27

Es ist, als setze man sein ganzes Geld auf Schwarz, dachte Guil­lam, als er aus dem Fenster des Cafes starrte: Alles, was man auf der Welt hat, seine Frau, sein ungeborenes Kind. Und dann war­tet, Stunde um Stunde, bis der Croupier die Scheibe in Bewe­gung setzt.

Er hatte Berlin gekannt, als es noch die Welthauptstadt des Kal­ten Krieges war, als jeder Übergang von Ost nach West einem chirurgischen Eingriff gleichkam. Er erinnerte sich, wie in Nächten wie dieser Scharen von Berliner Polizisten und alliierter Soldaten immer unter den Bogenlampen herumstanden, füße­stapfend auf die Kälte fluchten, das Gewehr von einer Schulter auf die andere warfen und sich gegenseitig frostige Atemwolken ins Gesicht bliesen. Er erinnerte sich, wie die Tanks mit laufen­dem Motor warteten, die Kanonenläufe in Imponiergebärde nach drüben gerichtet. Er erinnerte sich an das plötzliche Auf­heulen von Alarmsirenen und an die Blitzfahrt zur Bernauer­straße oder wo immer der letzte Fluchtversuch stattgefunden hatte. Er erinnerte sich an das Ausfahren von Feuerwehrleitern, die Befehle, zurückzuschießen; nicht zurückzuschießen; an die Toten, einige davon Agenten. Doch nach der heutigen Nacht, das wußte er, würde er sich an die Stadt nur noch als etwas erin­nern, das so dunkel war, daß man nicht ohne Taschenlampe auf die Straße gehen wollte, so still, daß man das Spannen eines Ge­wehrhahns über den Fluß herüber hörte.

»Was wird er als Tarnung benützen?« fragte er.

Smiley saß ihm an dem kleinen Plastiktisch gegenüber, an seinem rechten Ellbogen stand eine Tasse mit kaltem Kaffee. Er sah sehr klein aus in seinem Mantel.

»Etwas Bescheidenes«, sagte Smiley. »Etwas Passendes. Hier kommen meist nur betagte Rentner herüber, nehme ich an.« Er rauchte eine von Guillams Zigaretten, die seine gesammelte Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien.

»Was um alles auf der Welt wollen denn Rentner hier?« fragte Guillam.

»Manche arbeiten. Manche besuchen Verwandte. Ich habe mich nicht sehr eingehend erkundigt, fürchte ich.«

Guillam schien diese Erklärung nicht zu befriedigen.

»Wir Rentner bleiben am liebsten unter uns«, fügte Smiley in dem kläglichen Versuch, einen Scherz zu machen, hinzu.

»Wem sagen Sie das«, sagte Guillam.

Das Cafe lag im türkischen Viertel, denn die Türken sind jetzt die armen Weißen von West-Berlin, und Wohnungen sind am miesesten und am billigsten in der Nähe der Mauer. Smiley und Guillam waren die einzigen Fremden. An einem langen Tisch saß eine ganze türkische Familie, kaute Fladenbrot und trank Kaffee und Coca Cola. Die Kinder hatten kahlgeschorene Schädel und die großen, verwunderten Augen von Flüchtlingen. Islamitische Musik ertönte von einem alten Bandgerät. Farbige Plastikbänder hingen von dem aus einer Hartfaserplatte geschnittenen islami­tischen Türbogen.

Guillam wandte den Blick wieder dem Fenster und der Brücke zu. Zuerst kamen die Pfeiler der Hochbahn, dann das alte Back­steinhaus, das von Sam Collins diskret als Beobachtungszentrale requiriert worden war. Seine Leute hatten in den letzten beiden Tagen heimlich darin Stellung bezogen. Dann kam der Lichthof von Bogenlampen und dahinter eine Absperrung, ein MG-Stand und schließlich die Brücke. Die Brücke war nur für Fußgänger, und der einzige Weg darüber bestand aus einem stahlumzäunten, laufgitterartigen Korridor, der manchmal einer, manchmal drei Personen Durchgang gewährte. Gelegentlich kam jemand mit beflissen harmloser Miene und steten Schritts herüber, bemüht, den Wachturm nicht zu beunruhigen, und trat dann in den Lichtkreis der Bogenlampen, wenn er den Westen erreicht hatte. Bei Tageslicht war der Laufgang grau, nachts aus irgendeinem Grund gelb und seltsam leuchtend. Der MG-Stand befand sich einen oder zwei Meter innerhalb der Grenze, sein Dach über­ragte nur knapp die Absperrung. Beherrscht wurde das Ganze von dem Turm, einem eisenschwarzen, rechteckigen Gebilde in der Mitte der Brücke. Selbst der Schnee hielt sich von ihm fern. Er lag auf den Betonzähnen, die jeglichen Autoverkehr verhin­derten, er wirbelte um die Lampen und den MG-Stand und ließ sich malerisch auf das Kopfsteinpflaster nieder; doch der Wach­turm war tabu, als ob nicht einmal der Schnee sich ihm aus eige­nem freien Willen nähern wollte. Kurz vor den Lampen verengte sich der Laufgang zu einem letzten Gatter und einem Pferch. Das Gatter, sagte Toby, konnte im nu vom Inneren des MG-Stands aus automatisch geschlossen werden.

Es war zehn Uhr dreißig, doch es hätte ebensogut drei Uhr mor­gens sein können, denn an der Grenze entlang geht Berlin mit Einbruch der Dunkelheit schlafen. Im Landesinneren mag die Inselstadt plaudern und trinken und huren und ihr Geld verpul­vern; die Leuchtreklamen und die wiederaufgebauten Kirchen und Konferenzhallen mögen glitzern wie ein Rummelplatz: Auf den dunklen Grenzstreifen schweigt das Leben ab sieben Uhr abends. Dicht neben den Bogenlampen stand ein Christbaum, aber nur die obere Hälfte war mit Lichtern versehen, denn nur die obere Hälfte konnte man vom anderen Ufer aus sehen. Es ist ein Ort, der keinen Kompromiß kennt, dachte Guillam, keinen dritten Weg. Welche Vorbehalte er auch gelegentlich gegenüber der westlichen Freiheit gehegt haben mochte, an dieser Grenze wurden sie, wie die meisten anderen Dinge, null und nichtig. »George«, sagte Guillam leise und warf Smiley einen fragenden Blick zu.

Ein Arbeiter war in den Lichtkreis getreten. Er schien förmlich hineinzuwachsen, wie alle, wenn sie aus dem Laufgang kamen: Als sei eine Last von ihren Schultern gefallen. Er trug eine kleine Mappe und etwas, das wie eine Eisenbahnerlampe aussah. Er war von schmalem Wuchs. Doch Smiley war, wenn er den Mann überhaupt bemerkt hatte, wieder zu den Revers seines braunen Mantels und zu seinen einsamen, in der Ferne weilenden Gedan­ken zurückgekehrt. »Wenn er kommt, kommt er pünktlich«, hatte er gesagt. Warum müssen wir dann zwei Stunden früher hier sein? war Guillam versucht zu fragen. Warum sitzen wir hier wie zwei Fremde, trinken aus winzigen Tassen süßen Kaf­fee, der vom Dampf der elenden türkischen Küche durchtränkt ist und reden nichtssagendes Zeugs? Aber er kannte die Antwort bereits. Weil wir dazuverpflichtet sind, würde Smiley gesagt ha­ben, wenn Smiley in gesprächiger Stimmung gewesen wäre. Weil wir verpflichtet sind, uns zu sorgen und zu warten, verpflichtet, die Bemühungen eines Mannes zu honorieren, der dem System entrinnen will, das er mitgeholfen hat zu schaffen. Denn solange er versucht, uns zu erreichen, sind wir seine Freunde. Niemand sonst ist auf seiner Seite.

Er kommt, dachte Guillam. Er kommt nicht. Er kommt viel­leicht. Wenn das kein Gebet ist, dachte er, was ist dann eins?

»Noch einen Kaffee, George?«

»Nein, danke Peter; nein, ich glaube nicht. Nein.«

»Es scheint auch so etwas wie Suppe zu geben. Falls das nicht der Kaffee war.«

»Vielen Dank, ich glaube, ich habe alles zu mir genommen, was in mich hineingeht«, sagte Smiley im Plauderton, so, als wolle er jedem eventuellen Lauscher die Möglichkeit geben, auf seine Kosten zu kommen.

»Vielleicht sollten wir etwas bestellen, nur einfach als Miete«, sagte Guillam.

»Miete? Verzeihung. Natürlich. Weiß Gott, wovon sie leben.«

Guillam bestellte zwei weitere Kaffees, die er sofort bezahlte. Er tat dies jedesmal, für den Fall, daß sie schnell weg müßten.

Komm George zuliebe, dachte er, mir zuliebe. Komm ver­dammt nochmal uns allen zuliebe, damit wir die unmögliche Ernte einbringen können, von der wir schon so lange träumen.

»Wann haben Sie gesagt, daß das Baby fällig ist, Peter?«

»Im März.«

»Ah, im März. Wie werden Sie es nennen?«

»Das haben wir uns eigentlich noch nicht überlegt.«

Im Licht eines Möbelgeschäftes, das Schmiedeeisen-Imitatio­nen, Brokat und falsche Zinnkrüge und Musketen verkaufte, bemerkte Guillam die vermummte Gestalt Toby Esterhases, der unter seiner balkanesischen Pelzmütze heraus angelegentlich das Warenangebot musterte. Toby und sein Team hielten die Stra­ßen besetzt, Sam Collins den Beobachtungsposten: So war es ab­gemacht. Toby hatte darauf bestanden, daß Taxis als Fluchtwa­gen genommen wurden, und da waren sie, drei an der Zahl, ge­bührend schäbig, in der Dunkelheit unter den Bogen der Hoch­bahn, an ihren Windschutzscheiben steckten Schilder mit der Aufschrift >Außer Dienst<, und ihre Fahrer lungerten am Imbiß­stand und aßen Würstchen mit süßem Senf von Papiertellern. Der Ort ist ein Minenfeld, Peter, hatte Toby gewarnt. Türken, Griechen, Jugoslawen, ein Haufen Gauner - selbst die Katzen sind elektrisch geladen, ohne Spaß.

Nirgends auch nur ein Flüstern, hatte Smiley befohlen. Kein Mucks, Peter. Sagen Sie das Collins.

Komm schon, dachte Guillam beschwörend. Wir stehen uns für dich alle die Beine in den Bauch. Komm schon.

Von Tobys Rücken hob Guillam den Blick langsam bis zum obersten Fenster des alten Hauses, wo Collins Beobachtungspo­sten war. Guillam hatte sein Berlin-Soll erfüllt, war ein dut­zendmal mit dabei gewesen. Die Fernrohre und Kameras, die Richtmikrophone, der ganze nutzlose Trödel, der angeblich das Warten leichter machte; das Knistern der Funkgeräte, der Kaf­fee- und Tabakgestank; die Klappbetten. Er stellte sich den ab­kommandierten westdeutschen Polizisten vor, der keine Ah­nung hatte, was er eigentlich hier sollte, und der würde bleiben müssen, bis zum erfolgreichen Abschluß oder zum Abbruch der Operation - der Mann, der die Brücke auswendig kannte, die re­gelmäßigen von den gelegentlichen Grenzgängern zu unter­scheiden vermochte und das geringste böse Omen auf der Stelle ausmachen konnte: die lautlose Wachverstärkung, die Vopo-Scharfschützen, die unauffällig in Stellung gingen.

Und wenn sie ihn erschießen? dachte Guillam. Wenn sie ihn ver­haften? Wenn sie ihn, nach bewährter Art, auf dem Laufgang, keine zwei Meter vom Lichtkreis der Lampen entfernt, mit dem Gesicht nach unten verbluten lassen?

Komm schon, dachte er ein bißchen weniger zuversichtlich und richtete seine Gebete an den schwarzen Horizont im Osten.

Komm trotz allem.

Ein dünner, sehr heller Lichtstrahl huschte über das oberste, nach Westen gehende Fenster des Beobachterhauses und brachte Guillam auf die Beine. Er drehte sich um und sah, daß Smiley be­reits auf dem halben Weg zur Tür war. Toby Esterhase erwartete sie auf dem Gehsteig.

»Es ist nur eine Möglichkeit, George«, sagte er im Ton eines Mannes, der jemand eine Enttäuschung ersparen will. »Nur eine schmale Chance, aber es könnte unser Mann sein.«

Sie folgten ihm wortlos. Die Kälte war grimmig.

Sie gingen an einem Schneiderladen vorbei, in dem zwei dunkel­haarige Mädchen nadelten. Sie gingen an Plakaten vorbei, die bil­ligen Skiurlaub, Tod den Faschisten und Tod dem Schah anbo­ten. Die Kälte nahm ihnen den Atem. Als Guillam wegen des wirbelnden Schnees den Kopf zur Seite drehte, sah er einen Abenteuerspielplatz mit alten Eisenbahnschlafwagen. Sie gingen in der pechschwarzen, frostigen Dunkelheit an düsteren, toten Gebäuden entlang, dann nach rechts über die gepflasterte Straße zum Flußufer, wo ein alter, kugelsicherer Holzunterstand mit Schießscharten war, von dem aus man die ganze Länge der Brücke überblicken konnte. Zu ihrer Linken hob sich ein gro­ßes, mit Stacheldraht umwickeltes Holzkreuz schwarz gegen das feindselige Ufer ab, erinnerte an einen Unbekannten, der es nicht ganz geschafft hatte.

Toby zog schweigend einen Feldstecher aus dem Mantel und reichte ihn Smiley.

»George. Hören Sie. Viel Glück, okay?«

Tobys Hand schloß sich kurz um Guillams Arm. Dann ver­schwand er wieder in der Dunkelheit.

Die Luft im Unterstand war stickig und roch nach vermodertem Laub. Smiley kauerte sich an die Schießscharte, der Saum seines Tweedmantels schleifte über den Schmutz, während er die Szene vor sich betrachtete, als spielte sich in ihr sein eigenes langes Le­ben ab. Der Fluß war breit und langsam und nebelig vor Kälte. Bogenlampen ließen ihre Strahlen, in denen der Schnee tanzte, darüber spielen. Die Brücke ruhte auf mächtigen Steinpfeilern, sechs oder acht an der Zahl, die sich, wo sie ins Wasser tauchten, zu klobigen Sockeln verdickten. Zwischen den Pfeilern rundeten sich Bogen, von denen einer, der mittlere, so begradigt war, daß Schiffe durchfahren konnten. Doch das einzige Schiff war ein graues, am Ostufer festgemachtes Patrouillenboot, und das ein­zige Handelsgut, das es zu bieten hatte, war der Tod. Hinter der Brücke stand, wie ihr eigener, riesiger Schatten, die Bahnüber­führung, aber wie der Fluß war auch sie stillgelegt, es fuhren keine Züge mehr darüber. Die Lagerhäuser am fernen Ufer wirk­ten monströs, wie die Gefängnisschiffe eines vergangenen, bar­barischen Zeitalters, und die Brücke mit ihrem gelben Laufgang schien auf halber Höhe aus ihnen herauszuspringen, wie ein phantastischer Lichtweg aus der Dunkelheit. Von seinem strate­gischen Punkt aus konnte Smiley mit dem Feldstecher die ganze Strecke überblicken, von dem flutlichtüberstrahlten, weißen Ba­rackenbau am Ostufer bis zum schwarzen Wachturm am Ende der Steigung und dann, leicht bergab nach der westlichen Seite, bis zum Pferch, dem MG-Stand, der das Gatter überwachte, und schließlich dem Lichthof der Bogenlampen.

Guillam stand knapp hinter ihm, doch Guillam hätte ebensogut in Paris sein können, so wenig war Smiley sich seiner Anwesen­heit bewußt: Er hatte gesehen, wie die einsame, schwarze Gestalt zu ihrem Gang ansetzte; er hatte das Aufglühen des Zigaretten­stummels gesehen, als der Mann einen letzten Zug tat; den Fun­kenregen, als er ihn über die Eisenumzäunung des Laufgangs ins Wasser schnippte. Ein kleiner Mann, in einem halblangen Ar­beitskittel, eine Werkzeugtasche über die schmale Brust ge­hängt, der weder schnell noch langsam ging, sondern eben so wie ein Mann, der gewohnt ist, viel zu gehen. Ein kleiner Mann, der Körper ein bißchen zu groß im Verhältnis zu den Beinen, bar­häuptig trotz des Schnees. Das ist alles, dachte er: Ein kleiner Mann geht über eine Brücke.

»Ist er es?« flüsterte Guillam. »George, sagen Sie. Ist es Karla?«

Komm nicht, dachte Smiley. Schießt doch, dachte Smiley und sprach zu Karlas Leuten, nicht zu den seinen. Der Gedanke, daß dieses schmächtige Wesen dabei war, sich von der unüberwindli­chen Festung in seinem Rücken abzuschneiden, dieses Vorher­wissen war ihm plötzlich unerträglich. Schießt ihn nieder vom Wachturm aus, vom MG-Stand, von dem weißen Barackenbau, von dem Ausguck des Lagerhausgefängnisses aus, schlagt das Gatter vor ihm zu, legt ihn um, euren Verräter, tötet ihn! In sei­ner fieberhaften Phantasie sah er, wie die Szene sich abspielte: Die Moskauer Zentrale entdeckt in letzter Minute Karlas Schandtat und telefoniert an die Grenze: >Haltet ihn auf, um je­den Preis.< Und schließlich die Schüsse, nie zuviele, gerade ge­nug, um einen Mann ein- oder zweimal zu treffen. Dann das Abwarten.

»Er ist es!« flüsterte Guillam. Er hatte das Fernglas aus Smileys willenloser Hand genommen. »Es ist derselbe Mann. Das Foto, das an Ihrer Wand im Circus hing. George, Sie Zauberkünstler!« Doch Smiley sah im Geist nur die Suchscheinwerfer der Vopos, die Karla einfingen wie Autoscheinwerfer einen Hasen, so schwarz vor dem weißen Hintergrund des Schnees, sah Karlas hoffnungslosen Altmännerlauf, bevor die Kugeln ihn von den Beinen rissen und wie eine Stoffpuppe purzeln ließen. Wie Guil­lam hatte Smiley das alles schon einmal miterlebt. Er schaute wieder über den Fluß in die Dunkelheit, und ein frevlerischer Schwindel erfaßte ihn, als das Böse, das er bekämpft hatte, nach ihm zu greifen, von ihm Besitz zu nehmen schien, trotz seiner Gegenwehr auf ihn Anspruch erhob und ihn auch einen Verräter nannte; ihn verspottete und zugleich seinen Verrat guthieß. Über Karla war der Fluch von Smileys Mitgefühl gekommen; über Smiley der Fluch von Karlas Fanatismus: Ich habe ihn mit den Waffen zerstört, die ich verabscheute, mit den seinen. Wir haben einer des anderen Grenze überschritten, wir sind Nie­mande in diesem Niemandsland.

»Nur immer weitergehen«, murmelte Guillam. »Nur immer weitergehen, laß dich durch nichts aufhalten.«

Als er sich der Schwärze des Wachturms näherte, machte Karla ein paar kürzere Schritte, und einen Augenblick lang dachte Smi­ley wirklich, er habe sich eines anderen besonnen und wolle sich den Ostdeutschen ergeben. Dann sah er das Züngeln einer Flamme, als Karla sich eine neue Zigarette anzündete. Mit einem Zündholz oder mit einem Feuerzeug? fragte sich Smiley. Für George von Ann in aller Liebe.

»Mann, der hat Nerven!« sagte Guillam.

Die kleine Gestalt setzte sich wieder in Bewegung, doch langsa­mer, als sei sie müde geworden. Er facht seinen Mut für den letz­ten Schritt an, dachte Smiley, oder er versucht, seinen Mut zu zügeln. Er dachte an Waldimir und an Otto Leipzig und an den toten Kirow, er dachte an Haydon und an die Trümmer seines eigenen Lebens; er dachte an Ann, die Karlas listige und Hay­dons berechnende Liebesmühe in seinen Augen für immer ge­zeichnet hatte. Er sagte sich in seiner Verzweiflung eine ganze Liste von Verbrechen vor- die Folterungen, die Morde, die end­lose Kette der Korruption -, die dem einsamen Fußgänger auf der Brücke anzulasten waren, doch die Last glitt von den schmächtigen Schultern des Mannes: Er wollte die Beute nicht, die mit diesen Methoden erjagt worden war. Und wieder hatte Smiley den Eindruck, daß der gezackte Horizont ihn zu sich hinüberwinkte, ihn im Inferno des wirbelnden Schnees ansog wie ein schwindelerregender Abgrund. Eine weitere Sekunde stand er schwankend am Rand des schwelenden Flusses.

Sie hatten sich in Bewegung gesetzt und gingen nun den Treidel­weg entlang, Guillam voraus, Smiley widerstrebend hinterher. Der Lichtkreis lag vor ihnen, wurde immer größer, je mehr sie sich ihm näherten. Wie zwei gewöhnliche Fußgänger, hatte Toby gesagt. Gehen Sie einfach zur Brücke und warten Sie, das ist völlig normal. Aus der Dunkelheit um ihn hörte Smiley flüsternde Stimmen und das flüchtige, gedämpfte Geräusch von hastigen, mit Nervosität geladenen Bewegungen. George, flüsterte je­mand. George. In einer gelben Telefonzelle hob eine unbekannte Gestalt die Hand zu einem diskreten Gruß, und er hörte, wie ihm durch die nasse, gefrierende Luft das Wort Sieg zuge­schmuggelt wurde. Der Schnee trübte seine Gläser, und er hatte Mühe zu sehen. Hinter den Fenstern des Beobachtungspostens zu ihrer Rechten brannte kein Licht. Vor dem Hauseingang be­merkte Smiley einen geparkten Kastenwagen und stellte fest, daß es ein Berliner Postauto war, Tobys Lieblingsmarke. Guillam blieb zurück. Smiley hörte so etwas wie >Preis einheimsen<. Sie hatten den Saum des Lichtkreises erreicht. Ein orangefarbener Wall entzog Brücke und Absperrung ihren Blicken. Doch auch sie waren außerhalb der Sichtlinie des Schilderhauses. Toby Ester­hase stand, über dem Christbaum schwebend, auf dem Beobach­tungsgerüst und mimte, mit einem Fernglas bewaffnet, gelassen den Kalten-Krieg-Touristen, sekundiert von einer stämmigen Observantin. Ein alter Anschlag machte ihnen klar, daß sie auf ei­gene Gefahr hier standen. Auf der zerstörten Backsteinüberfüh­rung erspähte Smiley ein vergessenes Wappen. Toby machte eine winzige Handbewegung: Daumen nach oben, unser Mann kommt. Von jenseits des Walls hörte Smiley leichte Fußtritte und das Vibrieren eines Eisengitters. Er nahm den Geruch einer ame­rikanischen Zigarette wahr, den der eisige Wind dem Raucher vorausschickte. Da ist immer noch das automatisch gesteuerte Gatter, dachte er. Er wartete auf das hallende Geräusch des Zu­schlagens, doch es kam keines. Er überlegte, daß er eigentlich gar nicht wußte, wie er seinen Gegner anreden sollte: Er kannte nur einen Codenamen und noch dazu einen weiblichen. Selbst sein militärischer Rang war ein Geheimnis. Und immer noch zögerte Smiley, wie jemand, der sich weigerte, die Bühne zu betreten.

Guillam schloß zu ihm auf und schien zu versuchen, ihn vorwärts zu drängen. Er hörte leise Fußtritte, als Tobys Observanten im Schutz des Walls zum Rand der beleuchteten Zone kamen, wo sie mit angehaltenem Atem auf das Kommen des Wildes warteten. Und plötzlich stand er da, wie ein Mann, der unbemerkt in eine belebte Halle gleitet. Seine kleine, rechte Hand hing flach und bloß an der Seite herunter, die Linke hielt die Zigarette schüch­tern vor der Brust. Ein kleiner Mann, barhäuptig, mit einer Werkzeugtasche. Er trat einen Schritt vor, und im Lichtschein sah Smiley sein Gesicht, gealtert, müde und gezeichnet, das kurze Haar vom Schnee weiß gestäubt. Er trug ein schmuddeli­ges Hemd und eine schwarze Krawatte: ein armer Mann, der zum Begräbnis eines Freundes geht. Die Kälte hatte seine Wan­gen tief nach unten gezogen und so seinem Alter noch ein paar Jahre hinzugefügt. Sie sahen sich an; sie waren vielleicht einen Meter voneinander entfernt, wie damals im Gefängnis von Delhi. Smiley hörte wieder Schritte, und diesmal kam das Ge­räusch von Toby, der behend die Holzleiter herunterkletterte; er hörte leise Stimmen und leises Gelächter; er glaubte sogar ein Geräusch zu vernehmen, das sich wie leichtes Schulterklopfen anhörte, aber er war sich nicht sicher; es wimmelte von Schatten, und sobald er im Lichtkreis stand, hatte er Mühe, darüber hin­auszusehen. Paul Skordeno glitt nach vorne und nahm auf einer Seite Karlas Aufstellung, Nick de Silsky auf der anderen. Er hörte Guillam zu irgend jemandem sagen, man möge doch den verdammten Wagen herbringen, bevor sie über die Brücke kä­men und ihn wieder zurückholten. Er hörte das Klirren von et­was Metallischem, das aufs Pflaster fiel, und er wußte, daß es Anns Feuerzeug war, doch außer ihm schien es niemand be­merkt zu haben. Sie wechselten noch einen Blick, und vielleicht sah jeder diese eine Sekunde lang in dem anderen etwas von sich selbst. Er hörte das Knirschen von Reifen und das Geräusch von aufgehenden Türen, während der Motor weiterlief. De Silsky und Skordeno bewegten sich auf das Auto zu, und Karla ging mit ihnen, obwohl sie ihn nicht führten; er schien bereits die unter­würfige Haltung eines Gefangenen angenommen zu haben, so, wie er es in einer harten Schule gelernt hatte. Smiley trat zurück, und die drei gingen leise an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten, ganz auf ihr Ritual konzentriert. Der Lichtkreis war leer. Er hörte das sanfte Schließen von Türen und das Geräusch des abfahrenden Autos. Er hörte die beiden anderen Wagen nachher oder gleichzeitig wegfahren. Er sah ihnen nicht nach. Er fühlte, wie Toby Esterhases Arme sich um seine Schultern legten, und sah, daß Tobys Augen mit Tränen gefüllt waren.

»George«, fing Toby an. »Ihr ganzes Leben. Phantastisch!«

Dann ließ irgendetwas an Smileys Steifheit ihn zurückweichen, und Smiley selbst trat schnell aus dem Lichtkreis und ging dabei nahe an Anns Feuerzeug vorbei. Es lag leicht schräg genau am Rande des Lichtkreises und glitzerte wie Katzengold auf dem Pflaster. Einen Augenblick erwog er, das Feuerzeug aufzuhe­ben, aber es schien keinen Sinn zu ergeben, und niemand sonst hatte es anscheinend bemerkt. Jemand schüttelte ihm die Hand, jemand anderer klopfte ihm auf die Schulter. Toby hielt sie be­hutsam zurück.

»Passen Sie auf sich auf, George«, sagte Toby. »Machen Sie's gut, hören Sie?«

Smiley hörte, wie Tobys Leute sich einer nach dem ändern ent­fernten, bis nur noch Peter Guillam übrig blieb. Sie gingen ein kurzes Stück am Ufer entlang zurück, fast bis zum Kreuz, und Smiley schaute wieder auf die Brücke, wie um festzustellen, ob sich etwas geändert habe. Doch alles war wie vorher, und ob­gleich der Wind ein bißchen stärker wehte, wirbelte der Schnee immer noch in alle Richtungen.

Peter Guillam berührte Smileys Arm.

»Kommen Sie, alter Freund«, sagte er. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

Aus alter Gewohnheit hatte Smiley seine Brille abgenommen und putzte sie geistesabwesend mit dem breiten Ende seiner Krawatte, die er dazu mühevoll aus den Tiefen seines Tweed­mantels hatte fischen müssen.

»George, Sie haben gewonnen«, sagte Guillam, als sie langsam zum Wagen gingen.

»Wirklich?« sagte Smiley. »Ja. Ja, es sieht wohl so aus.«

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