18

Maria Ostrakowa lag auf dem Sofa, blickte hinaus ins Zwielicht und fragte sich ernsthaft, ob es wohl den Weltuntergang ankün­dige.

Den ganzen Tag hatte dasselbe trübe Grau über dem Hof gelegen und ihr winziges Universum einem immerwährenden Abend ausgeliefert. In der bräunlichen Morgendämmerung war das Grau noch dichter geworden. Um Mittag, kurz nach dem Auf­tauchen der Männer, erfolgte eine himmlische Stromsperre, Grabesfinsternis sank herab, wie ein Vorgriff auf Maria Ostra­kowas eigenes Ende. Und jetzt, am Abend, schickte sich ein kriechender Nebel an, die vor der Dunkelheit zurückweichen­den Kräfte des Lichts endgültig zu besiegen. Und genauso wird es mit der Ostrakowa enden, dachte sie ohne Bitterkeit: mit mei­nem zerschlagenen, schwarz und blau gefleckten Körper und mit meiner belagerten Festung und mit meinen Hoffnungen auf die Wiederkunft des Erlösers; genauso wird es enden, mein Lebens­licht wird dahinschwinden.

Als sie an diesem Morgen erwacht war, hatte sie sich an Händen und Füßen gefesselt geglaubt. Sie hatte versucht, ein Bein zu be­wegen, und schon schnitten glühende Ketten ihr in Schenkel, Brust und Bauch. Sie hatte einen Arm angehoben, doch eiserne Bande rissen ihn wieder zurück. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis sie ins Badezimmer gekrochen, und eine zweite, bis sie aus­gezogen war und im warmen Wasser lag. Beim Hineinsteigen fürchtete sie, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden, ihre vom Straßenpflaster aufgeschundene Haut brannte wie Feuer. Sie hörte ein Hämmern und glaubte, es sei in ihrem Kopf, bis sie be­griff, daß es von einem aufgebrachten Nachbarn stammte. Als sie die Schläge der Kirchenuhr zählte, kam sie nur auf vier; kein Wunder also, wenn der Nachbar gegen das donnernde Rauschen in den alten Leitungen protestierte. Die Anstrengung des Kaf­feekochens hatte sie erschöpft, aber sie konnte sich plötzlich nicht mehr setzen, es war genauso unerträglich, wie das Liegen. Blieb als Ruhestellung nur noch, daß sie sich über den Ausguß beugte und die Ellbogen auf das Ablaufbrett stützte. Von hier aus konnte sie den Hof überblicken, zum Zeitvertreib und zur Sicherheit, und von hier aus hatte sie die Männer erspäht, die beiden Geschöpfe der Finsternis - wie sie jetzt befand -, und ge­hört, daß sie der Concierge etwas zuriefen und die dumme alte Ziege zurückblökte und dabei ihren blöden Kopf schüttelte -»Nein, Madame Ostrakowa ist nicht da, nicht da« -, nicht da, in zehn verschiedenen Variationen, daß es gleich einer Arie durch den Hof schallte - ist nicht da -, alles übertönte, das Teppich­klopfen und den Kinderlärm und das Geschnatter der beiden al­ten Weiber vom dritten Stock, die ihre mit Schals umwickelten Köpfe aus zwei Meter voneinander entfernten Fenstern streck­ten - ist nicht da! -, bis nicht einmal ein Kind es mehr geglaubt hätte.

Wenn sie lesen wollte, mußte sie das Buch auf das Ablaufbrett le­gen, und dort deponierte sie nach dem Auftauchen der Männer auch die Waffe, bis sie die Öse am Kolben bemerkte und, als praktische Frau, aus Bindfaden eine Schlaufe anfertigte und sich die Pistole um den Hals hängte. So hatte sie beide Hände frei, um sich bei jeder Fortbewegung abstützen zu können. Aber als die Waffe ihr gegen die Brüste stieß, wurde ihr vor Schmerz übel. Nachdem die Männer wieder gegangen waren, hatte sie bei ihren häuslichen Verrichtungen, die sie während ihrer Gefangenschaft nicht vernachlässigen wollte, laut vor sich hinzureden begonnen. »Ein großer Mann, ein Ledermantel, ein Homburg-Hut«, hatte sie gemurmelt und sich zur Herzstärkung eine tüchtige Dosis Wodka genehmigt. »Ein breiter Mann, schütteres Haar, graue Schuhe mit Lochmuster!« Lieder machen aus meinen Erinne­rungen, hatte sie gedacht; sie dem Magier vorsingen, dem Gene­ral — oh, warum antworten sie nicht auf meinen zweiten Brief?

Sie war wieder ein Kind, stürzte von ihrem Pony, und das Pony machte kehrt und trampelte auf ihr herum. Sie war wieder eine Frau und versuchte, Mutter zu werden. Sie entsann sich der drei Tage währenden unmenschlichen Qualen, als Alexandra sich er­bittert dagegen wehrte, in das graue und gefährliche Licht einer unsauberen Moskauer Gebärklinik zu treten - das gleiche Licht, das jetzt vor dem Fenster herrschte und wie künstlicher Staub auf den gebohnerten Fußböden der Wohnung lag. Sie hörte sich nach Glikman rufen: »Er soll kommen, er soll kommen.« Sie er­innerte sich, daß ihr manchmal war, als trage sie Glikman, ihren Liebsten, und nicht ihr Kind; als versuche sein ganzer kraftvoller haariger Körper sich seinen Weg aus ihr - oder in sie? - zu bah­nen; als liefere sie mit dieser Geburt Glikman der Gefangen­schaft aus, vor der sie ihn so gern bewahrt hätte.

Warum war er nicht da, warum kam er nicht? fragte sie sich und verwechselte Glikman mit dem General und mit dem Magier. Sie wußte sehr wohl, warum Glikman nicht gekommen war, während sie mit Alexandra rang. Sie selbst hatte ihn gebeten, wegzubleiben. »Du hast den Mut zu leiden, und das genügt«, hatte sie zu ihm gesagt. »Aber du hast nicht den Mut, die Leiden anderer mitanzusehen, und auch darum liebe ich dich. Christus hatte es zu leicht«, sagte sie. »Christus konnte die Aussätzigen heilen, Christus konnte die Blinden sehend machen und die To­ten wieder zum Leben erwecken. Aber du bist nicht Christus, du bist Glikman, und du kannst nichts gegen meine Leiden tun als zusehen und mitleiden, und davon hat niemand etwas.«

Aber der General und sein Magier konnten mehr, sagte sie sich ein wenig ungehalten; sie haben sich anheischig gemacht, mich von meinem Übel zu heilen, und ich habe ein Recht auf ihre Hilfe!

Zur verabredeten Zeit war die blöde, blökende Concierge heraufgekommen, komplett mit Ehetrottel und Schraubenzieher. Sie waren voll freudiger Erregung und frohlockten, der Ostrakowa so erquickende Kunde bringen zu können. Die Ostrakowa hatte sich auf ihr Kommen sorgfältig vorbereitet, Musik eingeschaltet und Make-up aufgelegt und Bücher neben dem Sofa ge­stapelt, um eine Atmosphäre entspannter Beschaulichkeit zu schaffen.

»Besuch, Madame, Herren . . . Nein, ihren Namen wollten sie nicht sagen . . . nur auf der Durchreise . . . kannten ihren Gat­ten, Madame. Emigranten, wie Sie ... Nein, es sollte eine Überraschung bleiben, Madame . . . Die Herren sagten, sie hät­ten Geschenke für Sie von Verwandten, Madame ... ein Ge­heimnis, Madame, und einer war so groß und kräftig, ein schö­ner Mann . . . Nein, sie kommen ein andermal wieder, sie sind geschäftlich hier, viele Termine, sagten sie ... Nein, in einem Taxi, und sie ließen es warten - was das gekostet haben muß, be­denken Sie bloß!«

Die Ostrakowa hatte gelacht und der Concierge die Hand auf den Arm gelegt, um sie auch physisch in ein großes Geheimnis einzubeziehen, während der Ehetrottel dastand und die beiden Frauen mit Zigarettenrauch und Knoblauch einnebelte.

»Hören Sie zu«, sagte die Ostrakowa. »Alle beide. Passen Sie gut auf. Ich weiß genau, wer sie sind, diese reichen und gutausse­henden Besucher. Es sind die beiden nichtsnutzigen Neffen mei­nes Mannes aus Marseille, Faulpelze und Herumtreiber. Wenn sie mir ein Geschenk mitbringen, dann können Sie sicher sein, daß sie dafür ein Bett und womöglich auch Abendessen wollen. Seien Sie so gut und sagen Sie ihnen, ich bliebe noch ein paar Tage auf dem Land. Ich habe die beiden von Herzen gern, aber ich brauche meine Ruhe.«

Mochten auch Reste von Zweifel oder Enttäuschung in den hausmeisterlichen Herzen zurückgeblieben sein, die Ostrakowa entschädigte sie durch eine Geldspende, und jetzt war sie wieder allein - die Schlaufe um den Hals. Sie streckte sich auf dem Sofa aus und schob ein Kissen unter die Hüfte, eine halbwegs erträgli­che Lage. Die Waffe in ihrer Hand war auf die Tür gerichtet, und sie konnte die treppauf kommenden Schritte hören, zwei Paar Füße, das eine schwer, das andere leicht.

Wieder sagte sie vor sich hin: »Eingroßer Mann, ein Ledermantel . . . Ein breiter Mann, graue Schuhe mit Lochmuster . . .«

Dann das Klopfen, schüchtern wie eine kindliche Liebeserklä­rung. Und die unvertraute Stimme, die ein unvertrautes Franzö­sisch sprach mit einem unvertrauten Akzent, langsam und klas­sisch, wie ihr Mann Ostrakow, und mit der gleichen gewinnen­den Weichheit.

»Madame Ostrakowa. Bitte lassen Sie mich ein. Ich will Ihnen helfen.«

Mit dem Gefühl, das Ende aller Dinge sei da, entsicherte die Ostrakowa bedächtig die Pistole ihres Mannes und begab sich mit festen, wenn auch schmerzenden Schritten zur Tür. Sie schob sich seitwärts heran, und sie trug keine Schuhe, und sie mißtraute dem Guckloch. Nichts vermochte sie zu überzeugen, daß es nicht in beide Richtungen gucken konnte. Deshalb nahm sie den Umweg an der Wand entlang, denn sie hoffte, so aus der Sichtlinie zu bleiben, und unterwegs kam sie an Ostrakows ver­blichenem Portrait vorbei und verübelte ihm sehr, daß er so ego­istisch gewesen war, früh zu sterben, anstatt am Leben zu blei­ben und sie zu beschützen. Dann dachte sie: nein. Darüber bin ich hinaus. Ich habe selber Mut genug.

Und den hatte sie. Sie zog in den Kampf, jeder Augenblick konnte ihr letzter sein, aber der Schmerz war verschwunden, ihr Körper fühlte sich so bereit, wie er es für Glikman gewesen war, immer, zu jeder Zeit; sie fühlte seine Kraft in ihre Glieder strömen wie ein Verstärkungskontingent. Glikman war bei ihr, und sie entsann sich seiner Stärke, ohne sie sich zu wünschen. Wie ein biblisches wunder schien seine unerschöpfliche Liebesfähigkeit sie für die­sen Moment gestählt zu haben. Sie hatte Ostrakows Ruhe und sie hatte Ostrakows Ehre; sie hatte seine Waffe. Doch ihr verzweifel­ter einsamer Mut kam aus ihr selber, war der Mut einer bedrohten und beraubten und bis aufs Blut gereizten Mutter: Alexandra! Die Männer, die gekommen waren, um sie zu töten, waren die gleichen, die sie unerfüllter Mutterpflichten geziehen, die Ostrakow und Glikman getötet hatten und die ganze unselige Welt töten würden, wenn sie, Maria Ostrakowa, ihnen nicht Einhalt gebot. Sie wollte genau zielen, ehe sie feuerte, und sie hatte sich ausge­dacht, daß sie, da die Tür geschlossen und die Kette vorgelegt und das Guckloch da war, aus nächster Nähe zielen könnte, denn sie machte sich keine Illusionen über ihre Treffsicherheit. Sie legte den Finger auf das Guckloch, damit niemand mehr her­einschauen könne, dann preßte sie das Auge dagegen, um zu se­hen, wer draußen sei, und das erste, was sie sah, war ihre verblö­dete Concierge, ganz nah, rund wie eine Zwiebel im verzerren­den Glas, mit grünem Haar vom Widerschein der Keramikflie­sen des Treppenpodests und einem gewaltigen Gummigrinsen und einer Nase, die wie ein Entenschnabel vorsprang. Und der Ostrakowa ging flüchtig durch den Kopf, daß die leichten Schritte von der Concierge gestammt hatten - Leichtigkeit war, wie Schmerz und Freude, stets eine relative Größe, abhängig vom Vorher und Nachher. Und als zweites sah sie einen kleinen Mann im braunen Tweedmantel, der im Guckloch so kugelig war wie das Michelin-Männchen. Und während sie ihn beäugte, nahm er einen Strohhut ab, der geradewegs aus einem Roman von Turgenjew stammte, und hielt ihn seitwärts an sich gepreßt, als werde die Nationalhymne seines Landes gespielt. Und sie schloß aus dieser Geste, der kleine Mann wolle ihr sagen, er wis­se, daß sie sich am allermeisten vor einem überschatteten Gesicht fürchte und habe den Kopf entblößt, um ihr gewissermaßen seine redlichen Absichten zu enthüllen.

Seine Regungslosigkeit und sein Ernst hatten etwas soldatisch Re­spektvolles und erinnerten sie, genau wie die Stimme, wiederum an Ostrakow; mochte das Glas ihn zu einem Frosch verzerren, seiner Haltung konnte es nichts anhaben. Auch die Brille erin­nerte sie an Ostrakow, eine Sehhilfe, so notwendig, wie die Krücke eines Invaliden. Das alles gewahrte die Ostrakowa mit hämmerndem Herzen, aber sehr ruhigem Auge, bei ihrer ersten langen Musterung, während sie die Waffe an die Tür und den Fin­ger an den Abzug preßte und überlegte, ob sie den Mann nicht so­fort und auf der Stelle, durch die Tür hindurch, erschießen solle -»Nimm das für Glikman, das für Ostrakow, das für Alexandra!«

Denn in ihrem Argwohn hielt sie es für möglich, daß man den Mann eben wegen seines menschlichen Aussehens gewählt hatte; weil man wußte, daß auch Ostrakow diese Gabe besessen hatte, fett und würdevoll zugleich zu sein.

»Ich brauche keine Hilfe«, rief die Ostrakowa schließlich zur Antwort und beobachtete schreckensstarr, welche Wirkung diese Worte auf ihn haben würden. Doch während sie beobach­tete, beschloß die schwachsinnige Concierge, auf eigene Rech­nung loszuplärren.

»Madame, er ist ein Gentleman! Er ist Engländer! Er sorgt sich um Sie. Sie sind krank, Madame, die ganze Straße macht sich Ih­retwegen Sorgen! Madame, Sie dürfen sich nicht länger so ein­schließen.« Pause. »Er ist Arzt, Madame - nicht wahr, Mon­sieur? Ein berühmter Arzt für Gemütsleiden!« Dann hörte die Ostrakowa das blöde Weib zischeln: »Sagen Sie's ihr, Monsieur. Sagen Sie ihr, daß Sie Arzt sind!«

Doch der Fremde schüttelte ablehnend den Kopf und erwiderte:

»Nein. Ich bin kein Arzt.«

»Madame, machen Sie auf oder ich hole die Polizei!« schrie die Concierge. »Eine Russin und sich so aufführen!«

»Ich brauche keine Hilfe«, wiederholte die Ostrakowa jetzt be­deutend lauter.

Aber sie wußte, daß sie nichts so dringend brauchte wie Hilfe, daß sie ohne Hilfe nie imstande sein würde zu töten, so wenig, wie Glikman je dazu imstande gewesen wäre. Auch nicht, wenn sie den Teufel persönlich im Visier hätte, könnte sie das Kind ei­ner Mutter töten.

Während sie weiter die Pistole im Anschlag hielt, trat der kleine Mann langsam einen Schritt vor, bis sie im Guckloch nur noch sein Gesicht, verzerrt, wie ein Gesicht unter Wasser, sehen konnte; und sie sah zum erstenmal die Müdigkeit darin, die gerö­teten Augen hinter den Brillengläsern, die schweren Schatten darunter; und sie spürte das leidenschaftliche Interesse, das er an ihr hatte, und das nicht ihrem Tod galt, sondern ihrem Überle­ben; sie spürte, daß sie in ein teilnehmendes Gesicht blickte, aus dem das Mitgefühl nicht für immer verbannt war. Das Gesicht kam noch näher, und das Schnappen der Briefklappe genügte, daß sie um ein Haar die Waffe versehentlich abgefeuert hätte, und diese Tatsache erfüllte sie mit Entsetzen. Sie hatte bereits das Zucken in ihrer Hand gefühlt und es gerade noch im Augenblick der Ausführung gebremst; dann bückte sie sich, um den Um­schlag aufzuheben. Es war ihr eigener Brief, an den General adressiert - der zweite, in dem stand »Jemand versucht, mich zu töten«, in Französisch geschrieben. Als letzten hinhaltenden Widerstand schützte sie den Verdacht vor, der Brief könne ein Trick sein, »sie« hätten ihn abgefangen oder gestohlen oder was Betrüger sonst anstellen mochten. Aber als sie den Brief sah, die Anfangsworte und den verzweifelten Ton wiedererkannte, wurde sie jeglichen Betrugs unendlich müde, müde auch allen Argwohns und müde der Versuche, Böses zu sehen, wo sie sich aus tiefstem Herzen Gutes zu sehen wünschte. Wieder hörte sie die Stimme des dicken Mannes, ein korrekt erlerntes, aber leicht angerostetes Französisch, und es erinnerte sie an halbvergessene Schulgedichte. Und wenn, was er sagte, Lüge war, so war es die gerissenste Lüge, die sie je im Leben gehört hatte.

»Der Magier ist tot, Madame«, sagte er, und sein Atem beschlug das Guckloch. »Ich komme aus London, um Ihnen an seiner Statt zu helfen.«


Noch Jahre danach und vermutlich sein ganzes Leben lang schil­derte Peter Guillam immer wieder, mit wechselnder Offenheit, wie er an jenem Abend nach Hause gekommen war. Er wies je­desmal besonders darauf hin, daß die Umstände außergewöhn­lich gewesen waren. Er hatte - erstens - schlechte Laune gehabt, schon den ganzen Tag. Zweitens - sein Botschafter tadelte ihn bei der wöchentlichen Mitarbeiterbesprechung vor versammel­ter Mannschaft wegen einer unziemlich leichtfertigen Bemer­kung über die britische Zahlungsbilanz. Er war - drittens - erst seit kurzem verheiratet und seine sehr junge Frau erwartete ein Kind. Ihr Telefonanruf kam - viertens - wenige Minuten, nachdem er ein langes und höchst langweiliges Fernschreiben des Circus entschlüsselt hatte, worin er zum fünfzehntenmal erwähnt wurde, auf französischem Boden keine - wiederhole, keine - Operationen ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Londoner Einsatzzentrale zu unternehmen. Zudem - fünf­tens - litt tout Paris wieder einmal unter der periodisch auftre­tenden Kidnapping-Panik. Und schließlich galt der Posten des Circus-Residenten in Paris allgemein als vorletzte Ruhestätte für pensionsreife Funktionäre, denn was dort geboten wurde, be­schränkte sich im Wesentlichen auf endlose Dejeuners mit einem Sammelsurium sehr korrupter, sehr langweiliger Chefs rivalisie­render Geheimdienste, die mehr Zeit darauf verwendeten, sich gegenseitig zu bespitzeln, als die mutmaßlichen Feinde auszu­spähen. Alle diese Faktoren, so betonte Guillam später aus­drücklich, seien zu berücksichtigen, ehe man ihn der Unbe­herrschtheit bezichtige. Guillam war übrigens väterlicherseits französischer Abstammung, doch in seiner sportlichen Erschei­nung dominierte die englische Hälfte; er war schlank und sah recht gut aus, aber er ging auch - wenngleich er unermüdlich da­gegen ankämpfte - auf die Fünfzig zu, eine Weiche, die nur we­nige Außenagenten überfahren, ohne aufs Abstellgleis zu gera­ten. Er fuhr einen brandneuen deutschen Porsche, den er, eini­germaßen schlechten Gewissens, mit Diplomatenrabatt gekauft hatte und zur schärfsten Mißbilligung des Botschafters auf dem Gesandtschaftsparkplatz abstellte.

Damals also rief Marie-Claire Guillam ihren Mann punkt sechs Uhr an, gerade, als Guillam seine Codebücher wegschloß. Guil­lam hatte zwei Telefonanschlüsse, einen, der theoretisch opera­tiven Anrufen diente und direkt war. Der zweite ging über die Hausvermittlung. Marie-Claire rief über die direkte Leitung an, was, wie sie mit ihrem Mann übereingekommen war, äußersten Notfällen vorbehalten bleiben mußte. Seit einiger Zeit bedienten beide sich des Englischen, damit Marie-Claire es fließender sprechen lerne, jetzt aber sprach sie französisch, ihre Muttersprache.

»Peter«, begann sie.

Er hörte sofort die Erregung in ihrer Stimme.

»Maire-Claire? Was ist los?«

»Peter, hier ist ein Herr. Er möchte, daß du sofort kommst.«

»Wer?«

»Das kann ich nicht sagen. Es ist wichtig. Bitte komm sofort nach Hause«, wiederholte sie und legte auf.

Guillams Bürovorsteher, ein Mr. Anstruther, hatte an der Tür zum Tresorraum auf ihn gewartet, als der Anruf kam, denn Guillam mußte das Kombinationsschloß einstellen, ehe er und der Bürovorsteher ihre Schlüssel betätigten. Anstruther sah durch die offene Bürotür, wie Guillam den Hörer auf die Gabel knallte, und als nächstes sah er den geheiligten persönlichen Schlüssel des Residenten, eine Art Symbol seines Amtes, durch die Luft fliegen - ein weiter Flug, wohl an die fünfzehn Fuß -, und wie durch ein Wunder gelang es Mr. Anstruther, den Schlüssel aufzufangen: griff mit der linken Hand nach oben und schnappte ihn aus der Luft, wie ein amerikanischer Baseball-Star; er würde es nie wieder fertigbringen, und wenn er es hun­dertmal versuchte, sagte er später zu Guillam.

»Rühren Sie sich nicht aus dem Büro, bis ich anrufe!« rief Guil­lam. »Sie setzen sich an meinen Schreibtisch und bedienen diese Telefone. Hören Sie?«

Anstruther hörte, aber inzwischen war Guillam schon halbwegs die lächerlich zierliche geschwungene Treppe der Botschaft hin­untergerast, überholte Stenotypistinnen und Wachleute und cle­vere junge Männer, die auf dem Weg zur abendlichen Cocktail-Runde waren. Sekunden später saß er am Steuer des Porsche und jagte den Motor auf Touren, wie ein Rennfahrer, der er in einem anderen Leben durchaus hätte sein können. Guillam wohnte in Neuilly, und gewöhnlich machten die Spurts durch den Ver­kehrsstrom ihm Spaß, denn sie erinnerten ihn täglich zweimal daran - so sagte er-, daß die Arbeit in der Botschaft zwar geisttö­tend langweilig, das Leben draußen aber immer noch gefahrvoll» kernig und köstlich war. Manchmal stoppte er sogar seine Fahr­zeit. Über die Avenue Charles de Gaulle und bei günstigem Wind an den Ampeln waren fünfundzwanzig Minuten im Abendverkehr nicht unmöglich. Spät nachts oder frühmorgens schaffte er es bei leeren Straßen und dank des CD-Schilds in einer Viertelstunde, aber zur Stoßzeit waren fünfunddreißig Minuten schon optimal und vierzig die Norm. An jenem Abend legte er, gejagt von der Vorstellung einer von verblendeten Nihilisten mit der Waffe bedrohten Marie-Ciaire, die Strecke in glatten acht­zehn Minuten zurück. Polizeiprotokolle, die später auf den Schreibtisch des Botschafters flatterten, sprachen von drei über­fahrenen Rotlichtern und knappen Hundertvierzig in der Zielge­raden, aber diese Angabe konnte nur auf Schätzung beruhen, denn niemand hatte die geringste Lust gehabt, mit ihm gleichzu­ziehen. Guillam selber erinnert sich kaum an die Fahrt, nur noch an einen Beinahe-Zusammenstoß mit einem Lastwagen und an einen verrückt gewordenen Radfahrer, der dringend links hatte abbiegen müssen, als Guillam nur noch hundertfünfzig Meter hinter ihm war.

Seine Wohnung lag an einer Privatstraße im dritten Stock. Kurz vor der Zufahrt trat er hart auf die Bremse, stellte den Motor ab und kam schlitternd am Straßenrand zum Stehen, dann sauste er bis zur Haustür, so leise, wie sein Tempo es zuließ. Er hatte er­wartet, irgendwo in der Nähe ein parkendes Fluchtauto zu se­hen, wahrscheinlich mit einem Fahrer startbereit am Steuer, doch zu seiner vorübergehenden Erleichterung war keines in Sicht. Aber im Schlafzimmer brannte Licht, und jetzt stellte er sich Marie-Ciaire geknebelt und ans Bett gefesselt vor und dane­ben die Banditen, die auf sein Eintreffen warteten. Sollten sie es auf Guillam abgesehen haben, so war er gesonnen, sie nicht zu enttäuschen. Er war unbewaffnet gekommen, notgedrungen. Die Housekeepers des Circus hegten einen heiligen Abscheu vor Schußwaffen, und sein verbotswidriger Revolver lag in der Nachttischlade, wo die Banditen ihn inzwischen zweifellos ge­funden hatten. Er flitzte lautlos die drei Treppen hinauf, und vor der Wohnungstür warf er sein Jackett ab und ließ es neben sich auf den Boden fallen. Er hatte den Schlüssel bereits in der Hand, und jetzt schob er ihn so behutsam wie möglich ins Schloß, dann drückte er auf den Klingelknopf und rief durch den Briefschlitz »Facteur« - Postbote - und dann »Exprés«. Mit der Hand am Schlüssel wartete er, bis er Schritte herankommen hörte, die, wie er sogleich wußte, nicht von Marie-Claires Füßen stammten. Die Schritte waren langsam, ja, gewichtiger, und für Guillams Ohr längst nicht verstohlen genug. Und sie kamen vom Schlaf­zimmer her. Danach tat er eine Menge Dinge gleichzeitig. Das öffnen der Tür von innen erforderte, wie er wußte, zwei genau definierte Handgriffe: zuerst die Kette aushängen, dann den Schnapper zurückziehen. Geduckt wartete Guillam, bis er die Kette gleiten hörte, dann setzte er seine Überraschungswaffe ein: Er drehte seinen Schlüssel, warf sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür und genoß im nächsten Moment den zutiefst be­friedigenden Anblick einer fülligen männlichen Gestalt, die rücklings gegen den Dielenspiegel flog und ihn aus der Halte­rung riß, während Guillam den Arm des Mannes packte und mit einem gemeinen Griff fast bis zum Brechen verdrehte - nur um in die bestürzten Züge seines lebenslangen Freundes und Mentors George Smiley zu blicken, die ihn hilflos anstarrten.


Was auf diesen Zusammenprall folgte, wird von Guillam ein we­nig nebulos geschildert; er hatte natürlich keine Ahnung von Smileys Kommen gehabt, und solange sie in der Wohnung wa­ren, sagte Smiley - vielleicht aus Furcht vor Mikrophonen — we­nig Erhellendes. Marie-Ciaire war im Schlafzimmer, aber weder gefesselt noch geknebelt, und auf dem Bett lag, von Marie-Ciaire dorthin beordert, die Ostrakowa, noch immer in ihrem alten schwarzen Kleid, und Marie-Ciaire verwöhnte sie mit allem, was das Haus zu bieten hatte - Hühnerbrüstchen in Aspik, Pfeffer­minztee, sämtlichen Schongerichten, die sie emsig für den wun­dervollen, doch leider nicht absehbaren Tag gehortet hatte, an dem Guillam krankheitshalber ihrer Betreuung bedürfte. Wie Guillam feststellte, mußte die Ostrakowa (deren Namen er al­lerdings noch nicht kannte) gewaltige Prügel bezogen haben.

Graue Druckstellen breiteten sich um Augen und Mund aus, und ihre Finger waren schwer lädiert, offenbar hatte sie versucht, sich zu wehren. Nachdem Smiley den Hausherrn einen kurzen Blick auf die Szene hatte werfen lassen - die Dame in der Obhut der besorgten Kind-Frau -, führte er Guillam in dessen eigenen Salon und erteilte ihm mit der Autorität des ehemaligen Chefs, der er ja war, in aller Eile seine Anweisungen. Erst jetzt erhielt Guillams hastige Heimfahrt doch noch ihre nachträgliche Recht­fertigung. Die Ostrakowa - Smiley sagte nur »unser Gast« -müsse noch heute Abend Paris verlassen, sagte er. Das sichere Haus der Residentur in der Nähe von Orleans - er sagte »unser Landsitz« - sei nicht sicher genug, sie müsse an einen Ort ge­bracht werden, wo sie Pflege und Schutz fände. Guillam entsann sich eines französischen Ehepaars in Arras. Eines pensionierten Agenten und dessen Frau, die schon früher den einen oder ande­ren Zugvogel des Circus beherbergt hatten. Man kam überein, daß er in Arras anrufe, aber nicht von der Wohnung aus: Smiley schickte ihn zu einer öffentlichen Telefonzelle. Als er die not­wendigen Verabredungen getroffen hatte und wieder heimkam, hatte Smiley bereits ein kurzes Fernschreiben auf einem Bogen von Marie-Claires abscheulichem Briefpapier mit den grasenden Häschen entworfen, das Guillam unverzüglich an den Circus ab­senden sollte. »Persönlich an Saul Enderby, nur vom Empfänger zu entschlüsseln.« Der Text, den Guillam auf Smileys Geheiß le­sen mußte (aber nicht laut), bat Enderby »betreffs eines zweiten, Ihnen inzwischen sicherlich zur Kenntnis gelangten Todesfalls« höflich um eine Zusammenkunft bei Ben in achtundvierzig Stunden. Guillam hatte keine Ahnung, wer Ben war.

»Und, Peter.«

»Ja, George«, sagte Guillam, noch immer ganz benommen.

»Ich nehme an, es gibt eine offiziellle Telefonliste der in Paris ak­kreditierten Diplomaten. Haben Sie zufällig so ein Ding in der Wohnung?«

Guillam hatte eines. Marie-Ciaire konnte ohne dieses Verzeich­nis nicht leben. Sie hatte überhaupt kein Namensgedächtnis, daher das Heft neben dem Telefon im Schlafzimmer, damit sie es konsultieren konnte, sooft sie von einem Mitglied ausländischer Botschaften telefonisch zu einem Drink, einem Dinner oder im schlimmsten Fall anläßlich der zahlreichen Nationalfeiertage eingeladen wurden. Guillam holte es und lugte Smiley über die Schulter. »Kirow« las er - aber auch diesmal nicht laut -, als er Smileys Daumennagel folgte »Kirow, Oleg, Zweiter Sekretär (Handel), unverheiratet.« Danach eine Adresse im 7. Arrondis­sement, dem Getto der Sowjetbotschaft.

»Schon mal getroffen?« fragte Smiley.

Guillam schüttelte den Kopf. »Vor ein paar Jahren haben wir ihn uns angesehen. Er ist tabu«, antwortete er.

»Wann wurde diese Liste zusammengestellt?« fragte Smiley. Die Antwort stand auf dem Deckel. Dezember des vergangenen Jahres.

Smiley sagte: »Also, wenn Sie in Ihr Büro kommen - «

»Schaue ich in der Kartei nach«, versprach Guillam.

»Und dann noch das hier«, sagte Smiley scharf und reichte Guil­lam eine einfache Kuriertasche, in der sich, wie Guillam später feststellte, mehrere Mikrokassetten sowie ein dicker brauner Briefumschlag befanden.

»Mit der ersten Kurierpost morgen früh, bitte«, sagte Smiley. »Gleiche Einstufung und Adresse wie das Fernschreiben.«

Guillam ließ Smiley beim weiteren Studium der Telefonliste und die beiden Frauen in der Abgeschiedenheit des Schlafzimmers zurück und raste wieder zur Botschaft, wo er den verwirrten An­struther von seiner Telefonwache erlöste und ihm die Kurierta­sche zusammen mit Smileys Instruktionen ans Herz legte. Die Spannung in Smiley hatte Guillam beträchtlich zugesetzt, er schwitzte. In all den Jahren, seit er George kannte, habe er ihn, so sagte er später, nie so verschlossen, so erregt, so elliptisch, so verzweifelt gesehen. Guillam schloß den Tresorraum wieder auf, codierte das Fernschreiben, schickte es ab und wartete nur, bis die Empfangsbestätigung aus London eingegangen war; dann holte er sich die Akte über Personalveränderungen in der Sowjetbotschaft und blätterte die letzten Ausgaben der Beobach­tungslisten durch. Er mußte nicht lange suchen. Bereits die dritte Drucksache, Kopie nach London, gab die gewünschte Aus­kunft. Kirow, Oleg, Zweiter Sekretär, Handel, hier bezeichnet als »verheiratet, aber Ehefrau nicht en poste«, war vor zwei Wo­chen nach Moskau zurückgekehrt. In der Spalte für verschiedene Anmerkungen hatte die französische Verbindungs-Dienststelle eingetragen, laut informierter sowjetischer Quellen sei Kirow »kurzfristig an das sowjetische Außenministerium berufen wor­den, um dort einen überraschend freigewordenen höheren Po­sten anzutreten«. Die üblichen Abschiedspartys hatten daher nicht stattfinden können.

In Neuilly wurden Guillams Eröffnungen von Smiley mit tiefem Schweigen quittiert. Er wirkte nicht überrascht, aber er wirkte wie von einem Schauder erfaßt, und als er schließlich sprach -was er erst tat, nachdem sie alle drei im Auto saßen und in Rich­tung Arras brausten -, hatte seine Stimme einen fast hoffnungs­losen Klang. »Ja«, sagte er - als seien Guillam die Zusammen­hänge längst bekannt. »Ja, genau das würde er natürlich tun, nicht wahr? Er würde Kirow unter dem Vorwand einer Beförde­rung zurückrufen, damit er auch ganz gewiß käme.«

So hatte Georges Stimme bisher nur ein einzigesmal geklungen, sagte Guillam, der es im Nachhinein mit Sicherheit zu wissen glaubte - in jener Nacht nämlich, in der er Bill Haydon als Karlas Maulwurf und zugleich als Anns Liebhaber entlarvt hatte.


Auch die Ostrakowa hatte rückblickend kaum eine zusammen­hängende Erinnerung an diese Nacht, weder an die Autofahrt, auf der sie endlich Schlaf fand, noch an das geduldige, aber hart­näckige Verhör, dem der pummelige Mann sie unterzog. Viel­leicht hatte sie überhaupt vorübergehend ihre Wahrnehmungs­kraft - und entsprechend auch das Erinnerungsvermögen - ein­gebüßt. Sie beantwortete seine Fragen, sie war ihm dankbar, sie gab ihm - ohne die Zusätze oder »Ausschmückung« - dieselbe Information, die sie auch dem Magier gegeben hatte, obgleich der dicke Mann das meiste bereits zu wissen schien. »Der Ma­gier«, sagte sie einmal. »Tot. Mein Gott.«

Sie fragte nach dem General, achtete jedoch kaum auf Smileys unverbindliche Antwort. Sie dachte, Ostrakow, dann Glikman und jetzt der Magier - und nie sollte sie seinen Namen erfahren. Ihr Gastgeber und dessen Frau waren gleichfalls freundlich zu ihr, prägten sich jedoch ihrem Bewußtsein nicht ein. Es regnete, und sie konnte die fernen Felder nicht sehen.

Gleichwohl begann die Ostrakowa allmählich, während Woche um Woche verging, sich in ihrem Winterquartier wohlzufühlen. Die große Kälte kam früh in diesem Jahr, und sie ließ sich behag­lich einschneien; sie machte kurze Spaziergänge, dann sehr aus­gedehnte, ging früh zu Bett und sprach wenig, und im gleichen Maß, wie ihr Körper sich erholte, genaß auch ihr Geist. Anfangs herrschte verzeihliche Wirrnis in ihrem Kopf, und sie ertappte sich dabei, daß sie in denselben Ausdrücken an ihre Tochter dachte, mit denen der rothaarige Mann sie beschrieben hatte: staatsfeindliche Ausreißerin und starrsinnige Rebellin. Dann dämmerte ihr langsam die Logik der ganzen Geschichte. Ir­gendwo, so argumentierte sie, gab es die echte Alexandra, die lebte und ihr Dasein führte, wie vordem. Oder, auch wie vor­dem, nicht lebte. In jedem Fall bezogen sich die Lügen des rot­haarigen Mannes auf ein ganz anderes Mädchen, eines, das »sie« eigens für ihre Zwecke erfunden hatten. Die Ostrakowa brachte es sogar fertig, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihre Tochter, wenn überhaupt, in völliger Unkenntnis dieser Ma­chenschaften lebte.

Vielleicht bewirkten die Wunden, die ihr an Geist und Körper zugefügt worden waren, was jahrelange Gebete und Ängste nicht vermocht hatten, und befreiten sie von ihren Schuldgefüh­len gegenüber Alexandra. Sie trauerte aus tiefstem Herzen um Glikman, sie war sich klar darüber, daß sie allein in der Welt stand, doch auf dem winterlichen Land war ihr diese Einsamkeit nicht unlieb. Ein pensionierter brigadier machte ihr einen Hei­ratsantrag, aber sie lehnte ab. Später stellte sich heraus, daß er allen weiblichen Wesen Heiratsanträge machte. Peter Guillam be­suchte sie mindestens jede Woche, und manchmal gingen sie ein paar Stunden miteinander spazieren. Er plauderte in fehlerfreiem Französisch mit ihr, vorwiegend über Landschaftsgärtnerei, ein Gebiet, auf dem er schier unerschöpfliche Kenntnisse besaß. Das war das Leben der Maria Ostrakowa, soweit es mit dieser Ge­schichte zu tun hat. Und es wurde in völliger Unkenntnis der Geschehnisse zu Ende gelebt, die ihr erster Brief an den General ins Rollen gebracht hatte.

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