17

Die Straßen waren so leer wie die Landschaft. Durch Risse im Nebel erhaschte sein Blick hier einen Flecken Getreidefeld, dort ein rotes Bauernhaus, das sich tief zusammengeduckt gegen den Wind stemmte. Auf einem blauen Schild stand »Kai«. Er schwenkte scharf in eine Laderampe ein, fuhr steil hinunter und sah vor sich die Pier, eine Ansammlung grauer Baracken, die vor den Decks der Frachtschiffe zwergisch wirkten. Ein weiß-roter Schlagbaum versperrte den Weg, und an einer Tafel waren Zoll­vorschriften in mehreren Sprachen angeschlagen. Keine Men­schenseele weit und breit. Smiley stoppte, stieg aus und ging leichtfüßig zur Schranke. Der rote Druckknopf war so groß wie eine Untertasse. Er drückte darauf, und das Kreischen der Klin­gel scheuchte ein Fischreiherpaar auf, das in den weißen Nebel flatterte. Zu seiner Linken stand ein Wachturm auf Röhrenbei­nen. Er hörte eine Tür knallen und ein Metallgeräusch und sah eine bärtige Gestalt in blauer Uniform die Eisenstiege herunter­stapfen. Von der untersten Treppe aus rief der Mann ihm zu: »Was wollen Sie denn?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ er den Schlagbaum hochgehen und winkte Smiley weiter. Die von Kranen gesäumte und vom nebelweißen Himmel plattge­drückte Schotterdecke wirkte wie zerbombt und mit Beton aus­geflickt.

Die flache See dahinter schien zu zerbrechlich für die Last so vie­ler Schiffe. Er schaute in den Rückspiegel und sah die Turmspit­zen einer Hafenstadt wie auf einem alten Stich halb ins Bild hin­einragen. Er schaute aufs Meer hinaus und sah durch den Nebel eine Linie aus Bojen und Baken, die die Wassergrenze zu Ost­deutschland markierte und den Beginn von siebeneinhalbtau­send Meilen Sowjetimperium. Dahin sind die Reiher geflogen, dachte er. Er fuhr im Kriechtempo zwischen weiß-roten Rich­tungskegeln auf einen Container-Parkplatz zu, auf dem Wagen­reifen und Holzbalken gestapelt waren. >Links vom Container-Parkplatz<, hatte Herr Kretzschmar gesagt. Gehorsam bog Smi­ley nach links ab und hielt nach einem alten Haus Ausschau, ob­gleich ein altes Haus auf diesem hanseatischen Schuttabladeplatz ein Ding der Unmöglichkeit schien. Aber Herr Kretzschmar hatte gesagt: >Halten Sie Ausschau nach einem alten Haus, auf dem >Büro< steht<, und Herr Kretzschmar irrte sich nie.

Er rumpelte über ein Bahngleis und hielt auf die Frachter zu. Die Morgensonne war durch den Nebel gebrochen und ließ den weißen Anstrich der Schiffe aufblitzen. Er fuhr in eine Al­lee aus Kransteuerwarten ein, die alle wie moderne Stellwerke aussahen, mit grünen Hebeln und großen Fenstern. Und da, am Ende der Allee, stand, genau wie Herr Kretzschmar ver­sprochen hatte, das alte Wellblechhaus mit einem hohen Blechgiebel, der einer Laubsägearbeit glich und von einem ab­blätternden Flaggstock gekrönt war. Die elektrischen Versor­gungsleitungen schienen das Haus aufrecht zu halten. Neben der Kate stand ein alter, tröpfelnder Brunnen mit einem ange­ketteten Blechkrug. Auf der Holztür stand in verblaßten go­tischen Lettern das Wort >Bureau<, in französischer Schreib­weise, nicht in deutscher, und darüber eine Inschrift neueren Datums >P. K. Bergen, Import-Export<. Er arbeitet dort nachts, hatte Herr Kretzschmar gesagt. Was er tagsüber treibt, das wissen nur Gott und der Teufel.

Er drückte auf die Klingel und trat dann gebührend zurück, so daß er gut sichtbar war. Er steckte die Hände nicht in die Ta­schen und sorgte dafür, daß sie außerdem noch gut sichtbar wa­ren. Er hatte seinen Mantel bis oben zugeknöpft. Er trug keinen Hut. Den Wagen hatte er seitlich vom Haus geparkt, so daß man von drinnen sehen konnte, daß er leer war. Ich bin allein und un­bewaffnet, versuchte er zu sagen. Ich stehe nicht auf Seiten der anderen, sondern auf Ihrer. Er läutete nochmals und rief »Herr Leipzig!« Oben ging ein Fenster auf, und eine hübsche Frau sah heraus. Sie hatte schwarze Ringe unter den Augen und eine Decke um die Schultern geschlungen.

»Verzeihen Sie bitte«, rief Smiley höflich zu ihr hinauf. »Ich su­che Herrn Leipzig. Es ist sehr wichtig.«

»Nicht hier«, antwortete sie und lächelte.

Ein Mann trat an ihre Seite. Er war jung und unrasiert und trug Tätowierungen auf den Armen und der Brust. Sie sprachen einen Augenblick miteinander in einer Sprache, die Smiley für pol­nisch hielt.

»Nix hier«, bestätigte der Mann vorsichtig. »Otto nix hier.«

»Wir sind nur Gelegenheitsmieter«, rief das Mädchen hinunter.

»Wenn Otto pleite ist, zieht er in seine Stadtvilla und überläßt uns die Wohnung.«

Sie wiederholte das Ganze für ihren Freund, der diesmal lachte. »Nix hier«, wiederholte er. »Kein Geld. Niemand hat Geld.«

Sie genossen die Morgenfrische und die Gesellschaft.

»Wann haben sie ihn das letzte Mal gesehen?« fragte Smiley. Neuerliche Beratung. War es an diesem Tag oder an jenem? Smi­ley hatte den Eindruck, daß sie außerhalb der Zeit lebten.

»Donnerstag«, verkündete das Mädchen und lächelte wieder.

»Donnerstag«, wiederholte der Mann.

»Ich habe gute Nachrichten für ihn«, erklärte Smiley fröhlich, ganz auf ihren Ton eingestimmt. Er klopfte auf seine Brieftasche. »Geld, Pinkepinke. Alles für Otto. Ist seine Provision für ein Geschäft. Ich hatte es ihm für gestern versprochen.«

Das Mädchen verdolmetschte das alles, die beiden redeten hin und her, und das Mädchen lachte wieder.

»Mein Freund sagt, Sie sollen es Otto nicht geben, sonst kommt er zurück und wirft uns raus, und wir haben wieder nichts, wo wir miteinander schlafen können.«

Versuchen Sie es mal mit dem Campingplatz am See, schlug sie vor und streckte den nackten Arm aus. Zwei Kilometer die Hauptstraße entlang, über die Eisenbahnlinie und an der Wind­mühle vorbei, dann rechts - sie schaute auf ihre Hände, bog dann eine anmutig zu ihrem Liebhaber hin -, ja, rechts; rechts, auf den See zu, aber den sehen Sie erst, wenn Sie direkt davor stehen. »Wie heißt der Ort?«

»Hat keinen Namen«, sagte sie, »es ist einfach nur ein Ort. Fra­gen Sie nach >Ferienhäuser zu vermieten<, und fahren Sie dann auf die Boote zu. Fragen Sie nach Walter. Wenn Otto in der Ge­gend ist, dann weiß Walter, wo man ihn finden kann.«

»Walter weiß alles«, rief sie. »Er ist der reinste Professor.«

Sie übersetzte wieder, aber diesmal schaute der Mann ärgerlich drein.

»Schlechter Professor!« rief er herunter. »Walter schlechter Mensch!«

»Sind Sie auch ein Professor?« fragte das Mädchen Smiley.

»Nein. Nein, leider nicht.« Er lachte und dankte ihnen, und sie beobachteten ihn auf seinem Weg zum Wagen wie Kinder bei ei­ner Feier. Der Tag, die strahlende Sonne, sein Besuch - alles war Spaß für sie. Er kurbelte das Fenster herunter, um sich zu verab­schieden, als er sie etwas rufen hörte, was er nicht verstand.

»Wie war das?« rief er zu ihr hinauf, immer noch lächelnd.

»Ich habe gesagt, dann hat Otto zur Abwechslung doppelt Glück gehabt!« wiederholte das Mädchen.

»Wieso?« fragte Smiley und stellte den Motor ab. »Wieso hat er doppelt Glück gehabt?«

Das Mädchen hob die Schultern. Die Decke glitt ab, und die Decke war das einzige, was sie trug. Ihr Freund legte einen Arm um sie und zog die Decke züchtig wieder hoch.

»Letzte Woche der unerwartete Besuch aus dem Osten«, sagte sie, »und heute das Geld. Otto ist ausnahmsweise ein Sonntags­kind. Mehr wollte ich nicht sagen.«

Dann sah sie Smileys Gesicht und das Lachen wich jäh aus ihrer Stimme.

»Besuch?« wiederholte Smiley. »Was für ein Besuch?«

»Aus dem Osten«, sagte sie.

Smiley, der ihre Bestürzung sah und befürchtete, sie könnte auf Nimmerwiedersehen verschwinden, ließ mühsam wieder den Anschein von guter Laune erstehen.

»Doch nicht sein Bruder, oder doch?« fragte er, ganz Begeiste­rung. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf den Kopf des mythischen Bruders. »Kleiner Bursche? Brille wie meine?«

»Nein, nein! Ein großer Bursche. Mit Chauffeur. Reich.«

Smiley schüttelte den Kopf und mimte sorglose Enttäuschung.

»Dann kenn ich ihn nicht«, sagte er. »Ottos Bruder ist ganz si­cher nie reich gewesen.« Er brachte ein unbekümmertes Lachen zustande.»Es sei denn, er war der Chauffeur«, fügte er hinzu.


Er folgte genau ihren Anweisungen, mit der tiefen Ruhe, die aus der Not geboren wird. Gelenkt werden. Keinen eigenen Willen haben. Gelenkt werden, beten, dem Schöpfer einen Händel vor­schlagen. Oh Gott, laß es nicht zu, nicht noch einen Wladimir, und ich werde jeden Sonntag in die Kirche gehen, bis ans Ende meiner Tage. Die braunen Felder hatten sich in der Sonne golden gefärbt, doch auf Smileys Rücken war der Schweiß wie eine kalte Hand, die über die Haut strich. Er sah alles, als wäre es sein letz­ter Tag, wußte, daß der große Bursche mit seinem Chauffeur denselben Weg vor ihm gefahren war. Er sah das Bauernhaus mit dem alten Pferdepflug in der Scheune, das flackernde Neon­schild einer Bierreklame, die Blumenkästen voll blutroter Gera­nien. Er sah die Windmühle, die wie eine riesige Pfeffermühle aussah, und die Wiese mit den weißen Gänsen, die im böigen Wind dahinliefen. Er sah die Reiher wie Segel über die Marschen schweben. Er fuhr zu schnell. Ich müßte öfter fahren, dachte er; ich bin außer Übung, hab' den Wagen nicht unter Kontrolle. Die Straße wechselte von Schotter zu Splitt und von Splitt zu Staub, und der Staub trieb um das Auto wie ein Sandsturm. Er fuhr durch ein Kiefernwäldchen und sah, als er wieder herauskam, ein Schild mit der Aufschrift >Ferienwohnungen zu vermieten< und eine Reihe unbewohnter Bungalows, die auf den Sommeran­strich warteten. Er fuhr zügig dahin und sah in der Ferne ein Dickicht von Masten und braunes, niedriges Wasser in einem Bassin. Er hielt auf die Mäste zu, rumpelte über ein Schlagloch und hörte ein fürchterliches Krachen unter dem Wagen. Er vermutete, daß es der Auspuff war, denn das Motorgeräusch war plötzlich sehr viel lauter geworden und hatte die Hälfte aller Was­servögel von Schleswig-Holstein aufgescheucht. Er fuhr an einem Gehöft vorbei, durchquerte die schützende Dunkelheit einer Baumgruppe und tauchte dann in ein Bild von blendender Weiße mit einem schadhaften Landungssteg und ein paar schwanken, olivfarbenen Schilfrohren als niedrigem Vordergrund, über den sich ein riesiger Himmel wölbte. Die Boote lagen zu seiner Rech­ten, neben einer Fahrrinne. Schäbige Wohnwagen waren an der Zufahrt entlang geparkt, schmuddelige Wäsche hing zwischen den Fernsehantennen. Er fuhr an einem Zelt vorbei, das inmitten eines eigenen Gemüsegartens stand, und an einigen baufälligen Schuppen, die einst militärischen Zwecken gedient hatten. Auf einen war ein psychedelischer Sonnenaufgang gemalt, der am Ab­blättern war. Drei alte Wagen, daneben ein Abfallhaufen. Er parkte und folgte einem Trampelpfad durch das Schilf zum Strand. Im Naturhafen ankerte ein Schwarm improvisierter Hausboote, einige davon umgebaute Landungsfahrzeuge aus dem Krieg. Es war kälter hier und aus irgendeinem Grund auch dunkler. Die Boote, die er zuerst gesehen hatte, waren Segelboote und lagen, eng zusammengedrängt, meist unter einer Persenning, ein wenig abseits vertäut. Ein paar Radios spielten, doch er konnte zunächst niemand sehen. Dann bemerkte er ein Haffwasser und darin festgemacht einen blauen Dingi. Und in dem Dingi einen knorrigen alten Mann, in Segeltuchjacke und schwarzer Zipfel­mütze, der sich das Genick massierte, als sei er gerade aufgewacht. »Sind Sie Walter?« fragte Smiley.

Der Alte schien zu nicken, während er sich weiterhin das Genick rieb.

»Ich suche Otto Leipzig. Am Kai hat man mir gesagt, daß er hier zu finden sei.«

Walters Augen waren mandelförmig in eine verschrumpelte, braune Pergamenthaut geschnitten.

»Isadora«, sagte er.

Er deutete auf einen wackeligen Landungssteg weiter unten am Strand. Und tatsächlich, an seinem äußeren Ende lag dielsadora, eine zwölf Meter lange, völlig abgetakelte Motorbarkasse, ein Grandhotel, das auf seinen Abbruch wartete. Die Bullaugen tru­gen Vorhänge, eines war eingeschlagen, ein anderes mit Tesafilm repariert. Die Planken des Stegs gaben besorgniserregend unter Smileys Tritt nach. Einmal wäre er beinahe gestürzt, und zwei­mal mußte er zur Überwindung von Lücken seine kurzen Beine gefährlich weit spreizen. Als er am Ende des Stegs angekommen war, stellte er fest, daß dielsadora abgelegt hatte. Sie war aus ih­ren Haltetauen am Heck geschlüpft und drei Meter weit in See gestochen, eine Fahrt, die wohl die größte ihrer alten Tage blei­ben würde. Die Kabinentüren waren geschlossen, die Fenster mit Vorhängen versehen. Keinerlei Beiboot.

Der Alte saß fünfzig Meter entfernt auf seine Ruder gestützt. Er kam nun aus dem Haffwasser heraus, um besser beobachten zu können. Smiley legte die Hände um den Mund und gellte: »Wie komm ich zu ihm hin?«

»Rufen Sie ihn doch, wenn Sie ihn brauchen«, antwortete der Alte, ohne dabei die Stimme merklich zu heben.

Smiley drehte sich wieder zur alten Barkasse um und rief >Otto<. Zuerst leise, dann lauter, aber im Innern der Isadora regte sich nichts. Er beobachtete die Vorhänge. Er beobachtete das ölige Wasser, das an den rostenden Rumpf klatschte.

Er lauschte und glaubte, Musik zu hören, die so klang, wie die in Herrn Kretzschmars Klub, aber sie konnte auch von einem an­deren Schiff kommen. Vom Dingi her beobachtete ihn immer noch Walters braunes Gesicht.

»Nochmals rufen«, grollte er. »Rufen Sie doch weiter, wenn Sie wollen, daß er kommt.«

Doch Smiley wollte sich von dem Alten nicht herumkomman­dieren lassen. Er spürte seine Autorität und seine Verachtung und verübelte ihm beides.

»Ist er drinnen oder nicht?« rief Smiley. »Ich habe gesagt, ist er drinnen?«

Der Alte reagierte nicht.

»Haben Sie ihn an Bord gehen sehen?« bohrte Smiley weiter. Er sah, wie der braune Kopf sich abwandte und wußte, daß der Alte ins Wasser spuckte.

»Die Wildsau kommt und geht«, hörte er ihn sagen. »Was zum Teufel schert das mich?«

»Wann ist er denn das letzte Mal gekommen?«

Beim Klang ihrer Stimmen waren ein paar Köpfe aus den anderen Booten aufgetaucht. Sie starrten Smiley ausdruckslos an: den kleinen, dicken Fremden, der am Ende des zerbrochenen Stegs stand. Am Strand hatte sich eine bunt zusammengewürfelte Gruppe gebildet: ein Mädchen in Shorts, eine alte Frau, zwei gleich angezogene Halbwüchsige. Sie hatten etwas an sich, das sie trotz ihrer Verschiedenartigkeit verband: eine Sträflingsmie­ne, Gehorsam gegenüber denselben üblen Gesetzen.

»Ich suche Otto Leipzig«, rief Smiley ihnen allen zu. »Kann je­mand mir bitte sagen, ob er in der Gegend ist?« Auf einem nicht allzuweit entfernten Hausboot ließ ein bärtiger Mann einen Ei­mer ins Wasser. Smileys Auge fiel auf ihn. »Ist jemand an Bord derIsadora ?« fragte er.

Der Eimer gurgelte und lief voll. Der Bärtige zog ihn heraus, sagte aber nichts.

»Sie sollten seinen Wagen sehen«, schrie eine Frau schrill vom Strand herüber, oder vielleicht war es auch ein Kind gewesen. »Sie haben ihn in den Wald gefahren.«

Der Wald lag hundert Meter vom Wasser entfernt und bestand hauptsächlich aus Jungholz und Birken.

»Wer?« fragte Smiley. »Wer hat ihn dahin gefahren?«

Der Sprecher von vorhin, wer immer es auch gewesen war, zog es jetzt vor, nicht mehr zu sprechen. Der Alte ruderte auf den Steg zu. Smiley beobachtete ihn, wie er näher kam, wie er ach­tern auf die Treppen des Stegs zusteuerte. Ohne zu zögern, klet­terte er in das Boot. Der Alte brachte ihn mit ein paar Ruder­schlägen zurIsadora. Eine Zigarette war zwischen seine rissigen Lippen geklemmt, sie schimmerte unwirklich vor der bösartigen Düsterkeit seines verwitterten Gesichts.

»Von weit her?« fragte der Alte.

»Ich bin ein Freund von ihm«, sagte Smiley.

Die Leiter der Isadora war voller Rost und Algen, das Deck schlüpfrig vor Tau. Smiley hielt nach Lebenszeichen Ausschau, sah aber keine. Er hielt nach Fußabdrücken im Tau Ausschau, ohne Erfolg. Ein paar Angelschnüre hingen von der rostigen Re­ling ins Wasser, aber sie konnten schon seit Wochen daran fest­gebunden sein. Er lauschte und hörte wieder, ganz schwach, Fetzen einer langsamen Tanzmusik. Der Klang kam von unten, und es war, als spiele jemand eine 78-Schallplatte mit 33.

Er schaute hinunter und sah den Alten in seinem Dingi. Er hatte sich zurückgelehnt, den Zipfel seiner Mütze über die Augen ge­zogen und schlug langsam den Takt zur Musik. Smiley drückte auf die Klinke der Kabinentüre. Sie war verschlossen, doch die Tür schien, wie alles andere auch, nicht sehr solide zu sein. Er ging also auf dem Deck herum, bis er einen rostigen Schrauben­zieher fand, der sich als Stemmeisen verwenden ließ. Er zwängte ihn in die Spalte, ruckte ihn hin und her, und plötzlich gab zu seiner Überraschung die ganze Tür nach, Rahmen, Angeln, Schloß und der Rest fielen mit einem explosionsartigen Knall nach hinten, in einer Wolke roten Staubs aus verrottetem Holz. Eine große, langsam fliegende Motte stieß an seine Wange, und er spürte noch eine Weile danach einen Schmerz wie von einem Stich, so daß er sich allmählich fragte, ob es nicht eine Wespe ge­wesen war. In der Kabine war es stockdunkel, doch die Musik war ein wenig lauter. Er stand auf der obersten Sprosse der Lei­ter, und trotz des Tageslichts hinter ihm blieb es unten pech­schwarz. Er drückte auf einen Lichtschalter, der nicht funktio­nierte. Smiley ging wieder zurück und rief zu dem Alten in sei­nem Dingi hinunter: »Streichhölzer!«

Beinahe wäre er aus der Ruhe gekommen. Die Zipfelmütze rührte sich nicht, und das Taktschlagen hörte nicht auf. Er schrie, und diesmal landete eine Streichholzschachtel vor seinen Füßen. Er nahm sie mit in die Kabine, zündete ein Streichholz an und sah das erschöpfte Transistorradio, das mit seiner letzten Energie Musik ausstieß. Es war so ziemlich das einzige, was noch ganz war, das einzige, was noch funktionierte in all der Verwüstung ringsum.

Das Streichholz war ausgegangen, und ehe er ein neues anzünde­te, zog er die Vorhänge zurück, doch nicht auf der Landseite. Er wollte nicht, daß der Alte hereinschaute. Im grauen, schräg ein­fallenden Licht wirkte Leipzig so lächerlich wie sein winziges Konterfei auf dem Foto, das Herr Kretzschmar aufgenommen hatte. Er lag da, wo sie ihn gefesselt hatten, nackt, doch ohne Mädchen und ohne Kirow. Das kantige Toulouse-Lautrec-Ge­sicht, grün und blau geschlagen und mit Seilenden geknebelt, war im Tod so zerklüftet und ausdrucksvoll, wie Smiley es vom Leben her in Erinnerung hatte. Die Musik hatte vermutlich den Lärm übertönen sollen, während sie ihn folterten. Doch die Mu­sik allein dürfte wohl dazu nicht ausgereicht haben. Er starrte unverwandt auf das Radio, wie auf einen Bezugspunkt, ein Ding, auf das man mit Ohren und Augen zurückkommen konn­te, wenn der Anblick der Leiche unerträglich werden sollte, be­vor das Streichholz ausging. Japanisch, bemerkte er. Merkwür­dig, dachte er. Sich ganz auf diese Merkwürdigkeit konzentrie­ren. Wie merkwürdig, daß die technischen Deutschen japanische Radios kaufen. Er fragte sich, ob die Japaner das Kompliment wohl zurückgaben. Frag dich nur, ermunterte er sich grimmig. Richte dein ganzes Augenmerk auf das interessante Wirtschafts­problem des Handelsaustausches zwischen hochindustrialisier­ten Ländern.

Ohne das Radio aus den Augen zu lassen, richtete er einen Klappstuhl auf und setzte sich darauf. Langsam wendete er den Blick wieder zu Leipzigs Gesicht. Manche Gesichter, ging es ihm durch den Kopf, nehmen im Tod ein stumpfsinniges, ja ge­radezu idiotisches Aussehen an, wie das eines Kranken unter Be­täubung. Andere spiegeln eine einzige Stimmung ihrer viel­schichtigen Natur wieder - der Tote als Liebhaber, als Vater, als Autofahrer, Bridgespieler, Tyrann. Und einige, wie das von Wladimir, spiegeln gar nichts wider. Doch Leipzigs Gesicht drückte, trotz des Knebels, eine Stimmung aus, und zwar Zorn, zur Wut gesteigert durch den Schmerz; Zorn, der angewachsen war und den ganzen Mann erfaßt hatte, als der Körper seine Kraft verlor.

Haß, hatte Connie gesagt.

Smiley sah methodisch um sich, dachte so langsam, wie er es ir­gend fertig brachte, versuchte, aus den Trümmern den Hand­lungsablauf zu rekonstruieren. Zuerst der Kampf, bevor sie ihn überwältigten, abzulesen an den zertrümmerten Tischbeinen und Stühlen und Lampen und Regalen und an allem anderen, was man irgendwo abreißen und zum Schlagen oder Schleudern verwenden konnte. Dann die Durchsuchung, nachdem sie ihn gefesselt hatten, während der Verhörpausen. Ihre Enttäuschung war überall deutlich sichtbar. Sie hatten Wand- und Fußboden­bretter herausgerissen, Schubladen, Kleider und Matratzen, und schließlich, als Otto Leipzig sich immer noch weigerte zu spre­chen, alles, was sich auseinandernehmen ließ, bis auf winzigste Gegenstände. Er bemerkte Blut an den überraschendsten Stellen - im Waschbecken, über dem Herd. Der Gedanke, daß nicht al­les von Otto Leipzig stammen könnte, bereitete ihm eine gewisse Genugtuung. Schließlich hatten sie ihn aus Verzweiflung umge­bracht, denn so lauteten Karlas Befehle, das war Karlas Philoso­phie: Killen geht vor kirren, hatte Wladimir immer gesagt.

Auch ich glaube an Otto Leipzig, dachte Smiley töricht, in Erin­nerung an Herrn Kretzschmars Worte. Nicht in allen Kleinigkei­ten, aber in den großen Dingen. Ich auch, dachte er. Er glaubte in diesem Augenblick auch an ihn, so sicher, wie er an den Tod glaubte und an den Sandmann. Und was für Wladimir galt, galt auch für Otto Leipzig: Der Tod hatte entschieden, daß er die Wahrheit gesagt hatte.

Vom Strand her hörte er eine Frau gellen:

»Was hat er gefunden? Hat er was gefunden? Wer ist er?«

Er stieg wieder nach oben. Der Alte hatte die Ruder eingezogen und ließ das Dingi treiben. Er saß mit dem Rücken zur Leiter, den Kopf tief zwischen die breiten Schultern gesteckt. Er hatte seine Zigarette zu Ende geraucht und sich eine Zigarre angezün­det, als sei es Sonntag. In dem Augenblick, als Smiley den Alten sah, sah er auch die Kreidemarke. Sie lag in der gleichen Blick­richtung, doch ganz dicht vor ihm, sie flimmerte in den beschla­genen Gläsern seiner Brille. Er mußte den Kopf senken und über den Brillenrand schauen, um sie deutlich wahrzunehmen. Eine Kreidemarke, scharf und gelb. Ein sorgfältig über den Rost der Reling gezogener Strich, und dicht daneben eine Angelschnur, die mit einem Seemannsknoten festgemacht war. Der Alte beob­achtete ihn, desgleichen wahrscheinlich die wachsende Gruppe von Zuschauern am Strand, doch ihm blieb keine andere Wahl. Er zog an der Schnur, und sie spannte sich. Er zog stetig, Hand über Hand, bis die Schnur in Darm überging, und nun zog er daran. Plötzlich wurde der Darm sehr straff. Vorsichtig zog er weiter. Die Leute am Strand warteten gespannt, er konnte ihr In­teresse sogar über das Wasser hinweg spüren. Der Alte hatte den Kopf nach hinten gelegt und schaute durch den schwarzen Schat­ten seiner Mütze. Plötzlich sprang der Fang mit einem >Plup< aus dem Wasser, und ein schallendes Gelächter erhob sich unter den Zuschauern. Ein alter Turnschuh, grün, mit eingezogenem Schuhband. Der Haken, an dem er hing, war groß genug, um ei­nen Haifisch zu landen. Das Gelächter erstarb allmählich. Smi­ley nahm den Schuh vom Haken. Dann strebte er auf die Kabine zu, als hätte er dort noch etwas zu erledigen, und verschwand darin. Die Tür ließ er einen Spalt offen, damit Licht hereinkam.

Aber zufällig hatte er den Turnschuh mitgenommen.

Ein in Ölhaut gewickeltes Päckchen war in die Schuhspitze ge­heftet. Er zog es heraus. Es war ein Tabaksbeutel, der oben zu­genäht und mehrmals gefaltet war. Moskauer Regeln, dachte er hölzern. Moskauer Regeln von A bis Z. Wieviele Hinterlassen­schaften toter Männer muß ich noch erben? fragte er sich. Wenn wir auch nur den waagrechten schätzen. Er zupfte die Naht auf. Im Beutel war eine weitere Schutzhülle, ein Latexgummifutteral, das oben zugeschnürt war. Und darinnen verborgen ein hartes Stück Pappe, kleiner als ein Zündholzbriefchen. Smiley faltete es auseinander. Es war die Hälfte einer Ansichtskarte. Schwarz­weiß, nicht einmal farbig. Die Hälfte einer öden Schleswig-Hol­steinischen Landschaft, mit der Hälfte einer Herde von friesi­schen Rindviechern, die im grauen Sonnenlicht grasten. Mit ab­sichtlicher Brutalität durchgerissen. Auf der Rückseite kein Text, keine Adresse, kein Stempel. Nur die Hälfte einer langwei­ligen, nicht aufgegebenen Postkarte: Aber sie hatten ihn ihret­wegen gefoltert und umgebracht und die Karte trotzdem nicht gefunden, und auch keinen der Schätze, zu denen sie den Schlüs­sel lieferte. Smiley steckte sie mit ihren Hüllen in die Brusttasche seiner Jacke und ging wieder auf Deck zurück. Der Alte in sei­nem Dingi hatte längsseits angelegt. Wortlos kletterte Smiley die Leiter hinunter. Die Menge am Strand war inzwischen noch größer geworden.

»Besoffen?« fragte der Alte. »Schläft seinen Rausch aus?«

Smiley stieg in das Dingi, und während der Alte wegruderte, schaute er nochmals auf die Isadora zurück. Er sah das zerbro­chene Bullauge, er dachte an die Verwüstung in der Kabine, die papierdünnen Seitenwände, durch die er sogar das Schlurfen der Schritte am Strand hatte hören können. Er stellte sich den Kampf vor und Otto Leipzigs Schreie, die das ganze Lager mit ihrem Lärm erfüllt hatten. Er stellte sich die schweigende Gruppe vor, wie sie auf dem Fleck gestanden hatte, wo sie jetzt auch stand, ohne daß sich eine Stimme, eine helfende Hand erhoben hätte.

»Es war eine Party«, sagte der Alte gleichgültig, während er das Dingi am Steg festmachte. »Jede Menge Musik, Gesang. Haben uns vorher gewarnt, daß es laut werden würde.« Er zerrte an ei­nem Knoten. »Vielleicht haben sie miteinander gestritten. Na und? 'n Haufen Leute streiten sich. Sie haben Krach gemacht, Jazz gespielt. Na und? Wir sind Musikliebhaber hier.«

»Sie waren von der Polizei«, gellte eine Frau aus der Gruppe am Strand. »Wenn die Polizei ihre Pflicht tut, dann hat der Bürger die Klappe zu halten.«

»Zeigen Sie mir seinen Wagen«, sagte Smiley.

Sie gingen in einem ungeordneten Haufen dahin, den niemand anführte. Der Alte marschierte an Smileys Seite, halb Wärter, halb Leibwächter, und machte ihm mit possenhafter Würde den Weg frei. Die Kinder rannten überall herum, hielten sich aber in sicherer Entfernung vom Alten. Der Volkswagen stand in einem Dickicht und war ebenso verwüstet wie die Kabine derIsadora. Die Dachpolsterung hing in Fetzen herunter, die Sitze hatte man herausgenommen und aufgeschlitzt. Die Räder fehlten, doch Smiley vermutete, daß sie nachträglich abhandengekommen wa­ren. Die Lagerbewohner standen ehrfürchtig um das Auto ge­schart, als handle es sich um »ihr« Ausstellungsstück. Jemand hatte versucht, es anzuzünden, doch das Feuer war nicht ange­gangen.

»Er war nichts wert«, erklärte der Alte. »Wie die alle hier. Sehen Sie sich die Brüder doch an. Polacken, Verbrecher, Untermen­schen.«

Smileys Wagen war noch immer da, wo er ihn geparkt hatte, am Rand des Pfades, dicht neben den Abfallbehältern, und die bei­den blonden, gleich gekleideten Halbwüchsigen standen am Kofferraum und droschen mit Hämmern auf den Deckel ein. Er konnte sehen, wie ihre Stirnlocken bei jedem Schlag auf- und niederhüpften. Sie trugen Jeans und schwarze Stiefeletten, die mit Nieten in Form von Gänseblümchen geschmückt waren.

»Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören, auf meinen Wagen einzu­schlagen«, sagte Smiley zum Alten.

Die Lagerbewohner folgten ihnen in einiger Entfernung. Er konnte wieder das Schlurfen ihrer Schritte hören, wie eine Ar­mee von Flüchtlingen. Als er mit den Schlüsseln in der Hand sei­nen Wagen erreichte, waren die beiden Jungen immer noch über den rückwärtigen Teil gebeugt und schlugen aus Leibeskräften Darauf ein. Er ging um das Auto herum, um nachzusehen. Sie hatten den Kofferraumdeckel aus den Scharnieren geschlagen, ihn gebogen und wieder flach gedengelt, und jetzt lag er wie ein unförmiges Paket auf dem Boden. Er schaute auf die Räder, doch es schien nichts zu fehlen. Es fiel ihm nichts mehr ein, wo er noch nachsehen könnte. Da bemerkte er, daß sie einen Abfalleimer an die hintere Stoßstange gebunden hatten. Er zerrte an der Schnur, um sie abzureißen, doch sie gab nicht nach. Er versuchte es mit den Zähnen, ohne Erfolg. Der Alte lieh ihm ein Taschenmesser, und Smiley schnitt die Schnur durch, wobei er sich immer in ge­ziemender Entfernung von den beiden Jungen mit ihren Häm­mern hielt. Die Lagerbewohner hatten einen Halbkreis gebildet und hielten ihre Kinder zum Abschiedwinken hoch. Smiley stieg in das Auto, und der Alte knallte mit einem gewaltigen Schwung die Tür hinter ihm zu. Smiley steckte den Schlüssel in die Zün­dung, doch während er ihn drehte, hatte einer der Jungen sich lässig quer über die Kühlerhaube gelegt wie ein Modell bei einem Auto-Korso, und der andere klopfte höflich an die Scheibe.

Smiley kurbelte das Fenster herunter.

»Was wollen Sie?« fragte Smiley.

Der Junge hielt die Hand hin. »Reparatur«, erklärte er. »Ihr Kofferraum hat nicht ordentlich geschlossen. Arbeitszeit und Material. Unkosten. Parkgebühren.« Er deutete auf seinen Daumennagel. »Mein Kollege hat sich die Hand verletzt. Hätte schlimm ausgehen können.«

Smiley schaute in das Gesicht des Jungen und sah darin keine menschliche Regung, die er verstand.

»Sie haben gar nichts repariert. Nur Schaden angerichtet. Sagen Sie Ihrem Freund, er soll von meinem Wagen heruntergehen.«

Die beiden Jungen berieten sich, schienen uneins. Sie taten dies al­les unter den aufmerksamen Blicken der Menge, in äußerst gesetz­ter Form, stießen sich gegenseitig langsam mit den Schultern an und machten Rednergesten, die nicht mit ihren Worten überein­stimmten. Sie sprachen über Natur und Politik, und ihr platoni­scher Dialog hätte endlos weitergehen können, wenn der Junge auf dem Wagen sich nicht aufgerichtet hätte, um einem Argument besonderen Nachdruck zu verleihen. Dabei brach er einen Schei­benwischer ab und reichte ihn dem Alten wie eine Blume. Beim Wegfahren schaute Smiley in den Rückspiegel und sah einen Kreis von Gesichtern, die ihm nachstarrten, mit dem Alten in der Mitte. Niemand winkte. -

Er fuhr ohne Hast, wog seine Chancen ab, während das Auto schepperte wie ein alter Feuerwehrwagen. Er vermutete, daß sie mit dem Wagen noch irgendetwas angestellt hatten, was ihm entgangen war. Er hatte Deutschland schon öfter verlassen. Er war heimlich aus- und eingereist. Er hatte gejagt, während er selbst gejagt wurde, und obgleich er jetzt alt und in einem ande­ren Deutschland war, hatte er den Eindruck, wieder auf freier Wildbahn zu sein. Er wußte nicht, ob irgend jemand vom Cam­pingplatz an die Polizei telefoniert hatte, doch er nahm es als ge­geben an. Das Boot war offen, und sein Geheimnis lag klar zuta­ge. Alle, die weggeschaut hatten, würden sich nun als erste auf ihre Bürgerpflicht besinnen. Er hatte das alles schon erlebt.

Er fuhr in eine Küstenstadt, der Kofferraum - wenn es wirklich der Kofferraum war - schepperte immer noch hinter ihm. Viel­leicht ist es auch der Auspuff, dachte er: das Schlagloch, über das ich auf dem Weg zum Lager gefahren bin. Eine für die Jahreszeit ungewöhnlich heiße Sonne hatte die Morgennebel verdrängt. Nirgends waren Bäume, nur blendende Helle um ihn. Es war noch früh am Tag, und leere Pferdedroschken warteten auf die ersten Touristen. Der Sand wies ein Muster aus Kratern auf, die Sonnenanbeter im Sommer zum Schutz gegen den Wind gegra­ben hatten. Er konnte das blecherne Echo hören, das bei seiner Durchfahrt von den buntbemalten Ladenfassaden widerhallte und von der Sonne noch verstärkt zu werden schien. Wenn er an Leuten vorbeifuhr, sah er, wie ihre Köpfe sich hoben und ihm, wegen des Krachs, den er machte, nachstarrten.

>Sie werden den Wagen erkennen<, dachte er. Selbst wenn sich niemand von den Campern an die Nummer erinnerte, würde ihn der zertrümmerte Kofferraum verraten. Er bog von der Haupt­straße ab. Die Sonne war wirklich sehr stark.

>Ein Mann ist gekommen, Herr Wachtmeisters würden sie zur Funkstreife sagen. >Heute morgen, Herr Wachtmeister. Er hat gesagt, er sei ein Freund. Er hat im Boot nachgesehen und ist dann weggefahren. Er hat uns keine Fragen gestellt, Herr In­spektor. Er war völlig ungerührt. Er hat einen Schuh herausgefischt, Herr Wachtmeister. Stellen Sie sich vor: einen Schuh!<

Er folgte den Hinweisschildern zum Bahnhof und hielt dabei nach einem Platz Ausschau, wo er den Wagen den ganzen Tag abstellen könnte. Der Bahnhof war ein massiver Backsteinbau, wahrscheinlich von vor dem Krieg. Er fuhr daran vorbei und fand zu seiner Linken einen großen Parkplatz. Eine Baumzeile teilte ihn in zwei Hälften, und auf einigen Wagen lag abgefallenes Laub. Ein Automat nahm sein Geld und gab ihm dafür ein Ticket zum Anstecken an die Windschutzscheibe. Er fuhr in die Mitte einer Reihe rückwärts ein, stieß so weit es ging nach hinten bis zu einem Erdwall, so daß sein Kofferraum möglichst außer Sicht war. Er stieg aus, und die Hitze traf ihn wie ein Schlag. Es war nicht der leiseste Windhauch zu spüren. Er sperrte den Wagen ab und legte die Schlüssel in den Auspuff, ohne daß er hätte sagen können warum, vielleicht aus Schuldgefühl gegenüber der Ver­leihfirma. Er häufte mit dem Fuß Laub und Sand, bis das vordere Nummernschild fast verschwunden war. Bei diesem Altweiber­sommerwetter würden in einer Stunde hundert und noch mehr Wagen auf dem Parkplatz sein.

Er hatte ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Hauptstraße be­merkt. Er kaufte eine Leinenjacke und sonst nichts, denn an Leute, die sich vollständig ausstaffieren, erinnert man sich. Er zog die Jacke nicht an, sondern ließ sie in eine Plastiktüte stecken: In einer Seitenstraße voller Boutiquen kaufte er sich einen auffälligen Strohhut und in einem Papierwarengeschäft eine Wanderkarte von der Umgebung sowie einen Fahrplan von Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Auch den Hut setzte er nicht auf, sondern steckte ihn, wie die Jacke, in eine Plastiktüte. Die unerwartete Hitze machte ihm zu schaffen. Er ärgerte sich darüber, sie war so unangebracht wie Schnee im Sommer. Er betrat eine Telefonzelle und wälzte wieder Telefon­bücher. Das Ortsverzeichnis von Hamburg kannte keinen Kretzschmar, doch in einem der Telefonbücher von Schles­wig-Holstein stand ein Kretzschmar, der an einem Ort wohnte, von dem Smiley nie gehört hatte. Er studierte seine Landkarte und fand eine kleine Stadt, die so hieß und die zu seiner großen Genugtuung auf der Hauptbahnlinie nach Hamburg lag.

Wieder schob Smiley alle anderen Gedanken eisern beiseite und überdachte in aller Ruhe die Lage. Unmittelbar nach Auffindung des Wagens würde die Polizei sich mit der Verleihfirma in Ham­burg in Verbindung setzen. Sobald sie von ihr Namen und Per­sonenbeschreibung des Ausleihers bekommen hätte, würde sie den Flugplatz und andere Grenzstationen alarmieren. Kretz­schmar war ein Nachtvogel und würde lange schlafen. Die Stadt, in der er wohnte, war in einer Stande mit dem Personenzug zu erreichen.

Er ging wieder zum Bahnhof zurück. Die Schalterhalle war eine wagnersche Phantasie von einem gotischen Königshof, mit einer gewölbten Decke und einem riesigen Butzenscheibenfenster, durch das farbige Sonnenstrahlen auf den gekachelten Boden fie­len. Von einer Telefonzelle aus rief er den Flughafen Hamburg an, meldete sich mit J. Standfast, dem Namen, der auf dem Paß stand, den er in seinem Londoner Klub mitgenommen hatte. Das nächste Flugzeug nach London ging abends um sechs, aber es waren nur noch Plätze in der ersten Klasse verfügbar. Er buchte erste Klasse und sagte, er würde am Flugplatz den Aufschlag auf sein Economy Ticket bezahlen. Das Mädchen sagte: »Dann kommen Sie bitte eine halbe Stunde vor der Abfertigung.« Smi­ley versprach das - er wollte, daß sie sich daran erinnerte -, nein, leider, Mister Standfast konnte keine Telefonnummer angeben, unter der er bis dahin zu erreichen war. Nichts in ihrem Ton deu­tete an, daß ein Sicherheitsbeamter mit einem Fernschreiben in der Hand hinter ihr stand und ihr Anweisungen ins Ohr wisper­te, doch er vermutete, daß Mister Standfasts Platzreservierung in ein paar Stunden eine Kettenreaktion auslösen würde, denn schließlich hatte ja ein Mister Standfast den Opel gemietet. Er ging wieder zur Bahnhofshalle und zu den farbigen Lichtbün­deln zurück. Es waren zwei Schalter vorhanden, mit zwei kür­zen Schlangen davor. Am ersten bediente ihn ein intelligentes Mädchen, und er erstand einen Fahrschein, zweite Klasse, einfach, nach Hamburg. Doch es war ein absichtlich umständlicher Kauf, voller Unentschlossenheit und Nervosität. Und als er ihn getätigt hatte, wollte er sich die Abfahrts- und Ankunftszeiten aufschreiben. Wozu er sich von ihr Kugelschreiber und Schreib­block auslieh.

Auf der Herrentoilette räumte er zuerst den Inhalt seiner Ta­schen um, allem voran das wohlbehütete Stück Ansichtskarte aus Leipzigs Boot, zog die Leinenjacke an und setzte den Stroh­hut auf und ging dann zum zweiten Schalter, wo er ohne viel Aufhebens eine Fahrkarte für den Personenzug nach Kretz­schmars Wohnort kaufte. Dabei vermied er es, den Beamten an­zuschauen, konzentrierte sich im Schutz seines auffallenden Strohhuts völlig auf die Fahrkarte und das Fahrgeld. Bevor er die Halle verließ, traf er eine letzte Vorsichtsmaßnahme. Er rief bei Kretzschmar an, sagte, er habe sich verwählt und erfuhr von ei­ner empörten Frau, daß es ein Skandal sei, irgend jemanden zu so nachtschlafender Zeit aufzuwecken. Schließlich faltete er noch die Plastiktüten zusammen und steckte sie ein.

Die Stadt lag mitten im Grünen und bestand aus weitläufigen Ra­senflächen und sorgfältig eingezäunten Villen. Jeglicher Überrest einstmaligen Landlebens war seit langem den Armeen der Subur­bia anheimgefallen, doch die strahlende Sonne verschönte alles. Nummer acht war auf der rechten Straßenseite, ein stattliches, zweistöckiges Haus mit Walmdach und Doppelgarage inmitten einer breit gestreuten Auswahl viel zu eng aneinander gepflanzter Bäume. Eine Hollywoodschaukel mit geblümtem Plastiksitz stand neben einem Fischteich, Produkt der letzten Nostalgiewel­le. Doch die Hauptattraktion und Herrn Kretzschmars Stolz war ein Swimming-pool in einem eigens dafür angelegten Patio aus knallroten Ziegeln, und dort sah Smiley ihn im Schoß seiner Fami­lie und im Kreis einiger Nachbarn, die er an diesem unwahr­scheinlichen Herbsttag zu einer zwanglosen Gartenparty einge­laden hatte. Herr Kretzschmar war in Shorts und bediente höchst­selbst den Grill, und als Smiley auf die Klinke des Gartentors drückte, unterbrach er sein löbliches Tun, um sich nach dem Neuankömmling umzusehen. Doch der Strohhut und die Leinenjacke führten ihn irre, und er schickte seine Frau.

Frau Kretzschmar erschien in einem rosa Badeanzug und einen durchsichtigen rosa Umhang, den sie auf dem Weg zum Garten­tor kühn hinter sich herflattern ließ. Sie trug ein Sektglas vor sich her wie eine Kerze.

»Wer kommt denn da? Wer macht uns diese hübsche Überra­schung?« fragte sie neckisch, als spräche sie zu ihrem Hündchen. Sie blieb vor ihm stehen. Sie war braungebrannt und groß und, wie ihr Mann, solide gebaut. Smiley konnte nur wenig von ihrem Gesicht sehen, denn sie trug eine Sonnenbrille mit dunklen Glä­sern und einem weißen Plastikschnabel als Nasenschutz gegen Sonnenbrand.

»Hier ist die Familie Kretzschmar, die ihren Freizeitvergnügun­gen nachgeht«, sagte sie ein wenig zurückhaltender, als Smiley sich immer noch nicht vorgestellt hatte. »Was können wir für Sie tun? Womit können wir dienen?«

»Ich muß Ihren Mann sprechen«, sagte Smiley. Es waren seine ersten Worte seit dem Fahrscheinkauf und seine Stimme war be­legt und unnatürlich.

»Aber Cläuschen arbeitet tagsüber nicht«, sagte sie fest, wenn auch immer noch lächelnd. »Tagsüber hat das Profitdenken laut Familienerlaß Ruhe. Soll ich ihm Handschellen anlegen, um Ih­nen zu beweisen, daß er hier bis Sonnenuntergang unser Gefan­gener ist?«

Ihr Badeanzug war zweiteilig und ihr glatter, praller Bauch mit Sonnenöl eingerieben. Sie trug ein goldenes Kettchen um das Fußgelenk, wahrscheinlich als zusätzliches Zeichen ihrer Natür­lichkeit. Und Goldsandaletten mit sehr hohen Absätzen. »Bitte sagen Sie Ihrem Mann, daß es sich um nichts Geschäftli­ches handelt«, sagte Smiley. »Es ist ein Freundschaftsbesuch.« Frau Kretzschmar nippte an ihrem Sekt, dann nahm sie die dunklen Gläser mit dem Plastikschnabel ab, wie bei einem Mas­kenball um Mitternacht. Sie hatte eine Stupsnase. Ihr freundli­ches Gesicht war ein gut Teil älter als ihr Körper.

»Wie kann es sich um einen Freundschaftsbesuch handeln, wo ich nicht einmal Ihren Namen kenne?« fragte sie, unschlüssig darüber, ob sie weiterhin zuvorkommend oder abweisend sein sollte.

Inzwischen war Herr Kretzschmar ihr nachgegangen und ließ seinen Blick von Smiley zu seiner Frau, dann wieder zurück zu Smiley schweifen. Die gesetzte Haltung und der starre Gesichts­ausdruck des Besuchers ließen Herrn Kretzschmar vielleicht den Grund von Smileys Kommen ahnen.

»Schau nach dem Grill«, sagte er in knappem Ton.

Herr Kretzschmar nahm Smiley am Arm und führte ihn in ein Wohnzimmer mit Messingleuchtern und einem Panoramafen­ster voller Dschungelkakteen.

»Otto Leipzig ist tot«, sagte Smiley unvermittelt, sobald die Tür hinten ihnen zu war. »Zwei Männer haben ihn umgebracht.«

Herrn Kretzschmars Augen öffneten sich sehr weit, dann drehte er sich um und legte die Hände vors Gesicht.

»Sie haben eine Bandaufnahme gemacht«, sagte Smiley, ohne im mindesten auf diese Gefühlsentfaltung zu achten. »Es gibt das Foto, das ich Ihnen gezeigt habe, und irgendwo gibt es auch eine Bandaufnahme, die Sie für ihn verwahren.« Der Rücken vor Smi­ley ließ nicht erkennen, ob Herr Kretzschmar zugehört hatte. »Sie haben selbst gestern Nacht davon gesprochen«, fuhr Smiley im gleichen ungerührten Ton fort. »Sie sagten, sie hätten über Gott und die Welt geredet. Sie sagten, Otto hätte gelacht, wie ein Hen­ker, drei Sprachen gleichzeitig gesprochen, gesungen, Witze ge­rissen. Sie haben nicht nur die Fotos für Otto aufgenommen, son­dern auch das Gespräch. Ich vermute, daß Sie auch den Brief ha­ben, der ihm über Sie aus London geschickt wurde.«

Herr Kretzschmar hatte sich umgedreht und starrte in heller Empörung auf Smiley.

»Wer hat ihn umgebracht?« fragte er. »Herr Max, ich frage Sie als Soldat!«

Smiley hatte das abgerissene Stück Postkarte aus der Tasche ge­zogen.

»Wer hat ihn umgebracht?« wiederholte Herr Kretzschmar.

»Ich will es wissen!«

»Das sollte ich Ihnen doch vergangene Nacht bringen?« sagte Smiley, ohne auf seine Frage einzugehen. »Wer immer Ihnen das da bringt, bekommt dafür die Bänder und was Sie sonst noch für ihn verwahrt haben. So lautete die Abmachung zwischen Ihnen beiden.«

Kretzschmar nahm die Karte.

»Er nannte es seine Moskauer Regeln«, sagte Herr Kretzschmar.

»Otto und der General bestanden darauf, obgleich es mir per­sönlich lächerlich vorkam.«

»Haben Sie die andere Hälfte der Karte?« fragte Smiley.

»Ja«, sagte Herr Kretzschmar.

»Dann bitte prüfen Sie, ob sie zusammenpassen und geben Sie mir das Material. Ich werde es genau so verwenden, wie Otto dies gewünscht hätte.«

Er mußte es zweimal in jeweils anderer Formulierung sagen, be­vor Herr Kretzschmar antwortete.

»Versprechen Sie das?«

»Ja.«

»Und die Mörder? Was passiert mit denen?«

»Wahrscheinlich sind sie bereits auf der anderen Seite des Was­sers in Sicherheit«, sagte Smiley. »Es sind ja nur ein paar Kilome­ter.«

»Wozu soll das Material dann gut sein?«

»Das Material bringt den Mann in Schwierigkeiten, der die Mör­der ausgeschickt hat«, sagte Smiley, und vielleicht ließ die eiserne Beherrschung seines Besuchers Herrn Kretzschmar ahnen, daß Smiley ebenso schmerzlich, vielleicht sogar, auf seine spezielle Art, noch schmerzlicher betroffen war als er selbst.

»Es bedeutet also seinen Tod?« fragte Herr Kretzschmar.

Smiley ließ sich zur Beantwortung dieser Frage viel Zeit.

»Es bedeutet schlimmeres für ihn als den Tod«, sagte er.

Einen Augenblick schien es, als ob Herr Kretzschmar fragen wollte, was denn schlimmer sei als der Tod; doch er unterließ es.

Er hielt die halbe Postkarte apathisch in der Hand und verließ das Zimmer. Smiley wartete geduldig. Eine Messinguhr mit automa­tischem Aufzug werkte rastlos vor sich hin, Goldfische glotzten ihn aus einem Aquarium an. Herr Kretzschmar kam wieder zu­rück, mit einer weißen Pappschachtel in der Hand. Darinnen la­gen, in einem Polster aus Klosettpapier, ein Stoß zusammenge­falteter, fotokopierter Blätter, die mit einer ihm bereits vertrau­ten Handschrift bedeckt waren, sowie sechs Miniaturkassetten aus blauem Plastik, die Art, wie sie Menschen von heute bevor­zugen.

»Er hat sie mir anvertraut«, sagte Herr Kreztschmar.

»Das war klug von ihm«, sagte Smiley.

Herr Kretzschmar legte eine Hand auf Smileys Schulter: »Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie's mich wissen«, sagte er. »Ich habe meine Leute. Wir leben in einer gewalttätigen Zeit.«


Von einer Telefonzelle aus rief Smiley nochmals den Flughafen Hamburg an, um Mister Standfasts Flug nach London Heath­row zu bestätigen. Danach kaufte er Briefmarken und einen kräftigen Umschlag, auf den er eine fiktive Adresse in Adelaide, Australien, schrieb. Er steckte Mister Standfasts Paß hinein und warf das Kuvert in einen Briefkasten. Dann ging er als ganz ein­facher Mister George Smiley, Beruf Angestellter, zum Bahnhof zurück und fuhr ohne Zwischenfall über die Grenze nach Dä­nemark. Während der Fahrt ging er auf die Toilette und las dort Maria Ostrakowas Brief, alle sieben Seiten, die der General selbst auf Mikhels antiquiertem Naßkopierer in der kleinen Bi­bliothek am Britischen Museum abgelichtet hatte. Was er las, paßte zu dem, was er an diesem Tag erlebt hatte und erfüllte ihn mit wachsender, schier unbändiger Sorge. Per Bahn, Fährschiff und Taxi eilte er zum Flughafen Castrup in Kopenhagen. Von dort flog er am Nachmittag weiter nach Paris, und obwohl die Flugzeit nur eine Stunde betrug, füllte sie in Smileys Geist die Spanne eines Lebens und führte ihn durch die ganze Skala seiner Erinnerungen, Empfindungen und Erwartungen. Die Wut und Bestürzung über Leipzigs Ermordung, die er bis jetzt unter­drückt hatte, wallten nun in ihm auf, wichen aber sofort seiner Angst um die Ostrakowa: Wenn sie schon bei Leipzig und dem General vor nichts zurückgeschreckt waren, was würden sie dann erst mit der Ostrakowa anstellen? Die Blitzreise durch Schleswig-Holstein hatte ihm die Behändigkeit der Jugend wie­dergegeben, doch jetzt, nachdem der Höhepunkt überschritten war, fiel ihn erneut die unheilbare Gleichgültigkeit des Alters an. Wenn der Tod so nahe, so allgegenwärtig ist, dachte er, aus wel­chem Grund sollte man da weiterkämpfen? Er dachte wieder an Karla und an dessen Absolutheit, die zumindest dem dauernden Chaos, das Leben hieß, eine bestimmte Richtung gab, eine Rich­tung auf Gewalttätigkeit und Tod; an Karla, für den Mord nie mehr gewesen war als das notwendige Mittel zu einem großen Zweck.

Wie kann ich gewinnen? fragte er sich; allein, voller Zweifel und von Skrupeln gehemmt, wie kann ich da - wie könnte da irgend jemand von uns - gegen diese gnadenlosen Exekutionskomman­dos gewinnen?

Die bevorstehende Landung des Flugzeugs und die Aussicht auf neuerliche Jagd belebten ihn wieder. Es gibt zwei Karlas, über­legte er in Erinnerung an das unbewegte Gesicht, an die geduldi­gen braunen Augen, den drahtigen Körper des Mannes, der sto­isch auf seine eigene Zerstörung hinarbeitete. Da ist Karla, der Profi, der so kaltblütig war, daß er, wenn nötig, zehn Jahre war­ten konnte, bis sich ein Einsatz auszahlte: in Bill Haydons Fall, zwanzig; Karla, der alte Spion, der Pragmatiker, der ein Dut­zend Fehlschläge für einen großen Erfolg in Kauf nahm.

Und da ist der andere Karla, der Mann, der letzten Endes doch ein Herz besitzt, einer großen Liebe fähig ist, Karla, dem der Makel der Menschlichkeit anhaftet. Ich sollte mich nicht kopf­scheu machen lassen, wenn er, um seine Schwäche zu verteidi­gen, auf die einschlägigen Methoden seines Metiers zurückgreift. Als er in seinem Abteil nach dem Strohhut über sich griff und be­reits im Geist die nächsten Schachzüge plante, erinnerte Smiley sich an ein leichtsinniges Versprechen, das er einst gegeben hatte: Auch Karla könne man zu Fall bringen. »Nein«, war damals seine Antwort auf eine Frage gewesen, die fast aufs Haar derjeni­gen glich, die er sich soeben selber gestellt hatte. »Nein, Karla ist nicht kugelfest. Weil er ein Fanatiker ist. Und wenn ich dann noch ein Wort mitzureden habe, wird ihn eines Tages eben dieser Mangel an Mäßigung zu Fall bringen.«

Als er zum Taxistand hastete, fiel ihm ein, daß er diese Bemer­kung damals einem gewissen Peter Guillam gegenüber getan hat­te, Peter Guillam, an den er zufälligerweise gerade sehr viel den­ken mußte.

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