht scherzendem Ton.

Verwirrter denn je sagte Grigoriew, vielen Dank, es gehe ihm gut.

»Ich hoffe, der kleine Ausflug am Freitag hat Ihnen Spaß ge­macht«, fuhr Toby im gleichen ungezwungenen, aber sehr leisen Ton fort, während er Grigoriew unterhakte. »Ich sage immer, die alte Stadt Thun erfährt bei den Mitgliedern unserer noblen diplomatischen Gemeinde nicht die ihr gebührende Würdigung. Dabei empfiehlt sich dieses Städtchen, wenn Sie mich fragen, nicht nur wegen seiner Altertümlichkeit, sondern auch wegen seines Bankwesens. Finden Sie nicht auch?«

Diese Offensive war lang genug und bestürzend genug, um Gri­goriew widerstandslos an den Rand des Zuschauerkreises zu be­fördern. Skordeno und de Silsky hatten dicht aufgeschlossen. »Mein Name ist Kurt Siebel«, raunte Toby vertraulich in Grigo­riews Ohr, und seine Hand ruhte noch immer auf Grigoriews Arm. »Ich bin Chefrevisor der Berner Standard Bank in Thun. Wir haben ein paar Fragen betreffs des Privatkontos, das Dr. Adolf Glaser bei uns unterhält. Tun Sie, als wären wir Bekannte, es ist in Ihrem eigenen Interesse.« Sie gingen noch immer. Hinter ihnen folgten die Observanten in schräger Linie, wie Rugbyspie­ler, die einen Durchbruch des Gegners verhindern wollen. »Bitte beunruhigen Sie sich nicht«, fuhr Toby fort und zählte die Schritte, während Grigoriew sich an seiner Seite hielt. »Wenn Sie eine Stunde für uns erübrigen könnten, so ließe die Sache sich gewiß aus der Welt schaffen, ohne daß Ihr häusliches oder beruf­liches Leben eine Störung erfahren würde. Bitte.«

In der Welt eines Geheimagenten ist die Mauer zwischen Sicher­heit und höchster Gefahr so gut wie nichts, ein dünnes Häut­chen, das in Sekundenschnelle bersten kann. Er mag seinen Mann jahrelang umworben und für die Pfanne gemästet haben. Aber der Augenblick, wenn er ihn in die Pfanne haut - »wirst du, wirst du nicht?« -, ist ein Sprung entweder ins Verderben oder zum Sieg, und sekundenlang glaubte Toby, dem Verderben ins Antlitz zu blicken. Grigoriew war endlich stehengeblieben und hatte sich umgewandt, um ihn anzustarren. Er war bleich wie ein Schwerkranker. Sein Kinn hob sich, er öffnete den Mund zum Protest gegen eine monströse Anschuldigung. Er zerrte an sei­nem blockierten Arm, um sich loszumachen, aber Toby hielt ihn fest. Skordeno und de Silsky gaben Rückendeckung, doch die Entfernung zum Wagen betrug noch immer fünfzehn Meter, und das war nach Tobys Maßstäben ein weiter Weg, wenn man einen stämmigen Russen mit sich zerren mußte. Toby redete un­unterbrochen; das gebot ihm sein Instinkt.

»Es liegen gewisse Unregelmäßigkeiten vor, Herr Botschaftsrat. Schwere Unregelmäßigkeiten. Wir haben eine Akte über Ihre werte Person, liest sich höchst unerfreulich. Wenn ich dieses Dossier der Schweizer Polizei übergeben würde, so könnten alle diplomatischen Proteste der Welt Sie nicht vor der peinlichsten öffentlichen Bloßstellung schützen. Welche Folgen dies für ihre berufliche Karriere haben würde, muß ich wohl nicht erwähnen. Bitte. Ich sagte bitte.«

Grigoriew hatte sich noch immer nicht geregt. Er schien gelähmt vor Unentschlossenheit. Toby schubste ihn am Arm, aber Gri­goriew stand wie ein Fels und schien den physischen Druck nicht wahrzunehmen. Toby schob energischer an. Skordeno und de Silsky rückten noch dichter auf, doch Grigoriew besaß die stör­rische Kraft eines Irren. Sein Mund öffnete sich, er schluckte, sein Blick heftete sich dümmlich auf Toby.

»Welche Unregelmäßigkeiten?« sagte er schließlich. Nur der Schock und die Ruhe in seiner Stimme gaben Grund zur Hoff­nung. Sein dicker Körper stemmte sich auch weiterhin gegen jede Bewegung. »Wer ist dieser Glaser, von dem Sie sprechen?« fragte er heiser, im gleichen benommenen Ton. »Ich bin nicht Glaser. Ich bin Diplomat. Grigoriew. Das Konto, von dem Sie sprechen, ist durchaus legal. Als Handelsattache habe ich Immunität. Ich habe auch das Recht, im Ausland Bankkonten zu unterhalten.«

Toby feuerte seinen zweiten und letzten Schuß ab. Das Geld und das Mädchen, hatte Smiley gesagt. Das Geld und das Mädchen sind Ihre einzigen Trümpfe, mehr haben Sie nicht auszuspielen. »Es geht auch noch um das delikate Problem Ihrer Ehe, Herr Botschaftsrat«, begann Toby aufs neue mit gespielter Verlegen­heit. »Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Ihre Eskapaden inner­halb der Botschaft unerfreuliche Auswirkungen auf Ihre Häus­lichkeit haben könnten.« Grigoriew setzte sich in Bewegung, und man hörte ihn murmeln Bankier — ob es ungläubig oder höhnisch gemeint war, wird man nie erfahren. Seine Augen schlossen sich, und er wiederholte das Wort, diesmal - laut Skordeno - klang es eindeutig obszön. Aber er setzte sich wieder in Bewegung. Die rückwärtige Tür des Wagens war geöffnet. Der zweite Wagen wartete dahinter. Toby plapperte irgendeinen Unsinn über die Hinterziehung von Steuern auf schweizerische Bankzinsen, aber er wußte, daß Grigoriew ihm nicht wirklich zuhörte. De Silsky schlüpfte an ihnen vorbei, sprang in den Fond des Wagens, und Skordeno warf Grigoriew direkt hinterher, dann setzte er sich neben ihn und schmetterte die Tür zu. Toby nahm den Beifahrersitz ein; eines der Meinertzhagen-Mädchen chauffierte. Toby ermahnte sie auf Deutsch, langsam zu fahren und um Gottes willen zu bedenken, was ein Berner Sonntag sei. Kein Englisch in seiner Hörweite, hatte Smiley gesagt.

Irgendwo in der Nähe des Bahnhofs mußte Grigoriew auf dumme Gedanken gekommen sein, denn es entstand ein kurzes Handgemenge, und als Toby in den Rückspiegel blickte, war Grigoriews Gesicht schmerzverzerrt, und er hielt beide Hände über die Leistengegend. Sie fuhren zur Länggass-Straße, einer öden Straße hinter der Universität. Die Tür des Miethauses öff­nete sich im selben Augenblick, als sie davor hielten. Auf der Schwelle stand eine magere Frau. Es war Millie McCraig, die Haushälterin und altgediente Circus-Kraft. Beim Anblick ihres Lächelns bäumte Grigoriew sich auf, und nun ging es nur noch um Tempo, nicht mehr um Tarnung. Skordeno sprang auf den Gehsteig, packte Grigoriews Arm und riß ihn fast aus dem Ge­lenk; de Silsky mußte einen weiteren Schlag gelandet haben, ob­gleich er später schwor, es sei ein unglücklicher Zufall gewesen, denn Grigoriew tauchte zusammengekrümmt aus dem Wagen, und sie trugen ihn zwischen sich über die Schwelle wie eine Braut und stolperten selbdritt geräuschvoll ins Wohnzimmer. Smiley saß in einer Ecke und erwartete sie. Im Zimmer herrschten brau­ner Chintz und Spitzendeckchen vor. Die Tür fiel zu, die Ent­führer leisteten sich eine kurze Siegerpause. Skordeno und de Silsky lachten vor Erleichterung laut auf. Toby nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ruhe«, sagte er leise. Sie gehorchten ihm sofort.

Grigoriew massierte sich die Schulter, der Schmerz schien ihn für alles andere unempfänglich zu machen. Smiley, der ihn genau beobachtete, schöpfte Trost aus dieser Selbstbezogenheit: Un­bewußt stellte Grigoriew sich mit diesem Schulterreiben in die Reihen der Verlierer. Smiley erinnerte sich an Kirow, an das Fiasko mit der Ostrakowa und an seine beflissene Anwerbung Otto Leipzigs. Er blickte Grigoriew an und las aus allem, was er sah, die gleiche unheilbare Mittelmäßigkeit: aus dem neuen, aber schlecht gewählten gestreiften Anzug, der die Beleibtheit des Trägers betonte; den teuren grauen Schuhen, perforiert, um luftdurchlässig, aber zu schmal, um bequem zu sein; dem ge­schniegelten gewellten Haar. Alle diese winzigen nutzlosen Werke der Eitelkeit meldeten Smiley einen Drang zur Größe, der, wie er wußte - und wie auch Grigoriew zu wissen schien -, niemals Erfüllung finden würde.

Ehemaliger Universitätsdozent, besagte das Schriftstück, das Enderby ihm bei Ben ausgehändigt hatte. Vertauschte offenbar die akademische Laufbahn gegen die Annehmlichkeiten des Di­plomatenstatus.

Ein Kneifer, hätte Ann gesagt, die seine Sexualität mit einem ein­zigen Blick erfaßt hätte. Heimschicken.

Aber Smiley konnte ihn nicht heimschicken. Grigoriew war ein angehakter Fisch, und Smiley mußte sich in Sekundenschnelle entscheiden, wie er ihn an Land ziehen sollte. Grigoriew trug eine randlose Brille und wurde um das Kinn herum zu fett. Sein Haaröl, von der erhöhten Körpertemperatur erwärmt, gab einen Zitronendunst ab. Er knetete noch immer seine Schulter, aber jetzt starrte er seine Entführer der Reihe nach an. Schweiß rann über sein Gesicht wie Regentropfen.

»Wo bin ich?« verlangte er wild von Toby zu wissen, den er für den Anführer hielt; Smiley ignorierte er vollständig. Seine Stimme war heiser und schrill. Er sprach deutsch, mit slavischen Kehllauten.

Drei Jahre als Erster Sekretär (Handel), sowjetische Militärmis­sion in Potsdam, erinnerte sich Smiley. Kein Hinweis auf ge­heimdienstliche Verbindung.

»Ich verlange zu erfahren, wo ich bin!« schrie Grigoriew. »Ich bin höherer Sowjetdiplomat. Ich verlange, unverzüglich mit meinem Botschafter zu sprechen!«

Die unablässige Beschäftigung seiner Hand mit der lädierten Schulter nahm seiner Entrüstung die Schärfe.

»Man hat mich gekidnappt! Ich wurde gegen meinen Willen hierher gebracht! Wenn Sie mich nicht unverzüglich zu meinem Botschafter zurückkehren lassen, gibt es einen ernsten interna­tionalen Zwischenfall!«

Grigoriew hatte die Bühne für sich allein und vermochte sie nicht ganz auszufüllen. Nur George wird Fragen stellen, hatte Toby seinem Team eingeschärft. Nur George wird antworten. Doch Smiley saß so still da wie ein Bestattungsunternehmer; anschei­nend konnte nichts ihn aus der Ruhe bringen.

»Wollen Sie Lösegeld?« rief Grigoriew ihnen allen zu. Ein gräß­licher Gedanke schien ihm zu kommen. »Sind Sie Terroristen?« flüsterte er. »Aber wenn Sie Terroristen sind, warum verbinden Sie mir nicht die Augen? Warum lassen Sie mich Ihre Gesichter sehen?« Er glotzte zuerst de Silsky an, dann Skordeno. »Legen Sie Gesichtsmasken an. Gesichtsmasken! Ich will keinen von Ih­nen kennen!«

Gereizt durch das anhaltende Schweigen schlug Grigoriew die geballte Faust in die Handfläche und brüllte zweimal: »Ich be­stehe darauf!« Woraufhin Smiley mit der Miene amtlichen Be­dauerns ein Notizbuch öffnete, das auf seinem Schoß lag, etwa so, wie es Kirow getan hätte, und einen leisen, sehr amtlichen Seufzer von sich gab. »Sie sind Botschaftsrat Grigoriew von der sowjetischen Botschaft in Bern?« fragte er mit denkbar gelang­weilter Stimme.

»Grigoriew! Ich bin Grigoriew! Ja, ausgezeichnet, ich bin Gri­goriew! Und wer sind Sie, bitte? Al Capone? Wer sind Sie? Warum fixieren Sie mich wie ein Kommissar?«

Kommissar war für die Beschreibung von Smileys Verhalten un­übertrefflich: Es war träge bis zur Gleichgültigkeit.

»Nun, Herr Botschaftsrat, wir haben keine Zeit zu verlieren, ich muß Sie daher bitten, sich die belastenden Fotos auf dem Tisch hinter Ihnen genau anzusehen«, sagte Smiley mit der gleichen wohlberechneten Trägheit.

»Fotos? Was für Fotos? Wie können Sie einen Diplomaten bela­sten? Ich verlange, unverzüglich mit meinem Botschafter zu tele­fonieren!«

»Ich würde dem Herrn Botschaftsrat empfehlen, zuerst die Fo­tos anzusehen«, sagte Smiley in mürrischem, keinem Bundes­land zugehörigen Deutsch. »Nach Kenntnisnahme steht es dem Herrn Botschaftsrat frei, anzurufen, wen immer er möchte. Bitte links zu beginnen«, schlug er vor. »Die Fotos sind von links nach rechts angeordnet.«

Ein Mensch, der erpreßt wird, hat die Würde aller unserer Schwächen, dachte Smiley, als er verstohlen beobachtete, wie Grigoriew am Tisch entlangschlurfte, als träfe er die Auslese an einem der zahllosen diplomatischen Büffets. Ein Mensch, der erpreßt wird, ist unser aller Ebenbild, geschnappt im letzten Moment, wenn wir versuchen, der Falle zu entrinnen. Smiley hatte die Anordnung der Bilder persönlich besorgt; er hatte sich dabei die orchestrierte Abfolge von Katastrophen aus Grigo­riews Sicht vorgestellt. Die Grigoriews parken ihren Mercedes vor der Bank. Die Grigoriewa wartet mit ihrem chronisch ver­biesterten Gesichtsausdruck allein auf dem Fahrersitz und um­klammert das Steuer, für den Fall, daß jemand versuchen sollte, es ihr wegzunehmen. Grigoriew und die kleine Natascha auf ei­nem Tele-Foto, dicht an dicht auf einer Bank sitzend. Grigoriew im Bankgebäude, mehrere Aufnahmen, als Gipfelpunkt ein prachtvoller Schnappschuß über die Schulter Grigoriews, der eine Auszahlungsquittung unterschreibt, mit dem vollen Namen Adolf Glaser klar leserlich in Maschinenschrift über seinem Na­menszug. Dann Grigoriew, sichtlich ungelenk auf einem Fahr­rad, wie er in die Auffahrt zum Sanatorium einschwenkt; dann wiederum die Grigoriewa, verdrossen im Wagen hockend, diesmal neben Gertschens Scheune, auf dem Wagendach ihr Fahrrad verzurrt. Aber das Foto, das Grigoriew am längsten fes­selte, war, wie Smiley feststellte, die Tele-Aufnahme, die den Meinertzhagen-Mädchen gelungen war. Die Qualität war nicht besonders, aber die beiden Köpfe im Wagen konnte man deut­lich erkennen, auch wenn sie Mund an Mund zusammengewach­sen schienen. Einer gehörte Grigoriew. Der andere, der mit menschenfresserischer Gier über ihn herfiel, gehörte der kleinen Natascha.

»Das Telefon steht zu Ihrer Verfügung, Herr Botschaftsrat«, ließ Smiley sich ruhig vernehmen, als Grigoriew sich noch im­mer nicht regte.

Doch Grigoriew war über diesem letzten Foto erstarrt, und seine Miene drückte äußerste Verzweiflung aus. Er war nicht nur ein ertappter Mann, dachte Smiley; er war ein Mann, dessen schön­ster und bisher in den Schleier des Geheimnisses gehüllter Lie­bestraum plötzlich an die Öffentlichkeit gezerrt und zum Ge­spött geworden war.

Wiederum im gleichen lustlosen Ton amtlicher Notwendigkeit begann Smiley nun mit dem, was Karla als die Pressionsphase bezeichnet hätte. Andere Inquisitoren, sagt Toby, hätten Grigo­riew eine Wahl geboten und dadurch unweigerlich den Wider­stand des Russen und den russischen Hang zur Selbstzerstörung wachgerufen: eben jene Impulse, sagt er, die eine Katastrophe hätten heraufbeschwören können. Andere Inquisitoren, be­hauptet er, hätten gedroht, gebrüllt, wären schließlich pathetisch und vielleicht sogar gewalttätig geworden. Nicht so George, sagt er: niemals. George hielt bis zuletzt den gleichmütigen Erfül­lungsgehilfen durch: Grigoriew, wie alle Grigoriews dieser Welt, nahm ihn als sein unabwendbares Geschick an. George schloß jede Wahl kategorisch aus. George machte Grigoriew klar, warum er keine Wahl haben könne: Das Wichtigste, Herr Botschaftsrat - sagte Smiley, als erläuterte er eine Steuerforde­rung-, sei zu bedenken, welche Wirkung diese Fotos dort auslö­sen könnten, wo sie sehr bald unter die Lupe genommen wür­den, wenn man nichts unternähme, um ihre Weiterleitung zu verhindern. Da seien erstens einmal die Schweizer Behörden, sagte Smiley, die verständlicherweise über den Mißbrauch eines schweizerischen Passes durch einen akkreditierten Diplomaten ungehalten sein würden, ganz zu schweigen von dem schweren Verstoß gegen die Bankgesetze. Energischer offizieller Protest müßte die Folge sein, und die Grigoriews würden über Nacht nach Moskau zurückgeschickt, alle zusammen, um nie wieder die Früchte eines Auslandsposten zu genießen. Aber auch da­heim in Moskau würde man Grigoriew kaum mit offenen Armen empfangen, erklärte Smiley. Seine Vorgesetzten im Außenmini­sterium brächten wohl wenig Verständnis auf für sein Verhalten, »sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich«; von einer wei­teren Verwendung im Staatsdienst könne keine Rede sein. Er würde als Verbannter im eigenen Land leben müssen, sagte Smi­ley, und seine Familie mit ihm. Seine ganze Familie. »Stellen Sie sich vor, daß Sie vierundzwanzig Stunden am Tag Madame Gri­goriewas Grimm im hintersten Sibirien über sich ergehen lassen müßten«, war der Sinn seiner Rede.

Woraufhin Grigoriew auf einen Stuhl plumpste und beide Hände über dem Kopf zusammenschlug, als fürchte er, der Schädel könne ihm platzen.

»Und schließlich«, sagte Smiley und blickte, wenn auch nur ganz kurz, von seinem Notizbuch auf - und was er darin las, sagte Toby, weiß Gott allein, die Seiten waren liniert, aber im übrigen völlig leer -, »schließlich, Herr Botschaftsrat, gilt es noch, die Reaktion gewisser staatlicher Sicherheitsorgane auf diese Fotos zu bedenken.«

Und nun ließ Grigoriew seinen Kopf los, zog das Taschentuch aus der Brusttasche und begann, sich die Stirn zu wischen, doch so heftig er auch wischte, der Schweiß trat immer wieder von neuem hervor. Er rann so unaufhaltsam, wie Smileys Schweiß damals im Verhörraum in Delhi, als er Karla Auge in Auge ge­genübergesessen hatte.

Smiley ging völlig in seiner Rolle als bürokratischer Sendbote des Unvermeidlichen auf: Er seufzte abermals und wendete pedan­tisch eine weitere Seite in seinem Notizbuch um.

»Herr Botschaftsrat, darf ich fragen, um welche Zeit Sie Ihre Gattin und die Kinder vom Picknick zurückerwarten?«

Grigoriew war noch immer ausschließlich mit seinem Taschen­tuch beschäftigt.

»Madame Grigoriewa und die Kinder picknicken in den Wäl­dern von Elfenau«, erinnerte Smiley ihn. »Wir haben Ihnen ein paar Fragen zu stellen, indes wäre es bedauerlich, wenn Ihre Abwesenheit von zu Hause Anlaß zu Besorgnis gäbe.«

Grigoriew steckte das Taschentuch weg. »Sie sind Spione?« flü­sterte er. »Sie sind Spione der Westmächte?«

»Herr Botschaftsrat, es ist besser, wenn Sie nicht wissen, wer wir sind«, sagte Smiley ernst. »Solches Wissen ist eine gefährliche Bürde. Erfüllen Sie unsere Forderungen, und Sie werden als freier Mann von hier fortgehen. Sie haben unser Wort. Weder Ihre Gattin noch die Moskauer Zentrale - auch sie nicht - sollen jemals etwas erfahren. Bitte sagen Sie mir, wann die Ihren von Elfenau zurückkommen -« Smiley brach ab.

Grigoriew setzte, ziemlich halbherzig und wie um der Form zu genügen, zu einem Ausbruchsversuch an. Er stand auf und machte einen Satz auf die Tür zu. Paul Skordeno sah für einen har­ten Mann ein bißchen phlegmatisch aus, aber er hatte den Flüchtling an der Krawatte, noch ehe Grigoriew einen zweiten Schritt tun konnte, und führte ihn behutsam, um keine Druckmale zu hinterlassen, zu seinem Stuhl zurück. Mit einem weiteren büh­nenreifen Ächzen warf Grigoriew verzweifelt die Arme hoch. Das schwere Gesicht wurde dunkelrot und schmerzverzerrt, die breiten Schultern dehnten sich noch vor Erregung, und aus sei­nem Mund quoll ein trostloser Sturzbach von Selbstanklagen. Er sprach halb russisch, halb deutsch. Er verfluchte sich mit langsa­mer und heiliger Inbrunst, und danach verfluchte er seine Mutter, seine Frau, sein persönliches Pech und seine verhängnisvolle Schwäche als Vater. Er hätte in Moskau bleiben sollen, im Wirt­schaftsministerium. Er hätte sich niemals von der Alma Mater fortlocken lassen sollen, nur weil sein törichtes Weib nach auslän­dischen Kleidern und Musik und Privilegien gierte. Er hätte sich längst von ihr scheiden lassen sollen, aber er könnte die Trennung von den Kindern nicht ertragen, ein Narr und ein Clown, der er sei. Er selber sollte in der geschlossenen Anstalt sitzen, nicht das Mädchen. Als er damals nach Moskau zitiert wurde, hätte er nein sagen, sich dem Druck widersetzen und, die ganze Sache nach sei­ner Rückkehr dem Botschafter melden sollen.

»Oh, Grigoriew!« rief er aus. »Oh, Grigoriew! Du bist so schwach, so schwach!«

Als nächstes ließ er eine Tirade gegen die Konspiration vom Sta­pel. Die Konspiration sei sein Fluch, mehrmals in seiner Karriere sei er gezwungen gewesen, mit den verhaßten »Nachbarn« bei ir­gendeinem blödsinnigen Unternehmen zu kollaborieren, jedes­mal habe es mit einer Katastrophe geendet. Geheimdienstleute seien Verbrecher, Scharlatane und Narren, eine Clique von Un­geheuern. Warum waren die Russen so sehr in sie verliebt? Oh, das fatale Unvermögen zur Heuchelei in der russischen Seele!

»Die Konspiration hat den Glauben ersetzt!« jammerte Grigo­riew den Versammelten auf Deutsch vor. »Sie ist unsere Ersatz­religion! Und ihre Agenten sind unsere Jesuiten, diese Schweine, sie machen alles kaputt!«

Er ballte jetzt die Fäuste und rammte sie sich in die Wangen, malträtierte sich in Gewissensbissen, bis Smiley ihn mit einem We­deln des Notizbuches auf seinen Knien streng wieder zur Sache brachte: »Betreffs Madame Grigoriewa und Ihrer Kinder, Herr Botschaftsrat«, sagte er. »Es ist wirklich wichtig, daß wir wissen, um welche Zeit sie daheim zurückerwartet werden.«


Bei jedem erfolgreichen Verhör - so pflegt Toby Esterhase an dieser Stelle seiner Schilderung ex cathedra zu erklären - passiert eine einzige kleine Fehlleistung, die nicht wieder gutzumachen ist; eine einzige Gebärde, schweigend oder beredt oder sogar nur aus einem angedeuteten Lächeln bestehend oder der Entgegen­nahme einer Zigarette, die den Wechsel vom Widerstand zur Zu­sammenarbeit markiert. Grigoriew passierte - in Tobys Darstel­lung der Szene - seine Fehlleistung eben jetzt. »Sie wird um ein Uhr zu Hause sein«, murmelte er und vermied sowohl Smileys wie Tobys Blick.

Smiley sah auf seine Uhr. Zu Tobys geheimem Entzücken tat Grigoriew es ihm nach.

»Aber sie könnte sich verspäten«, wandte Smiley ein.

»Sie verspätet sich nie«, gab Grigoriew finster zurück.

»Dann darf ich Sie bitten, mit der Schilderung Ihrer Beziehung zu dem Mädchen Ostrakowa zu beginnen«, fuhr Smiley sofort sein schweres Geschütz auf - sagt Toby - und ließ die Aufforde­rung dennoch so klingen, als sei sie die natürliche Fortsetzung der Frage nach Madame Grigoriewas Pünktlichkeit. Dann zückte er die Feder, und zwar so, sagt Toby, daß ein Mann wie Grigoriew einfach gar nicht anders konnte, als ihm etwas zu schreiben zu liefern. Trotz alledem war Grigoriews Wider­standskraft noch nicht völlig verpufft. Seine Selbstachtung er­forderte zumindest noch eine letzte Kundgebung. Also wandte er sich mit ausgestreckten Händen an Toby: »Ostrakowa!« wie­derholte er mit übertriebener Verachtung. »Er fragt mich nach einer Person namens Ostrakowa? Ich kenne keine solche Frau. Vielleicht er, aber ich nicht. Ich bin Diplomat. Lassen Sie mich unverzüglich frei. Ich habe wichtige Termine.«

Aber seine Proteste verloren rasch an Dampf und auch an Logik. Grigoriew wußte das genauso gut wie alle anderen.

»Alexandra Borisowna Ostrakowa«, deklamierte Smiley, wäh­rend er mit dem breiten Ende seiner Krawatte die Brille polierte:

»Eine junge Russin, aber mit französischem Paß.« Er setzte die Brille wieder auf. »So, wie Sie, Herr Botschafter, Russe sind, aber einen Schweizer Paß haben. Unter falschem Namen. Also, wie sind Sie mit ihr in Verbindung gekommen, bitte?«

»Verbindung? Jetzt sagt er schon, ich habe eine Verbindung mit ihr! Glauben Sie, ich bin so infam und schlafe mit geisteskranken Mädchen? Ich wurde erpreßt. Wie Sie mich jetzt erpressen, so wurde ich damals erpreßt. Unter Druck gesetzt! Immer unter Druck, immer Grigoriew!«

»Dann erzählen Sie, wie man Sie erpreßt hat«, schlug Smiley, flüchtig zu ihm aufblickend, vor.

Grigoriew schaute angelegentlich in seine Hände, hob sie, ließ sie jedoch, ausnahmsweise ungenutzt, wieder auf seine Knie fal­len. Dann betupfte er sich mit dem Taschentuch die Lippen. Er schüttelte den Kopf über die Schlechtigkeit der Welt.

»Ich war in Moskau«, sagte er, und in Tobys Ohren jauchzten, wie er später erklärt, Engelchöre ihr Hallelujah. George hatte es , geschafft, und Grigoriews Beichte hatte begonnen.

Smiley hingegen verriet keinerlei Jubel ob seines Erfolgs. Im Ge­genteil, sein molliges Gesicht zog sich zu einer gereizten Gri­masse zusammen.

»Das Datum, bitte, Herr Botschaftsrat«, sagte er, als sei der Ort völlig unwichtig. »Geben Sie das Datum Ihres Aufenthalts in Moskau an. Und in der Folge bitte zu jeder Begebenheit das Da­tum.«

Absolut klassisch, erklärt Toby hierzu: Der erfahrene Befrager wird immer ein paar falsche Leuchtzeichen setzen.

»September«, sagte Grigoriew verdutzt.

»Welches Jahr?« sagte Smiley, während er schrieb.

Grigoriew schickte abermals einen wehen Blick zu Toby. »Wel­ches Jahr! Ich sage September, er fragt mich, welcher September. Ist er Geschichtsschreiber? Ich glaube, er ist Geschichtsschrei­ber. Diesen September«, sagte er grämlich zu Smiley. »Ich wurde zu einer wichtigen Handelskonferenz nach Moskau gerufen. Ich bin Experte für gewisse hochspezialisierte Wirtschaftszweige. Eine solche Konferenz wäre ohne meine Anwesenheit sinnlos gewesen.«

»Hat Ihre Gattin Sie auf dieser Reise begleitet?«

Grigoriew stieß eine hohle Lache aus. »Jetzt hält er uns für Kapi­talisten!« belehrte er Toby. »Er glaubt, wir lassen unsere Ehe­frauen wegen einer Konferenz von zwei Wochen in der Welt herumfliegen, erster Klasse, Swissair.«

»>Im September dieses Jahres erhielt ich Anweisung, allein nach Moskau zu fliegen, um dort an einer zwei Wochen dauernden Wirtschaftskonferenz teilzunehmen«, faßte Smiley zusammen, als verlese er Grigoriews Aussage. »>Meine Frau blieb in Bern<. Bitte beschreiben Sie den Zweck der Konferenz.«

»Der Gegenstand unserer auf höchster Ebene geführten Bespre­chung war streng geheim«, erwiderte Grigoriew resigniert. »Mein Ministerium wollte Möglichkeiten erwägen, wie der offi­ziellen sowjetischen Haltung gegenüber solchen Nationen, die Waffen an China liefern, mehr Nachdruck verliehen werden könnte. Wir sollten darüber beraten, mit welchen Sanktionen die Schuldigen zu belegen seien.«

Smileys Ausdruckslosigkeit, das Verhalten des Bürokraten, der, wenn auch bedauernd, nur seine Pflicht tut, war jetzt nicht mehr lediglich angedeutet, sagt Toby, es war perfekt: Grigoriew hatte es in Bausch und Bogen akzeptiert, mit philosophischem und sehr russischem Pessimismus. Die übrigen Anwesenden konn­ten später kaum glauben, daß der Botschaftsrat nicht bereits in redseliger Stimmung die Wohnung betreten hatte.

»Wo fand die Konferenz statt?« fragte Smiley, als interessierten Geheimsachen ihn weit weniger als formale Einzelheiten.

»Im Wirtschaftsministerium. Vierte Etage ... im Konferenz­zimmer. Gegenüber den Toiletten«, parierte Grigoriew mit mißglücktem Sarkasmus.

»Wo wohnten Sie?«

In einem Gästehaus für höhere Beamte, erwiderte Grigoriew. Er nannte die Anschrift und fügte sogar ironisch seine Zimmer­nummer hinzu. Manchmal endeten unsere Besprechungen erst spät nachts, sagte er - jetzt gab er sogar Auskünfte, die gar nicht verlangt worden waren; doch am Freitag herrschte noch immer sehr heißes Sommerwetter, und daher wurde die Sitzung früher aufgehoben, damit die Teilnehmer, wenn sie dies wünschten, aufs Land fahren könnten. Grigoriew hatte keine derartigen Plä­ne. Grigoriew sagte, er habe über das Wochenende in Moskau bleiben wollen. Aus gutem Grund: »Ich hatte verabredet, zwei Tage in der Wohnung einer jungen Frau namens Eudokia zu ver­bringen, meiner früheren Sekretärin. Ihr Mann war auswärts beim Militär«, erklärte er, als handelte es sich hier um ein ganz gängiges Arrangement zwischen Männern von Welt; ein Arran­gement, das zumindest Toby, als verwandte Seele, gebilligt hät­te, auch wenn seelenlose Kommissare dafür kein Verständnis aufbrachten. Dann ging es, zu Tobys Erstaunen, straks weiter. Von seinem Techtelmechtel mit Eudokia kam Grigoriew uner­wartet und unmittelbar zum Kern aller Fragen:

»Leider scheiterte meine Wahrnehmung des getroffenen Über­einkommens am Dazwischentreten von Mitgliedern des Drei­zehnten Direktoriums, bekannt auch als Karla-Direktorium. Ich erhielt Anweisung, mich unverzüglich zu einer Besprechung einzustellen.«


In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Toby nahm den An­ruf entgegen, legte auf und sprach zu Smiley.

»Sie ist wieder zu Hause eingetroffen«, sagte er, immer noch auf Deutsch.

Ohne Umschweife wandte Smiley sich direkt an Grigoriew: »Herr Botschaftsrat, man meldet uns, Ihre Gattin sei jetzt wie­der zu Hause. Es läßt sich daher nicht umgehen, daß Sie unver­züglich dort anrufen.«

»Dort anrufen?« Grigoriew fuhr entsetzt zu Toby herum. »Er sagt mir, dort anrufen! Was sage ich ihr? >Grigoriewa, hier spricht liebender Gatte! Bin von West-Spionen entführt!< Ihr Kommissar ist verrückt! Verrückt!«

»Sagen Sie ihr bitte, daß Sie gegen Ihren Willen aufgehalten wur­den«, sagte Smiley.

Seine Friedfertigkeit schürte noch Grigoriews lodernde Entrü­stung: »Ich sage das zu meiner Frau? Zu Grigoriewa? Bilden Sie sich ein, Sie wird mir glauben? Sie wird mich sofort bei meinem Botschafter anzeigen. >Herr Botschafter, mein Mann ist wegge­laufen! Holen Sie ihn zurück!<«

»Der Kurier Krassky überbringt Ihnen allwöchentlich Befehle aus Moskau, nicht wahr?« fragte Smiley.

»Der Kommissar weiß alles«, sagte Grigoriew zu Toby und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Wenn er alles weiß, warum spricht er dann nicht selber mit Grigoriewa?«

»Sie werden am Telefon einen dienstlichen Ton anschlagen, Herr Botschafter«, riet Smiley. »Erwähnen Sie Krassky nicht nament­lich, aber lassen Sie durchblicken, daß Sie Anweisung erhielten, ihn zu einem konspirativen Gespräch irgendwo in der Stadt zu treffen. Dringender Fall. Krassky hat seine Pläne geändert. Sie haben keine Ahnung, wann Sie nach Hause kommen oder was er will. Wenn sie protestiert, machen Sie kurzen Prozeß. Sagen Sie ihr, es sei ein Staatsgeheimnis.«

Sie sahen, wie er erschrak, sie sahen, wie er nachdachte. Und dann sahen sie, wie sich ein leises Lächeln in seine Züge stahl. »Ein Geheimnis«, wiederholte Grigoriew leise. »Ein Staatsge­heimnis. Ja.«

Kühnen Schritts begab er sich zum Telefon und wählte eine Nummer. Toby stand dicht neben ihm und hielt eine Hand dis­kret in der Schwebe, um sie auf die Gabel zu schmettern, falls Grigoriew irgendeinen Trick versuchen sollte, doch Smiley wies ihn mit einem kleinen Kopfnicken auf seinen Platz zurück. Sie hörten Grigoriewas Stimme »Ja?« sagen, auf Deutsch. Sie hörten Grigoriews kühne Erwiderung, danach wieder seine Gattin - es ist alles auf Band -, die energisch zu wissen begehrte, wo er jetzt sei. Sie sahen, wie er sich straffte und das Kinn reckte und eine dienstliche Miene aufsetzte; sie hörten ihn ein paar knappe Sätze bellen und eine Frage stellen, auf die offenbar keine Antwort er­folgte. Sie sahen, wie er den Hörer wieder auflegte, blankäugig und rosig vor Vergnügen und die kurzen Arme entzückt in die Luft warf, wie jemand, der ein Tor geschossen hat. Und dann brach es aus ihm hervor, ein dröhnendes anhaltendes Lachen, pralle Schwaden slavischen Lachens, die Tonleiter hinauf und hinunter. Spontan fielen die anderen in dieses Lachen mit ein -Skordeno, de Silsky und Toby. Grigoriew schüttelte Toby die Hand.

»Heute freut Konspiration mich ungemein!« schrie Grigoriew zwischen weiteren Anfällen brausenden Lachens. »Konspiration ist heute sehr gut!«

Smiley schloß sich der allgemeinen Feststimmung nicht an, doch obwohl er sich die Rolle des Spielverderbers auferlegt hatte, saß er da und blätterte geduldig in seinem Notizbuch, bis der Spaß sich ausgetobt hatte.

»Sie schilderten zuletzt, wie Sie von Mitgliedern des Dreizehn­ten Direktoriums aufgesucht wurden«, sagte Smiley, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Auch bekannt als das Karla-Direkto­rium. Bitte fortzufahren.«

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