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Das Mädchen, das Alexandra genannt wurde, war seit genau ei­ner Stunde wach, seit dem Weckruf, doch als sie die Glocke ge­hört hatte, zog sie sofort die Knie in ihrem Kalikonachthemd in die Höhe, kniff die Augen zu und schwor bei sich selbst, daß sie noch immer schlief, ein ruhebedürftiges Kind. Die Glocke ras­selte wie Smileys Wecker um sieben Uhr los, doch schon um sechs hatte sie das Läuten aus dem Tal gehört, die katholischen Glocken, die protestantischen, dann die vom Rathaus, aber sie traute keiner von ihnen. Nicht diesem Gott, nicht jenem und am wenigsten den Bürgern mit ihren Fleischergesichtern, die beim jährlichen Fest mit herausgestreckten Bäuchen in Habachtstel­lung dastanden, während der Feuerwehrchor patriotische Lieder im Dialekt gröhlte.

Sie wußte das alles, denn man hatte ihr als besondere Vergünsti­gung erlaubt, an dem Fest teilzunehmen: Ihr erstes, und zu ih­rem großen Gaudium galt es, die gemeine Zwiebel zu feiern. Sie hatte zwischen Schwester Ursula und Schwester Béatitude ge­standen, und sie wußte, daß beide scharf aufpaßten für den Fall, daß sie, Alexandra, versuchte auszureißen oder daß sie ins Haus zurückrennen und verrückt spielen würde, und sie ließ eine Stunde langweiligster Ansprachen über sich ergehen, dann eine Stunde Gesang, begleitet von schmetternder militärischer Blechmusik. Anschließend ein Vorbeimarsch von Leuten in Dorftracht, die Ketten von Zwiebeln an langen Stöcken trugen, allen voran der Fahnenschwinger, der an gewöhnlichen Tagen die Milch zum Pförtnerhaus und, wann immer er daran vorbei­wischen konnte, zum Tor des Heims brachte, in der Hoffnung, eines der Mädchen durch das Fenster zu sehen, oder vielleicht war es auch Alexandra, die versuchte, ihn zu sehen.

Nachdem die Dorfglocken sechs Uhr geläutet hatten, beschloß Alexandra, in den tiefsten Tiefen ihres Bettes die Sekunden bis in alle Ewigkeit zu zählen. In ihrer selbstauferlegten Rolle als Kind hatte sie vor sich hingewispert: >eintausendundeins, eintausen­dundzwei. Um zwölf Minuten nach sechs, nach ihrer kindlichen Berechnung, hörte sie, wie die Oberin Felicitas auf dem Rück­weg von der Messe mit ihrem Prachtmoped die Anfahrt hinauf­schnurrte und dabei jedem verkündete, daß Felicitas-Felicitas -pop-pop - und niemand sonst - pop-pop - unsere Direktorin und die offizielle Ingangbringerin des Tages war: Niemand sonst - pop-pop - hatte das Zeug dazu. Sie hieß komischerweise gar nicht Felicitas, diesen Namen trug sie für die anderen Nonnen. Ihr eigentlicher Name war, wie sie Alexandra als Geheimnis an­vertraut hatte, Nadezhda, was >Hoffnung< bedeutet. Alexandra hatte dafür Felicitas gesagt, daßihr eigentlicher Name Tatjana sei und nicht Alexandra: Alexandra sei ein neuer Name, erklärte sie, den sie sich speziell für die Schweiz zugelegt habe. Doch Felici­tas-Felicitas hatte scharf erwidert, sie solle kein dummes Ding sein.

Nach der Ankunft von Mutter Felicitas hatte Alexandra die weiße Bettdecke bis zu den Augen hochgezogen und beschlos­sen, daß die Zeit still stehen solle, daß sie ein Kind sei in einem weißen Kinderreich, wo alles schattenlos war, selbst Alexandra, selbst Tatjana. Weiße Lampen, weiße Wände, ein weißes, eiser­nes Bettgestell. Weiße Heizkörper. Durch die hohen Fenster weiße Berge vor einem weißen Himmel.

Herr Dr. Rüedi, dachte sie, hier ist ein neuer Traum für unser nächstes Donnerstagsgespräch, oder ist es Dienstag?

Hören Sie gut zu, Herr Doktor. Reicht Ihr Russisch dazu aus? Manchmal behaupten Sie, mehr zu verstehen, als in Wirklichkeit der Fall ist. Schön, ich fange an. Ich heiße Tatjana, und ich stehe in meinem weißen Nachthemd vor der weißen Alpenlandschaft, versuche mit der weißen Kreide von Felicitas-Felicitas, deren wirklicher Name Nadezhda ist, auf die Bergwand zu schreiben. Ich trage nichts darunter. Sie behaupten, sich aus solchen Dingen nichts zu machen, aber wenn ich Ihnen erzähle, wie sehr ich meinen Körper liebe, dann sind Sie ganz Ohr, nicht wahr, Herr Dr. Rüedi? Ich kritzle mit der Kreide auf die Bergwand. Ich drücke darauf, wie mit einer Zigarette, die man ausmacht. Ich denke an die schmutzigsten Wörter, die ich kenne - jawohl, Herr Doktor Rüedi, dieses Wort, jenes Wort, doch ich fürchte, daß sie in Ihrem russischen Wortschatz fehlen -, ich versuche, sie hinzu­schreiben, aber weiß auf weiß, was kann ein kleines Mädchen schon bewirken, ich frage Sie, Herr Doktor?

Herr Doktor, es ist furchtbar, Sie dürfen nie meine Träume ha­ben. Wissen Sie, daß ich einst eine Hure war, namens Tatjana? Daß ich kein Unrecht tun kann? Daß ich Dinge in Brand stecken kann, auch mich selbst, den Staat schlecht machen und trotzdem von der weisen Obrigkeit nicht bestraft werde? Daß man mich statt dessen durch die Hintertür hinausläßt - geh, Tajana, geh.

Wußten Sie das?

Als sie Schritte auf dem Flur hörte, kroch Alexandra noch tiefer unter die Decke: Die Französin wird auf die Toilette geführt, dachte sie. Die Französin war das schönste Mädchen des Heims. Alexandra liebte sie, wegen ihrer Schönheit. Die Französin hob damit das ganze System aus den Angeln. Selbst wenn sie in die Zwangsjacke gesteckt wurde - weil sie sich selbst verkratzt oder besudelt oder irgendetwas zerbrochen hatte - schaute ihr En­gelsgesicht sie an wie eine der zahlreich vorhandenen Ikonen. Selbst wenn sie ihr form- und knopfloses Nachtgewand trug, spannten ihre Brüste den Stoff zu einem steilen Grat, und nie­mand, nicht einmal die Eifersüchtigsten, nicht einmal Felicitas-Felicitas, die eigentlich >Hoffnung< hieß, konnte sie daran hin­dern, wie ein Filmstar auszusehen. Wenn sie sich die Kleider vom Leib riß, dann starrten die Nonnen sie in einer Art begehrli­chem Schauder an. Nur die Amerikanerin hatte es an Schönheit mit ihr aufnehmen können, aber die Amerikanerin war wegge­bracht worden, sie war zu schlimm gewesen. Die Französin war schon schlimm genug mit ihrem Entkleidungsfimmel, ihrer Pul­sadernaufschneiderei, ihren Wutanfällen gegenüber Felici-

tas-Felicitas - aber das war alles nichts im Vergleich zu dem, was die Amerikanerin getrieben hatte, bevor sie wegging. Die Schwestern hatten Kranko aus dem Pförtnerhaus holen müssen, damit er sie zur Verabreichung einer Spritze niederhielte. Sie hat­ten dazu den ganzen restlichen Flügel räumen lassen müssen, doch als der Kastenwagen die Amerikanerin wegbrachte, war es wie ein Todesfall in der Familie gewesen, und Schwester Béati­tude hatte während der ganzen Morgenandacht geweint und spä­ter, als Alexandra sie drängte, alles zu erzählen, hatte Schwester Béatitude sie bei ihrem Kosenamen genannt, ein sicheres Zeichen von Verzweiflung.

»Die Amerikanerin ist nach Untersee gegangen«, hatte sie auf Drängen Alexandras unter Tränen gesagt. »Oh, Sascha, Sascha, versprich mir, daß du nie nach Untersee gehen wirst.« So wie man sie in dem Leben, von dem sie nicht sprechen durfte, gebeten hat­te: »Tatjana, du darfst diese verrückten und gefährlichen Dinge nicht tun!«

Danach war >Untersee< für Alexandra zum schlimmsten Schreck­gespenst geworden, zu einer Drohung, die sie jederzeit zur Räson bringen konnte, auch wenn sie noch so ungebärdig war: »Wenn du böse bist, kommst du nach Untersee, Sascha. Wenn du Herrn Doktor Rüedi ärgerst, vor ihm deinen Rock hochziehst und die Beine übereinanderschlägst, muß dich Mutter Felicitas nach Un­tersee schicken. Ruhig, oder du kommst nach Untersee.«

Die Schritte kamen wieder den Flur zurück. Die Französin wird zum Anziehen gebracht. Manchmal wehrte sie sich dagegen und landete in der Zwangsjacke. Manchmal ließ man Alexandra ho­len, damit sie das Mädchen beruhigen solle. Sie kämmte dann wortlos der Französin das Haar, solange, bis das Mädchen sich entspannte und anfing, ihr die Hände zu küssen. Dann wurde Alexandra fortgeschickt, denn Liebe stand nicht, stand keines­wegs, stand unter gar keinen Umständen auf dem Lehrplan. Die Tür flog auf und Alexandra hörte Felicitas-Felicitas' artige Stimme, die sie mahnte wie ein altes Kindermädchen in einem russischen Stück:

»Sascha! Du mußt sofort aufstehen! Sascha, wach sofort auf! Sa­scha, wach auf! Sascha!«

Sie kam einen Schritt näher. Alexandra fragte sich, ob sie wohl die Decke wegreißen und sie aus dem Bett ziehen würde. Mutter Felicitas konnte, trotz ihres aristokratischen Bluts, rauh sein wie ein Soldat. Sie war kein Tyrann, verstand aber keinen Spaß und war schnell eingeschnappt.

»Sascha, du kommst zu spät zum Frühstück. Die anderen Mäd­chen werden auf dich schauen und lachen und sagen, daß wir dummen Russen immer zu spät dran sind. Sascha? Sascha, willst du die Morgenandacht versäumen? Gott wird sehr böse auf dich sein, Sascha. Er wird traurig sein, und Er wird weinen. Vielleicht muß Er sich auch überlegen, wie Er dich bestrafen soll.«

Sascha, willst du nach Untersee kommen?

Alexandra drückte die Lider noch fester zu. Ich bin sechs Jahre alt, und ich brauche meinen Schlaf, Ehrwürdige Mutter. Gott, mach mich fünf Jahre alt, Gott, mach mich vier. Ich bin drei Jahre alt und brauche meinen Schlaf.

»Sascha, hast du vergessen, daß heute dein besonderer Tag ist? Sascha, hast du vergessen, daß heute dein Besuch kommt?«

Gott, mach, daß ich zwei Jahre alt bin, Gott, mach, daß ich ein Jahr alt bin, Gott, mach, daß ich nichts bin und ungeboren. Nein, ich habe meinen Besuch nicht vergessen, Ehrwürdige Mutter. Ich hab' an meinen Besuch gedacht vor dem Einschla­fen, ich hab' von ihm geträumt, ich hab' an nichts anderes ge­dacht, seit ich wach bin. Aber, Ehrwürdige Mutter, ich will mei­nen Besuch heute nicht und auch an keinem anderen Tag, ich kann nicht, ich kann mein Leben nicht in die Lüge zwingen, ich weiß nicht, wie ich das machen soll, und darum will ich nicht, will ich ganz und gar nicht, daß der Tag beginnt.

Gehorsam kletterte Alexandra aus dem Bett.

»Brav«, sagte Mutter Felicitas und gab ihr einen flüchtigen Kuß» bevor sie den Flur hinuntereilte, wobei sie ständig »Wieder zu spät! Wieder zu spät!« rief und in die Hände klatschte, >husch, husch<, als wolle sie eine Herde dummer Hühner scheuchen.

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