Die Kunstgalerie lag an jenem Ende der Bond Street, das in Fachkreisen als das Schlechte gilt, und Smiley fand sich am Montagvormittag dort ein, lang ehe irgendein respektabler Kunsthändler aus den Federn war.
Er hatte einen unwahrscheinlich ruhigen Sonntag verbracht. Die Bywater Street war spät erwacht, und Smiley mit ihr. Während er schlief, hatte sein Gedächtnis weitergearbeitet und den ganzen Tag hindurch war es auf dem Sprung gewesen, mit dem einen oder anderen bescheidenen Fundstück aufzuwarten. Zumindest in seinem Gedächtnis war sein schwarzer Gral ein Stück nähergerückt. Sein Telefon hatte kein einziges Mal geklingelt, ein leichter, aber beharrlicher Katzenjammer sorgte für anhaltende stille Nachdenklichkeit. Er war, wider bessere Einsicht, Mitglied eines Clubs in der Nähe von Pall Mall, wo er in kaiserlicher Einsamkeit einen Lunch aus aufgewärmtem Steak-und-Kidney-Pie zu sich nahm. Anschließend hatte er sich vom Chefportier seine Kassette aus dem Clubsafe geben lassen und ihr in aller Stille ein paar illegale Besitztümer entnommen, unter anderem einen auf seinen Arbeitsnamen Standfast lautenden britischen Paß, der nie den Weg zurück zu den Housekeepers des Circus gefunden hatte; einen dazu passenden internationalen Führerschein; eine ansehnliche Geldsumme in Schweizer Franken, die unstreitig sein Privatbesitz waren, aber ebenso unstreitig im Widerspruch zu den geltenden Devisenbestimmungen hier lagerten. Jetzt steckten sie in seiner Tasche.
Die Galerie war in blendendem Weiß gehalten, die Leinwände hinter den Fenstern aus Panzerglas hoben sich kaum davon ab: weiß auf weiß, und die gerade noch wahrnehmbare Kontur einer Moschee oder der St. Paul's Cathedral - oder war es Washington? - mit einem Finger in den dicken Brei gegraben. Vor einem halben Jahr hatte das über dem Gehsteig hängende Schild verkündet: The Wandering Snail Coffee Shop. Heute lautete die Inschrift: Atelier Benati, goût arabe, Paris, New York, Monaco, und eine diskrete Speisenkarte an der Tür zählte die Spezialitäten des neuen Chefs auf: Islam, Klassik und Moderne. Innenraumgestaltung. Übernahme von Ausstattungsaufträgen. Sonnez.
Smiley tat, wie ihm geheißen, ein elektrischer Türöffner kreischte, die Glastür gab nach. Eine leicht angestaubte Ladenhüterin, aschblond und halbwach, beäugte ihn argwöhnisch über einen weißen Schreibtisch hinweg.
»Dürfte ich mich bitte einmal umsehen?« sagte Smiley.
Ihre Augen hoben sich leicht zu einem islamischen Himmel. »Die kleinen roten Punkte bedeuten verkauft«, knautschte sie, reichte ihm eine maschinengeschriebene Preisliste, seufzte und widmete sich wieder ihrer Zigarette und ihrem Horoskop.
Ein paar Minuten lang schlurfte Smiley unglücklich von einer Leinwand zur anderen, bis er aufs neue vor dem Mädchen stand. »Könnte ich bitte Mister Benati sprechen?« sagte er.
»Oh, Mister Benati ist im Augenblick leider total ausgebucht. Der Nachteil, wenn man international ist«, fügte sie mit mehr als einer Spur Sarkasmus hinzu.
»Vielleicht könnten Sie ihm sagen, Mr. Engel möchte ihn sprechen«, schlug Smiley mit anhaltender Schüchternheit vor. »Wenn Sie ihm das vielleicht sagen könnten. Engel, Alan Engel, er kennt mich nämlich.«
Er setzte sich auf das S-förmige Sofa. Es war mit zweitausend Pfund ausgezeichnet und mit einer schützenden Zellophanhülle bezogen, die quietschte, wenn Smiley sich bewegte. Er hörte, wie sie den Telefonhörer abhob und hineinseufzte.
»Hab' einen Engel für Sie«, hauchte sie mit Schlafzimmerstimme. »Wie im Paradies, ja, Engel?«
Wenig später klomm Smiley eine Wendeltreppe ins Dunkel hinab. Drunten wartete er. Es klickte, und ein halbes Dutzend Lampen bestrahlten leere Stellen, an denen keine Bilder hingen. Eine Tür ging auf und gab den Blick frei auf eine kleine adrette Gestalt. Der Mann stand regungslos da. Das volle weiße Haar war flott nach hinten gekämmt. Er trug einen pechschwarzen Anzug mit breiten Streifen, und Schnallenschuhe. Der Streifen war entschieden zu breit für ihn. Die rechte Faust steckte in der Jackentasche, doch als er Smiley sah, zog er die Hand heraus und hielt sie seinem Besucher wie eine gefährliche flache Klinge hin. »Nein, Mr. Engel«, rief er mit deutlichem mitteleuropäischen Akzent und warf rasch einen Blick treppauf, als wolle er sehen, wer zuhörte. »Was für eine große Freude, Sir. Haben uns viel zu lange nicht gesehen. Bitte treten Sie näher.«
Sie reichten sich die Hände, doch jeder wahrte Distanz.
»Hallo, Mister Benati«, sagte Smiley und folgte ihm in ein Büro, das sie durchschritten, und in einen dahinterliegenden Raum, wo Mr. Benati die Tür schloß und sich bedächtig dagegen lehnte, vielleicht um jedes unbefugte Eindringen zu verhindern. Danach sprach längere Zeit keiner der beiden Männer ein Wort, dafür musterte jeder den anderen in respektvollem Schweigen. Mr. Benatis Augen waren braun und beweglich und blickten nirgendwo lange hin und nirgendwohin ohne bestimmten Grund. Der Raum machte den Eindruck eines dürftigen Boudoirs, mit einer Chaiselongue und einem rosa Waschbecken in einer Ecke. »Nun, wie geht's Geschäft, Toby?« fragte Smiley.
Toby Esterhase reagierte auf diese Frage mit einem besonderen Lächeln und einer besonderen Art, die kleinen Handflächen nach oben zu drehen.
»Es floriert, George. Erfolgreicher Start, dann fantastischer Sommer. Der Herbst, George« - wieder die Handbewegung -, »der Herbst, würde ich sagen, ist eher schleppend. Man muß, genau gesagt, vom eigenen Höker zehren. Kaffee, George? Meine Sekretärin kann uns Kaffee machen.«
»Wladimir ist tot«, sagte Smiley nach einer weiteren ziemlich langen Pause. »Erschossen, in Hampstead Heath.«
»Traurig. Der alte Mann, wie? Traurig.«
»Oliver Lacon möchte, daß ich den Aufwasch besorge. Da Sie der Postbote in der Gruppe waren, würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.«
»Klar«, sagte Toby entgegenkommend.
»Also wußten Sie davon? Von seinem Tod?«
»Hab's in der Zeitung gelesen.«
Smiley ließ die Blicke durch den Raum schweifen. Nirgends war eine Zeitung zu sehen.
»Irgendeine Theorie, wer es getan hat?« fragte Smiley.
»In seinem Alter, George? Nach einem Leben voll Enttäuschungen, wie man wohl sagen kann? Keine Familie, keine Zukunft, die Gruppe völlig dahin - ich vermute, er hat es selber getan. Ganz natürlich.«
Vorsichtig ließ Smiley sich auf die Chaiselongue nieder und nahm, scharf beobachtet von Toby, das Bronze-Modell einer Tänzerin vom Tisch.
»Sollte dies hier nicht eine Nummer tragen, wenn es ein Degas ist, Toby?« fragte Smiley.
»Bei Degas gibt es eine gewaltige Grauzone, George. Da muß man schon hundertprozentig sicher sein.«
»Aber das hier ist echt?« fragte Smiley, und es klang, als wolle er es tatsächlich wissen.
»Vollkommen«.
»Würden Sie mir die Statuette verkaufen?«
»Was soll das?«
»Rein akademisches Interesse. Ist sie verkäuflich? Käme ich, gegebenenfalls, als Käufer überhaupt in Betracht?«
Toby zuckte leicht verlegen die Achseln.
»George, hören Sie, hier geht es um Tausende, verstehen Sie? So was wie eine Jahresrente oder dergleichen.«
»Wann haben Sie eigentlich zuletzt mit Wladimirs Netz zu tun gehabt, Toby?« fragte Smiley und stellte die Tänzerin wieder auf den Tisch.
Toby verdaute die Frage ausgiebig.
»Netz?« echote er schließlich ungläubig. »Habe ich >Netz< gehört, George?« Normalerweise war in Tobys Repertoire wenig Platz für Lachen, aber jetzt brachte er doch einen kleinen, wenn auch verkrampften Heiterkeitsausbruch zustande. »Diese Gruppe von Verrückten nennen Sie ein Netz? Zwanzig meschuggene Balten, undicht wie alte Scheunen, das gibt bereits ein Netz?«
»Nun ja, irgendwie müssen wir sie benennen«, meinte Smiley einlenkend.
»Irgendwie, klar. Bloß nicht Netz, okay?«
»Wie lautet also die Antwort?«
»Welche Antwort?«
»Wann hatten Sie den letzten Kontakt mit der Gruppe?«
»Jahre her. Bevor sie mich geschaßt haben. Jahre her.«
»Wieviele Jahre.«
»Weiß ich nicht.«
»Drei?«
»Möglich.«
»Zwei?«
»George, wollen Sie mich festnageln?«
»Sieht so aus. Ja.«
Toby nickte ernst, als habe er das schon die ganze Zeit kommen sehen.
»Und haben Sie vergessen, George, wie es bei unseren Lamplighters zuging? Wie überlastet wir waren? Wie meine Jungens und ich für die Hälfte aller Netze des Circus Postboten spielten? Erinnern Sie sich? Wieviele Treffs, wieviele Autokunden in einer Woche? Zwanzig, dreißig? Einmal, in der Hochsaison, vierzig? Gehen Sie in die Registratur, George. Wenn Sie Lacons Segen haben, gehen Sie in die Registratur, holen Sie die Akte, sehen Sie sich die Treff-Formulare an. Dann wissen Sie es genau. Kommen Sie nicht hierher und versuchen Sie nicht, mir ein Bein zu stellen, Sie wissen, was ich meine, wie? Degas, Wladimir- ich mag diese Fragen nicht. Ein Freund, ein ehemaliger Boß, mein eigenes Haus - es regt mich auf, okay?«
Nach dieser, sowohl für Smiley wie für ihn selber überraschend langen Rede schwieg Toby, als warte er darauf, daß Smiley die Erklärung für soviel Beredsamkeit lieferte. Dann trat er einen Schritt vor und drehte flehend die Handflächen nach oben.
»George«, sagte er vorwurfsvoll. »George, mein Name lautet Benati, okay?«
Smiley schien in tiefe Niedergeschlagenheit verfallen zu sein. Düster starrte er auf die Stapel schmieriger Kunstkataloge, die über den ganzen Teppich verteilt waren.
»Ich heiße nicht Hector, ganz entschieden nicht Esterhase«, sagte Toby energisch. »Ich habe ein Alibi für jeden Tag des Jahres - habe mich vor meiner Kreditbank versteckt. Glauben Sie, ich möchte mir Scherereien aufhalsen? Emigranten, sogar Polizei? Ist dies ein Verhör, George?«
»Toby, Sie kennen mich.«
»Eben. Ich kenne Sie, George. Ich soll Ihnen Streichhölzer geben, damit Sie mich rösten können.«
Smileys Blick blieb starr auf die Kataloge gerichtet. »Ehe Wladimir starb - Stunden vorher -, rief er den Circus an«, sagte er.
»Er sagte, er habe Informationen für uns.«
»Aber dieser Wladimir war ein alter Mann, George!« Tobys Proteste klangen, zumindest für Smileys Ohr, allzu energisch. »Hören Sie, von seiner Sorte gibt's jede Menge. Großer Background, zu lange auf der Gehaltsliste gewesen, sie werden alt, verkalkt, schreiben an verrückten Memoiren, sehen überall weltweite Verschwörungen, verstehen Sie, was ich meine?«
Smiley betrachtete unbewegt die Kataloge, der runde Kopf ruhte auf den geballten Fäusten.
»Warum sagen Sie das eigentlich, Toby?« fragte er nörgelnd. »Ich kann Ihrem Gedankengang nicht folgen.«
»Was meinen Sie mit >warum ich das sage Alte Überläufer, alte Spione, sie werden ein bißchen plemplem. Hören Stimmen, reden mit den Piepmätzen. Ganz normal.«
»Hat Wladimir Stimmen gehört?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Genau das habe ich Sie gefragt, Toby«, erklärte Smiley nüchtern den Katalogen. »Ich habe gesagt, Wladimir behauptete, Neuigkeiten für uns zu haben, undSie antworteten, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Ich fragte mich, woher Sie das wissen. Daß Wladimir nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Ich fragte mich, welchen Datums wohl Ihre Kenntnis seines Geisteszustands sein mag. Und warum es Sie gar nicht interessiert, was er uns hat sagen wollen. Weiter nichts.«
»George, das sind alte Spiele, die Sie da treiben. Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um, okay? Wenn Sie mich fragen wollen, fragen Sie. Bitte. Aber nicht meine Worte verdrehen.«
»Es war kein Selbstmord, Toby«, sagte Smiley, noch immer ohne ihn anzublicken. »Es wareindeutig kein Selbstmord. Ich sah die Leiche, Sie dürfen mir glauben. Es war auch kein eifersüchtiger Ehemann - es sei denn, er wäre mit einer Mordwaffe aus der Moskauer Zentrale ausgerüstet gewesen. Wie haben wir diese Spezialwaffe immer genannt? Den inhumanen Killer, stimmt's? Genau das hat Moskau benutzt. Einen inhumanen Killer.«
Wiederum versank Smiley in Nachdenken, doch diesmal war Toby - wenn auch verspätet - schlau genug, schweigend zu warten.
»Also, Toby, als Wladimir vor seinem Tod im Circus anrief, verlangte erMax. Mich, mit anderen Worten. Nicht seinen Postboten, derSie gewesen wären. Nicht Hector. Er verlangte seinen Vikar, der, bis daß der Tod uns scheiden würde, ich war. Gegen alles Protokoll, gegen alle Regeln und gegen alles bisher Dagewesene. Hat das noch nie getan. Ich war natürlich nicht da - also boten sie ihm einen Ersatzmann an, einen albernen grünen Jungen namens Mostyn. Es spielte keine Rolle, denn sie trafen einander ohnehin nicht, als es soweit war. Aber können Sie mir sagen, warum er nicht Hector sprechen wollte?«
»George, also, ich muß schon sagen! Schatten, Sie machen Jagd auf Schatten! Soll ich jetzt wissen, warum er nicht mich verlangt hat? Wir sind plötzlich schuld an dem, was andere Leute nicht tun? Was soll das?«
»Hatten Sie Streit mit ihm? Könnte das der Grund gewesen sein?«
»Warum sollte ich mit Wladimir Streit haben? Er war immer so dramatisch, George. So sind sie, diese alten Knaben im Ruhestand.« Toby legte eine Pause ein, wie um anzudeuten, daß auch Smiley nicht über solche kleinen Schwächen erhaben sei. »Sie langweilen sich, vermissen ihre Einsätze, möchten gestreichelt werden, also blasen sie eine Mücke zum Elefanten auf.«
»Aber nicht alle werden dabei erschossen, nicht wahr, Toby? Hier liegt der Haken, verstehen Sie. Ursache und Wirkung. Eines Tages streitet Toby sich mit Wladimir, und am nächsten Tag wird Wladimir mit einer russischen Waffe erschossen. Die Polizei spricht in solchen Fällen von einer peinlichen Verkettung der Ereignisse. Wir übrigens auch.«
»George, sind Sie verrückt? Was zum Teufel soll das mit dem Streit? Ich sage Ihnen doch: Ich habe nie im Leben mit dem alten Mann Streit gehabt!«
»Mikhel sagt, Sie hätten.«
»Mikhel? Sie haben sich bei Mikhel erkundigt?«
»Laut Mikhel war der alte Mann sehr erzürnt über Sie. >Hector taugt nichts<, habe Wladimir ihm wiederholt gesagt. Er zitierte Wladimir wörtlich. >Hector taugt nichts.< Mikhel war sehr erstaunt. Wladimir hatte immer große Stücke auf Sie gehalten. Mikhel konnte sich nicht vorstellen, welche Geschichte zwischen Ihnen beiden einen so ernsthaften Umschwung verursacht haben mochte. >Hector taugt nichts.< Warum taugten Sie nichts, Toby? Was ist passiert, warum ereiferte Wladimir sich derart über Sie? Ich möchte es der Polizei gern verschweigen, wenn irgend möglich, verstehen Sie. Um unser aller willen.«
Doch der Außenmann in Toby Esterhase war jetzt voll erwacht, und er wußte, daß Verhöre, genau wie Schlachten, niemals gewonnen, immer nur verloren werden.
»George, das ist doch absurd«, erklärte er, eher mitleidig als gekränkt. »Ich meine, ein Blinder sieht, daß Sie mich zum besten halten. Oder? Ein alter Mann baut Luftschlösser, und damit wollen Sie gleich zur Polizei laufen? Hat Lacon Sie dafür angeheuert? Ist das der Aufwasch, den Sie besorgen sollen? George?«
Diesmal schien das lange Schweigen irgendeinen Entschluß in Smiley gezeitigt zu haben, und als er wieder sprach, klang es, als habe er es eilig. Sein Tonfall war bündig, sogar ungeduldig.
»Wladimir suchte Sie auf. Ich weiß nicht, wann, aber in den letzten Wochen. Entweder Sie trafen ihn, oder es war ein Telefongespräch - zwischen zwei öffentlichen Fernsprechzellen oder was immer die Abmachung war. Er bat Sie, etwas für ihn zu erledigen; Sie lehnten ab. Deshalb verlangte er Max, als er Freitagabend im Circus anrief. Er hatte Hectors Antwort bereits erhalten, und sie lautete >nein<. Das ist auch der Grund, warum Hector >nichts taugt<. Sie haben ihn abgewimmelt.«
Diesmal unternahm Toby keinen Versuch zu unterbrechen.
»Und, wenn ich das sagen darf, Sie haben Angst!« fuhr Smiley fort und blickte geflissentlich nicht auf die Beule in Tobys Jakkett. »Sie wissen ziemlich genau, wer Wladimir tötete und glauben, man könne Sie gleichfalls töten. Ja, Sie hielten es sogar für möglich, daß ich der falsche Engel sein könnte.« Er wartete, aber Toby erhob keinen Einspruch. Smileys Ton wurde milder. »Toby, Sie erinnern sich, was wir in Sarratt immer sagten - daß Angst gleich Information ohne Daumenschrauben sei. Daß wir sie würdigen sollten. Nun, ich würdige Ihre Angst, Toby. Ich möchte mehr darüber wissen. Woher sie kam. Ob ich sie teilen sollte. Weiter nichts.«
Toby Esterhase stand noch immer an der Tür, preßte jetzt die Handflächen gegen die Füllung und musterte Smiley mit höchster Aufmerksamkeit und ohne die geringste Lockerung seiner gespannten Haltung. Er mühte sich sogar, durch die Tiefe und den fragenden Ausdruck seines Blicks klarzumachen, daß seine Besorgnis jetzt eher Smiley gelte, als seiner eigenen Person. Danach trat er, auch dies mit allen Anzeichen der Wohlgewogenheit, einen Schritt, dann zwei Schritte ins Zimmer - aber zögernd, etwa so, wie man das Krankenhauszimmer eines darniederliegenden Freundes betritt. Erst dann, und mit einer recht passablen Imitation des mitfühlenden Besuchers, reagierte er auf Smileys Anschuldigung mit einer höchst treffenden Frage, einer Frage, über die Smiley selber zufällig während der vergangenen beiden Tage weidlich gegrübelt hatte.
»George. Bitte beantworten Sie mir eins. Wer spricht hier eigentlich? George Smiley? Oliver Lacon? Mikhel? Wer spricht, bitte?« Als er nicht sofort Antwort erhielt, setzte er seinen Vormarsch bis zu einem schäbigen seidenbezogenen Taburett fort, wo er sich adrett wie eine Katze niederließ, eine Hand auf jedem Knie. »Denn für einen beauftragten Vertreter, George, stellen Sie ein paar verdammt unbeauftragte Fragen, das erstaunt mich. Ich finde, Sie benehmen sich ziemlich unbeauftragt.«
»Sie haben Wladimir gesehen und mit ihm gesprochen. Was ist passiert?« fragte Smiley, völlig unberührt von Tobys Herausforderung. »Sagen Sie mir das, und dann sage ich Ihnen, wer hier spricht.«
In der hintersten Ecke des Plafonds war ein gelblicher Glasquader von etwa einem Meter Seitenlänge eingelassen, und die Schatten, die darüberspielten, waren die Füße von Straßenpassanten. Aus irgendeinem Grund hatte Tobys Blick sich an dieser seltsamen Stelle festgesogen, er schien seinen Entschluß von diesem Glas abzulesen wie eine Anweisung von einem Bildschirm. »Wladimir hat eine Notruf-Rakete steigen lassen«, sagte Toby im genau gleichen Tonfall wie vorher, weder nachgebend noch zugebend. Ja, er brachte es sogar mit Hilfe eines Stimmtricks fertig, eine Drohung mitschwingen zu lassen.
»Durch den Circus?«
»Durch Freunde von mir«, sagte Toby.
»Wann?«
Toby nannte ein Datum. Vor zwei Wochen. Ein Blitz-Treff. Smiley fragte, wo er stattgefunden habe.
»Im Science Museum«, antwortete Toby wieder ganz obenauf. »Im Cafe im obersten Stock, George. Wir tranken Kaffee, bewunderten die alten Flugzeuge, die von der Decke hängen. Wollen Sie das alles Lacon berichten, George? Bitte, jederzeit, okay? Ganz wie Sie wünschen. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Und er trug sein Anliegen vor?«
»Klar. Er trug mir sein Anliegen vor. Er wollte, daß ich für ihn den Lamplighter spiele. Sein Kamel. Das war ein alter Scherz aus den Moskauer Tagen, wissen Sie noch? Aufsammeln, durch die Wüste tragen, abliefern. >Toby, ich habe keinen Paß. Aidez-moi. Mon ami, aidez-moi.< Sie wissen, wie er redete. Wie de Gaulle. Wir nannten ihn immer >Der andere General Wissen Sie noch?«
»Was tragen?«
»Er legte sich nicht fest. Nur: ein Dokument, klein, nichts, was man verstecken muß. Soviel sagte er mir.«
»Für jemand, der nur die Fühler ausstreckt, scheint mir das eine ganze Menge.«
»Und er hat auch eine ganze Menge verlangt«, sagte Toby und wartete auf Smileys nächste Frage.
»Und das Wo?« fragte Smiley. »Hat Wladimir Ihnen das auch gesagt?«
»Deutschland.«
»Welches?«
»Unseres. Der Norden.«
»Zufällige Begegnung? Tote Briefkästen? Lebende? Welche Art von Treff?«
»Fliegender. Ich sollte mit der Bahn reisen. Von Hamburg nach Norden. Übergabe im Zug, Näheres bei Zusage.«
»Und es sollte eine private Abmachung sein. Kein Circus, kein Max?«
»Zunächst äußerst privat, George.«
Smiley wählte die nächsten Worte besonders taktvoll. »Und die Gegenleistung für Ihre Bemühungen?«
Tobys Antwort klang eindeutig skeptisch: »>Wenn wir das Dokument< - so nannte er es, okay? Dokument, - >wenn wir das Dokument kriegen, und das Dokument ist echt< - er schwor, es werde echt sein -, >so ist uns ein Platz im Himmel sicher. Zuerst bringen wir das Dokument zu Max, erzählen Max die Geschichte. Max wird wissen, was es bedeutet. Max wird den immensen Wert des Dokuments erkennen. Max wird uns belohnen. Geschenke, Beförderung, Orden, Max bringt uns ins House of Lords.< Klar. Der Haken war nur, Wladimir wußte nicht, daß Max ausrangiert war und der Circus unter die Boy Scouts gegangen ist.«
»Wußte er, daß Hector ausrangiert war?«
»Halb und halb, George.«
»Was soll das heißen?« Dann tat Smiley mit einem »Egal« seine eigene Frage wieder ab und verfiel erneut in längeres Nachdenken.
»George, darf ich bitten, Nachforschungen in dieser Richtung einzustellen«, sagte Toby ernst. »Ich rate Ihnen dringend, Hände weg«, sagte er und wartete.
Es war, als habe Smiley nichts gehört. Nach einem kurzen Schock schien er das Ausmaß von Tobys Schuld zu wägen.
»Kurzum: Sie haben ihn abblitzen lassen«, murmelte er und starrte unverwandt ins Leere. »Er ging Sie um Hilfe an, und Sie schlugen sie ihm rundweg ab. Wie konnten Sie das tun, Toby? Ausgerechnet Sie?«
Unter der Wucht dieses Vorwurfs sprang Toby wütend auf, was vielleicht hatte bewirkt werden sollen. Seine Augen flammten, die Wangen röteten sich, der schlafende Ungar in ihm war hellwach.
»Und vielleicht wollen Sie wissen, warum? Warum ich zu ihm gesagt habe: >Scheren Sie sich zum Teufel, Wladimir. Aus meinen Augen, bitte, Sie machen mich krank?< Wollen Sie wissen, wer sein Verbindungsmann dort drüben ist - dieser Zauberkünstler in Norddeutschland, der auf dem Topf voll Gold sitzt und uns über Nacht zu Millionären machen soll. George - wollen Sie seine Personalien erfahren? Erinnern Sie sich zufällig noch an den Namen Otto Leipzig? Vielfacher Inhaber des Titels Knilch des Jahres? Märchenerzähler, Nachrichtenhausierer, Bauernfänger, Sittenstrolch, Zuhälter, außerdem vielseitig kriminell? Erinnern Sie sich an diesen großen Helden?« Smiley sah wieder das Schottenmuster der Hoteltapete vor sich und die scheußlichen Jagddrucke, auf denen die Jorrocks mit Heissa und Hussa dahersprengten, er sah die beiden Gestalten in ihren schwarzen Mänteln, den Riesen und den Zwerg, und die fleckige Pranke des Generals auf der schmalen Schulter seines Schützlings. »Max, das ist mein guter Freund Otto. Ich habe ihn mitgebracht, damit er Ihnen selber seine Geschichte erzählt.« Er hörte das pausenlose Donnern der auf dem Londoner Flugplatz landenden und startenden Maschinen.
»Vage«, räumte Smiley ein. »Ja, vage erinnere ich mich an Otto Leipzig. Erzählen Sie mir von ihm. Wenn ich nicht irre, hatte er eine Menge Namen. Aber das haben wir alle schließlich auch, wie?«
»Ungefähr zweihundert, aber Leipzig behielt er am Ende bei. Wissen Sie, warum? Leipzig in Ostdeutschland: Die Gefängnisse dort hatten es ihm angetan. Er besaß diese Art Galgenhumor. Wissen Sie zufällig noch, mit welcher Art Stoff er hausieren ging?« Toby, der glaubte, nun die Initiative zu haben, trat kühn einen Schritt vor, beugte sich zu dem passiv dasitzenden Smiley hinunter und fuhr fort: »George, erinnern Sie sich nicht mal an den kompletten Quatsch, den dieser Kniich Jahr für Jahr unter fünfzehn verschiedenen Quellenangaben unseren westeuropäischen Stationen angedreht hat, vornehmlich den deutschen? Unser Experte für die Neue Estnische Ordnung? Unsere Top-Quelle für sowjetische Waffensendungen aus Leningrad? Unser inneres Ohr in der Moskauer Zentrale, ja, sogar unser oberster Karla-Späher?« Smiley regte sich nicht. »Wie er zum Beispiel unserem Berliner Residenten zweitausend Deutsche Mark für einen Bericht abknöpfte, den er aus dem Stern abgeschrieben hatte? Wie er dem alten General mitgespielt hat, ihn ausgesaugt wie ein Blutegel, immer wieder aufs neue - >Wir alten Exil-Balten< -, auf diese Tour? - >General, ich kann Ihnen die Kronjuwelen holen -, das Dumme ist nur, ich hab das Geld für den Flug nicht flüsssig.< Hergott!«
»Es waren aber nicht nur Märchen, Toby, wie?« wandte Smiley milde ein. »Manches erwies sich - wenn ich mich recht erinnere -, zumindest aus bestimmten Bereichen, als recht brauchbar.« »Kann man an einem Finger abzählen.«
»Sein Material über die Moskauer Zentrale zum Beispiel. Ich entsinne mich nicht, daß daran jemals etwas auszusetzen war.« »Okay. Die Zentrale hat ihm gelegentlich ein paar Körnchen Wahrheit hingeworfen, damit er uns den übrigen Mist andrehen konnte! Das klassische Vorgehen aller Doppelagenten!«
Smiley schien hier widersprechen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders.
»Verstehe«, sagte er schließlich, als gebe er sich geschlagen. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Ein Spion.«
»Kein Spion, nur ein Windbeutel. Hier ein bißchen, dort ein bißchen. Ein Hausierer. Keine Grundsätze. Kein Berufsethos. Arbeitet für jeden, der ein paar Kröten springen läßt.«
»Eins zu null für Sie«, sagte Smiley ernsthaft und ebenso kleinlaut, wie vorher. »Und er hat sich ja auch in Norddeutschland niedergelassen, nicht wahr? Irgendwo droben bei Travemünde.« »Otto Leipzig hat sich in seinem ganzen Leben nirgendwo niedergelassen«, sagte Toby verächtlich. »George, der Kerl ist ein Stromer, ein kompletter Strolch. Kleidet sich wie ein Rothschild, besitzt eine Katze und ein Fahrrad. Wissen Sie, was er zuletzt gemacht hat, der große Spion? Nachtwächter in einem miesen Hamburger Lagerschuppen! Schwamm drüber.«
»Und er hatte einen Partner«, sagte Smiley, wiederum so unschuldig, als sei es ihm eben erst eingefallen. »Ja, jetzt kommt es mir wieder. Einen Immigranten, einen Ostdeutschen.«
»Schlimmer, einen Sachsen. Familienname Kretzschmar, Vorname Claus. Claus mit C, fragen Sie mich nicht, warum. Ich meine, diese Menschen haben überhaupt keine Logik. Claus war auch ein Windhund. Die beiden klauten gemeinsam, hurten gemeinsam, fälschten gemeinsam ihre Berichte.«
»Aber das war vor langer Zeit, Toby«, wandte Smiley sanft ein.
»Na und? Es war eine ideale Ehe.«
»Dann dürfte sie nicht lang gedauert haben«, sagte Smiley wie im Selbstgespräch.
Aber vielleicht hatte Smiley seine Demutshaltung diesmal übertrieben, oder vielleicht kannte Toby ihn einfach zu gut. Denn in seinem flinken Ungarnauge war ein Warnlicht aufgeblitzt, und eine argwöhnische Falte erschien auf der glatten Stirn. Er trat zurück, betrachtete Smiley und strich sich nachdenklich über das makellos weiße Haar.
»George«, sagte er. »Hören Sie, wen halten Sie hier zum Narren, okay?«
Smiley sagte nichts. Er hob nur den Degas auf, drehte ihn einmal rundum und stellte ihn dann wieder hin.
»George, hören Sie ein einziges Mal auf mich. Bitte! Okay, George? Vielleicht darf ich Ihnen ein einziges Mal einen Vortrag halten.«
Smiley warf ihm einen raschen Blick zu und sah wieder weg. »George, ich bin in Ihrer Schuld. Sie müssen zuhören, Sie haben mich in Wien als Lausejungen aus der Gosse geholt. Ich war ein Leipzig. Ein Strolch. Sie haben mir meinen Job beim Circus verschafft. Wir haben oft zusammengearbeitet, manches Pferd gestohlen. Erinnern Sie sich an das erste Gebot für den Ruhestand, George? >Keine Schwarzarbeit. Kein Weiterstricken an unerledigten Fällen. Keinerlei private Initiative.< Wissen Sie noch, wer dieses Gebot verkündet hat? In Sarratt? Wo man ging und stand? Unser George Smiley. >Wenn es aus ist, ist es aus. Rolläden runter und nach Hause gehen!< Und was soll das jetzt plötzlich sein? Dieses Trara um einen alten General, der tot ist, aber nicht liegenbleiben will, und um einen Allerweltskomödianten wie Otto Leipzig? Was soll das sein? Der letzte Reiterangriff auf den Kreml? Wir sind aus dem Spiel, George. Wir haben keinen Jagdschein. Man will uns nicht mehr. Schluß der Vorstellung.« Er zögerte, schien plötzlich verlegen. »Okay, Ann hat Ihnen mit Bill Haydon schwer mitgespielt. Klar, es geht um Karla, und Karla war Bills Schutzpatron in Moskau. George, ich meine, das Ganze ist ziemlich primitiv, nicht wahr?«
Seine Hände fielen kraftlos herab. Er starrte auf die regungslose Gestalt seines Gegenübers. Smileys Lider waren fast geschlossen. Sein Kopf hing auf die Brust. Durch die Verschiebung der Wangen erschienen tiefe Schatten um Mund und Augen.
„Was Leipzigs Berichte über die Moskauer Zentrale betraf, so haben wir ihn nie bei einem Schwindel erwischt«, sagte Smiley, als habe er Tobys letzte Sätze nicht gehört. »Das weiß ich noch ganz genau. Auch nicht bei den Berichten über Karla. Wladimir vertraute ihm blind. In bezug auf das Moskau-Material. Und wir auch.«
»George, wer hat jemals einen Bericht über die Moskauer Zentrale als Schwindel entlarven können? Bitte? Okay, dann und wann kriegen wir einen Überläufer, und der sagt: >Das da ist Mist, und das hier könnte wahr sein.< Wo ist die Garantie? Wo ist der wahre Kern, wie Sie immer sagten? Jemand tischt einem eine Geschichte auf: >Karla hat gerade eine neue Agentenschule in Sibirien eingerichtet.< Wer kann das Gegenteil beweisen? Nur immer hübsch allgemein bleiben, dann kann man nicht verlieren.« »Eben deshalb haben wir Otto Leipzig trotz allem gehalten«, fuhr Smiley fort, als habe Toby nichts gesagt. »Wo es um den sowjetischen Geheimdienst ging, trieb er ein ehrliches Spiel.« »George«, sagte Toby sanft und schüttelte den Kopf. »Sie müssen aufwachen. Die jubelnde Menge ist längst nach Hause gegangen.«
»Wollen Sie mir jetzt den Rest der Geschichte erzählen, Toby? Wollen Sie mir genau berichten, was Wladimir zu Ihnen gesagt hat? Bitte.«
Und so erzählte Toby schließlich, als widerstrebend gewährten Freundschaftsbeweis, was Smiley wissen wollte - mit einer Offenheit, die dem Eingeständnis seiner Niederlage gleichkam.
Die Statuette, die ein Degas hätte sein können, stellte eine Tänzerin mit erhobenen Armen dar. Der Körper war weit zurückgebogen, der Mund wie in Ekstase geöffnet, und es stand außer Frage, daß sie, ob gefälscht oder echt, eine zwar flüchtige, aber beunruhigende Ähnlichkeit mit Ann hatte. Smiley hatte sie wieder vom Tisch genommen und drehte sie jetzt langsam zwischen den Händen, beäugte sie, ohne dabei wirklich mit ihr ins Reine zu kommen, bald von der einen, bald von der anderen Seite. Toby saß wieder auf seinem seidenen Taburett. Die Schattenfüße glitten munter über das Oberlicht.
Toby und Wladimir hatten sich im Cafe des Science Museum getroffen, droben in der aeronautischen Abteilung, wiederholte Toby. Wladimir war äußerst erregt und packte Toby immer wieder am Arm, was Toby nicht leiden konnte, es war ihm zu auffällig. Otto Leipzig habe das Unmögliche fertiggebracht, sagte Wladimir mehrmals. Der Haupttreffer, Toby, die Chance eins zu einer Million; Otto Leipzig habe den Fisch an Land gezogen, von dem Max die ganze Zeit träumte, »die hundertprozentige Begleichung aller unserer Ansprüche«, wie Wladimir sich ausdrückte. Als Toby ihn ein bißchen scharf fragte, welche Ansprüche er meine, konnte oder wollte Wladimir ihm nicht antworten. »>Fragen Sie Max<, sagte er immer nur. >Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie Max, sagen Sie Max, es ist der große Fisch. <«
»Wie lautet also der Handel«, hatte Toby gefragt - da er, wie er sagte, gewußt habe, daß überall, wo Otto Leipzig im Spiel war, die Rechnung zuerst eintraf und die Ware lang, lang danach. »Wieviel verlangt er, der große Held?«
Toby gab zu, daß er seine Skepsis nur schwer habe verbergen können - »was von Anfang an eine schlechte Atmosphäre schuf«. Wladimir umriß die Bedingungen. Leipzig habe die Story, sagte Wladimir, aber er habe auch gewisse greifbare Beweise für ihre Richtigkeit. Erstens ein Dokument, und dieses Dokument sei, wie Leipzig es nannte, eine Vorspeise, ein Appetithappen. Ein weiterer Beweis, ein Brief, sei in seinem, Wladimirs, Besitz. Und schließlich die Story selbst, die aus weiteren Unterlagen hervorgehe, Unterlagen, die Leipzig in sichere Verwahrung gegeben habe. Das Dokument zeige, wie die Story an Land gezogen wurde, die Unterlagen seien unwiderlegbar.
»Und worum ging es?« fragte Smiley.
»Keine Aussage«, erwiderte Toby kurz. »Hector gegenüber keine Aussage. Holen Sie Max, und okay, Wladimir wird sagen, worum es geht. Hector sollte zunächst nur die Klappe halten und den Botenjungen spielen.«
Eine Weile schien es, als wollte Toby sich in eine weitere Abschreckungskampagne stürzen. »George, ich meine, der alte Knabe war einfach total plemplem«, begann er. »Otto Leipzig hat ihn komplett auf die Schippe genommen.« Dann sah er Smileys tief versunkene und unzugängliche Miene und begnügte sich mit der Wiedergabe von Otto Leipzigs unverschämten Forderungen: »Das Dokument ist Max von Wladimir persönlich auszuhändigen. Alles strikt nach Moskauer Regeln, kein Mittelsmann, keine postalische Beförderung. Bei den bereits geführten vorbereitenden Telefongesprächen -«
»Telefongespräche zwischen London und Hamburg?« unterbrach Smiley, und sein Tonfall gab zu verstehen, daß es sich hier um eine neue und unwillkommene Information handelte.
»Sie hätten Won-Code benutzt, sagt er. Alte Kumpels, sie kennen den Dreh. Aber nicht mit dem Beweis, sagt Wladi: Mit dem Beweis wird kein Dreh gemacht. Kein Telefon, keine Post, kein Lastwagentransport, nur per Kamel, punktum. Wladi hat den Sicherheitsfimmel, okay, das wissen wir schon. Von jetzt an gelten nur noch Moskauer Regeln.«
Smiley dachte an seinen eigenen Anruf in der Nacht des Samstag und fragte sich erneut, welche Lokalität Otto Leipzig wohl als Telefonzentrale benutzt haben mochte.
»Sobald der Circus sein Interesse bekundet habe«, fuhr Toby fort, »sei eine Anzahlung an Otto Leipzig zu tätigen, fünf Schweizer Riesen, für ein mündliches Expose, George! Fünf Schweizer Riesen! Als Aufnahmegebühr! Nur um ins Spiel zu kommen! Danach - hören Sie sich das an, George -, danach sei Otto Leipzig zu einem sicheren Haus in England zu fliegen, wo er das mündliche Expose liefern würde. George, ich meine, sowas Irres habe ich noch nie gehört. Wollen Sie wissen, wie's weitergeht? Sollte der Circus, aufgrund der Exposes, sich zum Kauf der Unterlagen entschließen - wollen Sie hören, wieviel?«
Smiley wollte.
»Fünfzig Schweizer Riesen. Würden Sie mir vielleicht einen Scheck ausstellen?«
Toby wartete auf den Schrei der Entrüstung, aber es kam keiner.
»Alles für Leipzig?«
»Klar. Das waren Leipzigs Bedingungen. Wer sonst würde so meschugge sein?«
»Was verlangte Wladimir für sich?«
Kurzes Zögern. »Nichts«, sagte Toby widerstrebend. Dann ließ er, als wolle er diesen Punkt möglichst rasch abtun, eine neue Suada der Empörung los.
»Basta. Hector mußte also nur auf eigene Kosten nach Hamburg fliegen, in einen Zug nach Norden steigen und das Karnickel abgeben in irgendeiner blödsinnigen Treibjagd, die Otto Leipzig zu seinen eigenen Gunsten veranstalten will, mit den Ostdeutschen, den Russen, den Polen, den Bulgaren, den Kubanern, und, er ist schließlich ein moderner Mensch, zweifellos auch den Chinesen als Teilnehmer. Ich sagte zu ihm - passen Sie gut auf, George -, ich sagte zu ihm: >Wladimir, alter Freund, hören Sie ausnahmsweise einmal zu. Sagen Sie mir, was in aller Welt ist so wichtig, daß der Circus fünf Schweizer Riesen aus seinem kostbaren Reptilienfonds zahlt, nur um sich ein einziges Mal diesen lausigen Otto Leipzig anhören zu dürfen? Soviel kriegte nicht einmal die Callas, und glauben Sie mir, sie sang verdammt viel besser als Otto.< Er packt mich am Arm. Hier.« Demonstrativ umklammerte Toby seinen eigenen Bizeps. »Preßt mich, als wäre ich eine Orange. Der alte Knabe hatte noch allerhand Kräfte, glauben Sie mir. >Holen Sie mir das Dokument her, Hector.< Er spricht jetzt russisch. Ein sehr stiller Ort, dieses Museum. Alles schweigt und hört ihm zu. Mir wird ganz flau. Er weint sogar. >Um Gottes willen, Hector, ich bin ein alter Mann. Ich habe keine Beine, keinen Paß, keinen Menschen, dem ich vertrauen kann, außer Otto Leipzig. Fliegen Sie nach Hamburg, und holen Sie sein Dokument. Wenn Max den Beweis sieht, wird er mir glauben, Max hat Vertrauen.< Ich will ihn trösten, mache ein paar Andeutungen. Ich sage ihm, Emigranten sind heutzutage unten durch, Kurswechsel, neue Regierung. Ich rate ihm: >Wladimir, gehen Sie nach Hause, spielen Sie Schach. Hören Sie, ich komme vielleicht gelegentlich auf eine Partie in der Bibliothek vorbei.< Dann sagt er zu mir: >Hector, ich habe diese Sache eingeleitet. Ich habe Otto Leipzig veranlaßt, die Lage zu erkunden. Ich habe ihm das Geld für die Vorarbeiten geschickt, alles, was ich hatte.< Hören Sie, er war ein alter trauriger Mann. Passé.«
Toby machte eine Pause, aber Smiley rührte sich nicht. Toby stand auf, ging zu einem Schränkchen, goß zwei Gläser von einem unsäglichen Sherry ein und stellte eines neben die Degas-Bronze auf den Tisch. Er sagte: »Cheers« und trank sein Glas bis zur Neige aus, aber noch immer regte Smiley sich nicht. Seine Passivität heizte Tobys Ärger von neuem an.
»Also habe ich ihn umgebracht, George, okay? Hector ist schuld, okay? Hector ist persönlich und allein verantwortlich für den Tod des alten Mannes. Das ist doch die Höhe!« Er warf beide Hände vor, Handflächen nach oben. »George! sagen Sie selbst! -, George, für diese Geschichte sollte ich nach Hamburg fliegen, privat, ohne Legende, ohne Babysitter. Wissen Sie, wo dort oben die Grenze zu Ostdeutschland ist? Zwei Kilometer von Lübeck? Weniger. Erinnern Sie sich? In Travemünde mußte man auf der linken Straßenseite bleiben, oder man war versehentlich übergelaufen.« Smiley lachte nicht. »Und für den unwahrscheinlichen Fall, daß ich zurückkäme, sollte ich George Smiley mobilisieren, mit ihm rübergehen zu Saul Enderby, an die Hintertür klopfen wie ein Schnorrer - >Lassen Sie uns rein, Saul, bitte, wir haben von Otto Leipzig eine total zuverlässige Information, nur fünf Schweizer Riesen für ein mündliches Expose über Dinge, die nach den Gesetzen der Boy Scouts streng verboten sind?< Sollte ich das tun, George?«
Aus einer Innentasche zog Smiley ein zerknittertes englisches Zigarettenpäckchen. Aus dem Päckchen zog er den selbstgefertigten Kontaktabzug, den er Toby über den Tisch hinweg zur Ansicht reichte: »Wer ist der zweite Mann?«
»Weiß ich nicht.«
»Nicht sein Partner, der Sachse, der Mann, mit dem er in den alten Zeiten zum Klauen ging? Kretzschmar?«
Toby Esterhase schüttelte den Kopf und blickte unverwandt das Bild an.
»Wer ist der zweite Mann?« fragte Smiley abermals.
Toby gab das Foto zurück. »George, darf ich Ihnen etwas sagen, bitte?« sagte er ruhig. »Hören Sie mir zu?«
Vielleicht hörte Smiley zu, vielleicht auch nicht. Er schob den Abzug wieder in das Zigarettenpäckchen.
»Heutzutage kann man so etwas leicht fälschen, wissen Sie? Ein Kinderspiel, George. Ich will einen Kopf auf eine andere Schulter setzen, ich habe die Ausrüstung, ich brauche vielleicht zwei Minuten. Sie sind nicht technisch veranlagt, George, von solchen Sachen verstehen Sie nichts. Sie kaufen keine Fotos von Otto Leipzig, Sie kaufen keinen Degas von Signor Benati, können Sie mir folgen?«
»Kann man auch Negative fälschen?«
»Klar. Man fälscht den Abzug, fotografiert ihn, macht ein neues Negativ, warum nicht?«
»Ist das hier eine Fälschung?« fragte Smiley.
Toby zögerte lange. »Ich glaube nicht.«
»Leipzig war viel auf Reisen. Wie erreichten wir ihn, wenn wir ihn brauchten?« fragte Smiley.
»Er durfte uns nicht nahekommen. Niemals.«
»Wie erreichten wir ihn also?«
»Für einen Routinetreff per Heiratsanzeige im Hamburger Abendblatt: Petra, 22, zierliche Blondine, ehem. Sängerin . . . diesen Schmus. George, hören Sie mir zu. Leipzig ist ein gefährlicher Strolch mit sehr vielen lausigen Verbindungen, die meisten noch in Moskau.«
»Und in dringenden Fällen? Hatte er ein Haus? Ein Mädchen?« »Er hatte nie im Leben ein Haus. Für Blitztreffs amtierte Kretzschmar als Schlüsselverwahrer. George, hören Sie mir doch um Gottes willen einmal zu -«
»Und wie erreichten wir Kretzschmar?«
»Er besitzt ein paar Nightclubs. Puffs. Dort hinterließen wir Nachricht.«
Ein warnendes Schnarren ertönte, und von droben hörten sie eine Auseinandersetzung zwischen zwei Stimmen.
»Bedauere, aber Signor Benati hat heute eine Besprechung in Florenz«, sagte das blonde Mädchen. »Das kommt davon, wenn man international ist.«
Doch der Besucher wollte ihr nicht glauben. Smiley hörte die anschwellende Woge seiner Widerrede. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten Tobys braune Augen bei dieser Verlautbarung nach oben, dann öffnete er seufzend einen Wandschrank und entnahm ihm, ungeachtet der Sonnenhelle im Oberlicht, einen schmierigen Regenmantel und einen braunen Hut.
»Wie heißt er?« fragte Smiley. »Kretzschmars Nightclub. Wie heißt er?«
»The Blue Diamond. George, tun Sie's nicht, okay? Was immer Sie vorhaben, lassen Sie's. Selbst wenn das Foto echt ist, was dann? Dann verdankt der Circus Otto Leipzig das Bild von irgendeinem Kerl. Glauben Sie, das ist plötzlich eine Goldmine? Glauben Sie, daß es Saul Enderby vom Stuhl reißt?«
Smiley sah Toby vor sich, sah ihn in der Erinnerung und erinnerte sich auch, daß in all den Jahren, die sie einander gekannt und zusammen gearbeitet hatten, Toby kein einziges Mal freiwillig mit der Wahrheit herausgerückt war; daß Information für ihn Geld war; selbst wenn er sie für wertlos hielt, warf er sie niemals weg.
»Was hat Wladimir Ihnen sonst noch über Leipzigs Information gesagt?« fragte Smiley.
»Er sagte, es sei ein alter Fall, der wieder akut geworden ist. Jahrelange Investitionen. Irgendeinen Mist über den Sandmann. Er war wieder ein Kind, erinnerte sich an Märchen, du lieber Himmel! Verstehen Sie, was ich meine?«
»Was ist mit dem Sandmann?«
»Ich sollte Ihnen sagen, es betrifft den Sandmann. Sonst nichts. Der Sandmann baut eine Legende für ein Mädchen. Max wird verstehen. George, er hat geweint, du lieber Gott. Er hätte alles gesagt, was ihm gerade einfiel. Er wollte den Kampf. Er war ein alter Spion, dem nicht mehr viel Zeit blieb. Wir sagten immer, die sind die Schlimmsten.«
Toby war schon halbwegs durch die Hintertür. Aber er machte kehrt und kam zurück, trotz des Lärms, der sich von droben näherte, denn etwas an Smileys Verhalten schien ihn zu beunruhigen - »Er glotzte so bedrohlich«, wie er später erklärte, »als hätte ich ihn irgendwie schrecklich beleidigt.«
»George? George, ich bin's, Toby, erinnern Sie sich? Wenn Sie nicht schleunigst zusehen, daß Sie hier rauskommen, dann wird der Kerl dort droben Sie als Abschlagszahlung kassieren, hören Sie?«
Was Smiley offenbar nicht tat. »Jahrelange Investitionen, und der Sandmann baut eine Legende für ein Mädchen?« wiederholte er. »Was sonst noch? Toby, was sonst noch?«
»Er benahm sich wie ein Irrer.«
»Der General? Wladi benahm sich wie ein Irrer?«
»Nein, der Sandmann. George, hören Sie bloß: >Der Sandmann benimmt sich wieder wie ein Irrer, der Sandmann baut eine Legende für ein Mädchen. Max wird verstehen.< Finito. Ende des Fahnenmastes. Ich habe Ihnen jedes Wort gesagt. Lassen Sie's jetzt gut sein, ja?«
Die streitenden Stimmen droben wurden lauter. Eine Tür schlug zu, stampfende Schritte näherten sich der Treppe. Toby versetzte Smileys Arm einen letzten flüchtigen Klaps.
»Leben Sie wohl, George. Wenn Sie eines Tages einen ungarischen Babysitter brauchen, rufen Sie mich an. Hören Sie? Wenn Sie sich mit einem Knilch wie Otto Leipzig einlassen wollen, dann sollten Sie einen Knilch wie Toby zu ihrem Schutz dabeihaben. Gehen Sie nachts nicht alleine aus, Sie sind noch zu jung.« Als Smiley die Eisentreppe zur Galerie hinaufkletterte, hätte er um ein Haar einen erbosten Gläubiger beim Abstieg angerempelt. Aber das war Smiley egal, desgleichen das freche Aufseufzen der Aschblonden, als er auf die Straße trat. Wichtig war nur, daß er einen Namen für das zweite Gesicht auf dem Foto hatte; und die zu dem Namen gehörige Geschichte, die während der letzten sechsunddreißig Stunden an seinem Gedächtnis gezerrt hatte, wie ein nicht diagnostizierter Schmerz - wie Toby vielleicht gesagt hätte, die Geschichte einer Legende.
Und hier liegt in der Tat das Dilemma jener Möchtegern-Historiker, die es sich, Monate nur nach Abschluß des Falls, angelegen sein lassen, das Ineinandergreifen von Smileys Wissen und Handeln nachzuzeichnen. Toby berichtete ihm dies und jenes, sagen sie, folglich tat er dies und jenes. Oder: Wäre eine bestimmte Sache nicht passiert, dann hätte es keinen Entschluß gegeben. Doch die Wahrheit ist viel komplizierter und weit weniger bequem zur Hand. Wie ein Patient nach dem Erwachen aus der Narkose seine Gliedmaßen durchprobiert - linkes Bein, rechtes Bein, lassen sich die Finger beugen und strecken? -, so wuchs Smiley dank einer Abfolge von vorsichtigen Bewegungen wieder seine eigene körperliche und geistige Kraft zu, und er sondierte die Motive seines Gegners, wie er seine eigenen sondierte.