Krane und Gasometer verstellten den Horizont, Schornsteine spuckten träge ockerfarbenen Rauch in die niedrig hängenden Regenwolken. Wäre es nicht Sonnabend gewesen, Smiley hätte die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, doch an Samstagen wagte er sich ans Steuer, obwohl er mit dem Verbrennungsmotor auf Kriegsfuß stand. Er hatte die Themse an der Vauxhall Bridge überquert, Greenwich lag hinter ihm, und er fuhr jetzt durch das flache zersiedelte Hinterland der Docks. Während die Scheibenwischer hin- und herzitterten, krochen große Regentropfen durch die Karosserie seines armen englischen Kleinwagens. Mißmutige Kinder, die unter dem Schutzdach einer Bushaltestelle standen, riefen: »Nimm's Gas weg, Chef.«
Er hatte sich rasiert, ein Bad genommen, aber nicht geschlafen. Er hatte Wladimirs Telefonrechnung an Lacon geschickt mit der Bitte um sofortige Aufschlüsselung aller nachprüfbaren Anrufe. Sein Geist war klar, wurde aber von anarchischen Stimmungsschwankungen heimgesucht. Er trug den braunen Tweedmantel, den er immer auf Reisen benutzte. Er meisterte einen Kreisverkehr, fuhr eine Anhöhe hinauf, und plötzlich stand unter einem Aushängeschild, das einen rotgesichtigen Krieger darstellte, ein prachtvoller Pub im viktorianischen Stil vor ihm. Die Battle-of-the-Nile Street nahm hier ihren Anfang und führte zu einer Insel aus zertretenem Gras, und auf der Insel erhob sich die aus Stein und Klinker erbaute Sankt Saviour's Kirche, die den zerfallenden viktorianischen Lagerhäusern Gottes Botschaft verkündete. Ein Anschlag besagte, daß die Predigt am nächsten Sonntag von einem weiblichen Major der Heilsarmee gehalten werde, und vor dem Anschlag stand das Monstrum: ein zehn Meter langer knallroter Riesenlaster. Die Seitenfenster waren mit Fußballwimpeln bestückt, und eine Menge buntscheckiger Hotelaufkleber bedeckten eine der Türen. Der Laster war das größte Ding weit und breit, größer sogar als die Kirche. Irgendwo in der Ferne hörte Smiley, wie ein Motorrad verlangsamte und dann wieder beschleunigte, aber er nahm sich nicht einmal die Mühe, umzuschauen. Die vertraute Eskorte war ihm seit Chelsea gefolgt; doch Angst ist, wie er in Sarratt zu predigen pflegte, eine Ermessensfrage.
Smiley folgte einem Pfad durch einen gräberlosen Friedhof. Reihen von Leichensteinen begrenzten die Fläche, den Mittelpunkt bildeten ein Klettergerüst und drei neue Standard-Einfamilienhäuser. Das erste Haus hieß Zion, das zweite trug keinen Namen, und das dritte hieß Nummer Drei. Alle hatten breite Fenster, doch nur Nummer Drei besaß Spitzengardinen. Als Smiley das Gartentor aufstieß, war alles, was er sah, ein einzelner Schatten im Oberstock des Hauses. Der Schatten war zuerst unbeweglich, dann sank er in sich zusammen, als habe der Fußboden ihn aufgesogen. Blitzartig fuhr Smiley die schreckliche Frage durch den Kopf, ob er nicht soeben Zeuge eines weiteren Mordes gewesen sei. Er drückte auf die Klingel, und im Hausinneren explodierte ein Glockenspiel. Die Tür bestand aus geriffeltem Glas. Erpreßte ein Auge dagegen und sah einen braunen Treppenläufer und etwas, das ein Kinderwagen sein mochte. Er klingelte nochmals und hörte einen Schrei, der leise einsetzte und stetig anschwoll. Zuerst glaubte er, es sei ein Kind, dann eine Katze, dann ein Flötenkessel. Das Geräusch erreichte seinen Höhepunkt, verharrte dort eine Weile und brach dann jäh ab, weil entweder jemand den Kessel vom Feuer genommen hatte oder der Pfeifaufsatz weggesprungen war. Er ging zur Rückseite des Hauses. Sie unterschied sich in nichts von der Vorderseite, abgesehen von den Abflußrohren, einem Gemüsebeet und einem winzigen Goldfischbecken aus vorgefertigten Teilen. Im Becken war kein Wasser und folglich auch kein Goldfisch, doch eine gelbe Holzente lag umgestürzt auf dem Grund. Ihr Schnabel war offen, ihre Augen starrten in den Himmel, und ihre Räder drehten sich noch.
Der Fahrgast kaufte eine Holzente auf Rädern, hatte der Mini-Taxi-Chauffeur gesagt und sich dabei umgedreht, um mit seinen weißen Händen die Größe anzudeuten. »Gelbes Dings.«
An der Hintertür war ein Klopfer. Smiley schlug ihn leicht an und drehte den Türknauf, der nachgab. Er trat ein und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Er stand in einer Spülküche, die zur eigentlichen Küche führte, und das erste, was er in der Küche sah, war ein Wasserkessel, den jemand vom Gas gestellt hatte und aus dessen Pfeifdüse sich lautlos eine dünne Dampfspirale kringelte. Und zwei Tassen und einen Milchkrug und eine Teekanne auf einem Tablett.
»Mrs. Craven?« rief er leise. »Stella?«
Er durchquerte das Eßzimmer und stand in der Diele auf dem braunen Teppich neben dem Kinderwagen, und im Geist schloß er einen Pakt mit Gott: Bloß keine Toten mehr, bloß keine Wladimirs mehr, und ich werde Dich anbeten bis an unser Lebensende.
»Stella? Ich bin's. Max,« sagte er.
Er stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, und da saß sie, in der Ecke zwischen dem Klavier und dem Fenster, und schaute ihn mit kalter Entschlossenheit an. Sie hatte keine Angst, aber sie sah aus, als haße sie ihn. Sie trug ein langes asiatisches Gewand und kein Make-up. Sie hielt das Kind im Arm, einen Knaben oder ein Mädchen, er konnte es nicht sagen und sich auch nicht erinnern. Sie drückte den zerzausten Kopf an ihre Schulter, hielt dem Kleinen eine Hand über den Mund, um es am Schreien zu hindern, und sah Smiley über das Kind hinweg herausfordernd und argwöhnisch an.
»Wo ist Willem?« fragte er.
Langsam nahm sie ihre Hand weg, und Smiley erwartete, daß das Kind losbrüllen werde, doch es starrte ihn nur zur Begrüßung an.
»Er heißt William«, sagte sie ruhig. »Merken Sie sich das endlich, Max. Sein eigener Entschluß. William Craven. Britisch bis ins Mark. Nicht estnisch, nicht russisch. Britisch.« Sie war eine schöne, dunkelhaarige und stille Frau. Wie sie so in der Ecke saß und ihr Kind hielt, sah sie aus, als sei sie für alle Zeiten vor den schwarzen Hintergrund gemalt.
»Ich möchte mit ihm sprechen, Stella. Ich verlange nicht, daß er irgendetwas tut. Vielleicht kann ich ihm sogar helfen.«
»Das hab ich schon mal gehört, oder nicht? Er ist weggegangen, zur Arbeit, wo er hingehört.«
Smiley ließ es einsickern.
»Was tut dann sein Laster vor der Tür?« wandte er sanft ein.
»William ist im Lagerhaus. Wurde mit einem Auto abgeholt.«
Smiley ließ auch dies einsickern.
»Für wen ist dann die zweite Teetasse in der Küche?«
»Er hat nichts damit zu tun«, sagte sie.
Smiley ging nach oben, und sie ließ ihn gewähren. Eine Tür war direkt vor ihm, rechts und links waren zwei weitere Türen, beide offen, eine führte ins Kinderzimmer, die andere ins Schlafzimmer. Die Tür vor ihm war geschlossen, und als er klopfte, kam keine Antwort.
»Willem, ich bin's, Max«, sagte er. »Ich muß mit Ihnen reden, bitte. Dann geh ich und laß Sie in Ruhe, das verspreche ich Ihnen.«
Er wiederholte das Ganze nochmals, Wort für Wort, und stieg dann wieder die steile Treppe zum Wohnzimmer hinunter. Das Kind hatte laut zu weinen angefangen.
»Vielleicht könnten Sie jetzt diesen Tee machen«, schlug er zwischen zwei Schluchzern des Kindes vor.
»Sie sprechen mir nicht mehr mit ihm allein, Max. Ich will nicht, daß Sie ihn wieder in Versuchung führen.«
»Das habe ich nie getan. Das war nicht meine Aufgabe.«
»Er hält immer noch die größten Stücke auf Sie. Das genügt mir.«
»Es geht um Wladimir«, sagte Smiley.
»Ich weiß, worum es geht. Schließlich haben sie ja die halbe Nacht angerufen, nicht wahr?«
»Wer, sie?«
»>Wo ist Wladimir? Wo ist Wladi?< Wofür hält man William eigentlich? Für Jack the Ripper? Er hat seit Gott weiß wie lange von Wladimir weder etwas gehört noch gesehen. Oh, Beckie, Darling, sei doch still!« Sie ging durchs Zimmer, grub unter einem Wäschehaufen eine Dose Biskuits hervor und schob dem Kind eines davon energisch in den Mund. »Ich bin sonst nicht so«, sagte sie.
»Wer hat nach ihm gefragt?« beharrte Smiley sanft.
»Mikhel, wer sonst? An Mikhel erinnern Sie sich doch, unser As von Radio Freies Europa, designierter Premierminister von Estland, Renntip - Hausierer? Um drei Uhr morgens, während Beckie einen Zahn bekommt, geht das Misttelefon. Am Apparat ist Mikhel, und er zieht seine Schnauf- und Flüsternummer ab. >Wo ist Wladi, Stella? Wo ist unser Führer?< Ich sage zu ihm: >Sie sind wohl bescheuert, wie? Glauben Sie denn, Sie könnten mit Ihrem Gewisper eine Abhörschaltung austricksen? Sie sind total meschugge<, sag ich zu ihm. >Bleiben Sie bei Ihren Rennpferden und lassen Sie die Pfoten von der Politik<, hab ich zu ihm gesagt.« »Warum war er so besorgt?« fragte Smiley.
»Wladi schuldete ihm Geld, darum. Fünfzig Pfund. Vermutlich gemeinsam auf ein Pferd verwettet, eines ihrer zahlreichen >Ferner liefen<, Wladi hatte versprochen, das Geld bei Mikhel vorbeizubringen und mit ihm eine Partie Schach zu spielen. Mitten in der Nacht, wohlgemerkt. Schlaflosigkeit und Patriotismus gehen offenbar Hand in Hand. >Unser Führer ist nicht gekommen !< Tragödie. >Warum zum Teufel soll William wissen, wo er ist?< frage ich ihn. >Gehen Sie schlafen.< Eine Stunde später, wer ist wieder am Apparat? Schnaufend, wie zuvor? Unser Major Mikhel, Held der Königlich Estnischen Kavallerie. Knallt die Hacken zusammen und entschuldigt sich. Er war bei Wladi, hat an die Tür gebollert und geklingelt. Niemand zu Hause. >Hören Sie, Mikhel<, sage ich. >Wir verstecken ihn nicht auf dem Dachboden, wir haben ihn seit Beckies Taufe weder gesehen noch etwas von ihm gehört. Kapiert? William ist gerade aus Hamburg zurückgekommen, er braucht Schlaf, und ich werde ihn nicht wecken. <«
»Er hat also wieder eingehängt«, meinte Smiley.
»Den Teufel hat er! Er ist ein aufdringlicher Kerl. >William ist Wladis Favorit<, sagt er. >Wofür?< sage ich. >Für das Drei-Uhr-dreißig-Rennen in Ascot? Nun gehn Sie schon verdammt nochmal schlafen !< >Wladimir hat immer zu mir gesagt, wenn etwas schiefgeht, soll ich William anrufen.< >Was soll er denn tun?< sage ich. >Mit dem Brummi in die Stadt fahren und auch an Wladimirs Tür bollern?< Herrgottnochmal!«
Sie setzte das Kind auf einen Stuhl. Es blieb sitzen und mummelte zufrieden an seinem Biskuit.
Man hörte das Geräusch einer heftig zugeschlagenen Tür, gefolgt von schnellen Schritten, die die Treppe herabkamen.
»William ist aus der Sache raus, Max«, warnte Stella und starrte Smiley unverwandt an. »Er ist unpolitisch, er ist unabhängig und er hat's verwunden, daß sein Vater ein Märtyrer war. Er ist jetzt ein großer Junge und kann auf eigenen Füßen stehen. Klar? Ich sagte >Klar«
Smiley war ans andere Ende des Zimmers gegangen, möglichst weit weg von der Tür. Willem kam zielstrebig herein, immer noch in Trainigsanzug und Laufschuhen, ungefähr zehn Jahre jünger als Stella und irgendwie leichtgewichtiger, als für ihn gut war. Er hockte sich aufs Sofa, an die Kante, und sein Blick ging gespannt zwischen seiner Frau und Smiley hin und her, als überlege er, wer von den beiden ihn zuerst anspringen werde. Seine hohe Stirn sah seltsam bleich aus unter dem dunklen zurückgestrichenen Haar. Er hatte sich rasiert, wodurch sein Gesicht voller und sogar noch jünger wirkte. Die vom Fahren rot geränderten Augen waren braun und leidenschaftlich.
»Hallo, Willem«, sagte Smiley.
»William«, verbesserte ihn Stella.
Willem nickte ernsthaft, als ob er beide Formen anerkenne.
»Hallo, Max«, sagte Willem. Auf seinem Schoß fanden sich die Hände und hielten einander fest. »Wie geht's, Max? Wie steht's, he?«
»Ich nehme an, Sie haben schon von Wladimir gehört«, sagte Smiley.
»Gehört? Was gehört, bitte?«
Smiley ließ sich Zeit. Er beobachtete ihn und spürte seine Nervenanspannung.
»Daß er verschwunden ist«, antwortete Smiley schließlich leichthin. »Ich nehme an, seine Freunde haben Sie zu ganz unchristlichen Zeiten angerufen.«
»Freunde?« Willem warf einen hilfesuchenden Blick auf Stella. »Alte Emigranten, trinken Tee, spielen den ganzen Tag Schach, politisieren? Spinnen verrückte Träume? Mikhel ist nicht mein Freund, Max.«
Er redete schnell, die fremde Sprache machte ihn ungeduldig, dieser armselige Ersatz für seine eigene. Während Smiley sprach, als habe er den ganzen Tag vor sich.
»Aber Wladi ist Ihr Freund«, wandte er ein. »Wladi war schon ein Freund Ihres Vaters. Die beiden waren in Paris zusammen. Waffenbrüder. Sind zusammen nach England gekommen.«
Willems schmaler Körper stemmte sich mit einem Wirbel von Bewegungen gegen die Wucht dieses Einwands. Seine Hände fuhren auseinander und beschrieben hektische Bogen, das braune Haar flog auf und nieder.
»Sicher! Wladimir war Freund meines Vaters. Guter Freund. Auch von Beckie der Taufpate, okay? Aber nicht für Politik. Nicht mehr.« Er blickte Zustimmung heischend auf Stella. »Ich, ich bin William Craven. Ich hab englisches Haus, englische Frau, englisches Kind, englischen Namen, okay?«
»Und einen englischen Job«, warf Stella ruhig ein und sah ihn an. »Guter Job! Wissen Sie, wieviel ich verdiene, Max? Wir kaufen Haus. Vielleicht sogar Wagen, okay?«
Etwas an Williams Verhalten - seine Redewut vielleicht oder die Energie, mit der er sich verteidigte - hatte die Aufmerksamkeit seiner Frau erregt, denn jetzt beobachtete Stella ihn ebenso intensiv, wie Smiley dies tat, und sie hielt das Baby zerstreut, fast gleichgültig vor sich hin.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen, William?« fragte Smiley.
»Wen, Max? Wen gesehen? Ich versteh' Sie nicht, bitte.«
»Sag's ihm, Bill«, befahl Stella und ließ ihren Mann keine Sekunde aus den Augen.
»Wann haben Sie Wladimir zuletzt gesehen?« wiederholte Smiley geduldig.
»Lang her, Max.«
»Wochen?«
»Sicher. Wochen.«
»Monate?«
»Monate. Sechs Monate! Sieben! Bei Taufe. Er war Pate. Wir geben Party. Aber keine Politik.«
Smileys Pausen hatten allmählich eine peinliche Spannung hervorgerufen.
»Und seitdem nicht?« fragte er schließlich.
»Nein.«
Smiley wandte sich an Stella, die immer noch ihren Mann anstarrte.
»Wann ist William gestern zurückgekommen?«
»Früh«, sagte sie.
»Schon um zehn Uhr früh?«
»Möglich. Ich war nicht hier. Ich habe meine Mutter besucht.« »Wladimir ist gestern mit dem Taxi hierhergefahren«, erklärte Smiley, immer noch an Stella gewandt. »Ich glaube, er hat William gesehen.«
Niemand half dem jungen Mann, nicht Smiley, nicht seine Frau. Sogar das Kind verhielt sich still.
»Auf dem Weg hierher hat er ein Spielzeug gekauft. Das Taxi wartete eine Stunde lang unten an der Straße und fuhr ihn dann wieder nach Paddington zurück, wo er wohnt«, sagte Smiley, immer noch sorgfältig darauf bedacht, die Gegenwartsform zu wählen.
Willem hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. »Wladi ist von Beckie Pate!« protestierte er, wobei er wiederum errötete, als sein Englisch ihn vollends im Stich zu lassen drohte. »Stella mag ihn nicht, also muß er hier kommen wie Dieb, okay? Er bringt meiner Beckie Spielzeug, okay? Ist schon Verbrechen, Max? Gibt Gesetz, daß alter Mann seinem Patenkind nicht Spielzeug bringen darf?«
Wieder sprachen weder Smiley noch Stella. Sie warteten beide auf den Zusammenbruch, der unweigerlich kommen mußte.
»Wladi ist alter Mann, Max! Wer weiß, wann er Beckie wiedersieht? Er ist Freund von Familie!«
»Nicht von dieser Familie«, sagte Stella. »Nicht mehr.«
»Er war Freund von meinem Vater! Kamerad! Haben in Paris zusammen gegen Bolschewismus gekämpft. Er bringt also Beckie Spielzeug. Warum nicht, bitte? Warum nicht, Max?«
»Du hast gesagt, du hättest das verdammte Ding selber gekauft«, sagte Stella. Sie legte eine Hand auf die Brust und machte einen Knopf zu, als wolle sie ihn ausschließen.
Willem schwang sich zu Smiley herum, rief ihn um Beistand an: »Stella mag alten Mann nicht, okay? Hat Angst, ich mache mit ihm Politik, okay? Ich sag also Stella nichts. Sie besucht ihre Mutter im Krankenhaus von Staines, und während sie weg ist, kommt Wladi auf kleinen Besuch, um Beckie zu sehen, hallo zu sagen, warum nicht?« In seiner Verzweiflung sprang er auf und warf die Arme übertrieben beteuernd in die Höhe. »Stella!« rief er. »Hör zu! Wladi kommt also letzte Nacht nicht nach Hause? Bitte, tut mir leid! Ist aber nicht meine Schuld, okay, Max? Dieser Wladi ist alter Mann! Einsam. Hat sich vielleicht eine Frau gefunden. Okay? Kann nicht viel mit ihr anfangen, ist aber froh um Gesellschaft. Dafür war er ganz schön berühmt, glaube ich! Okay? Warum nicht?«
»Undvor gestern?« fragte Smiley nach einer Ewigkeit. Da Willem nicht zu verstehen schien, baute Smiley die Frage für ihn aus: »Sie haben Wladimir gestern gesehen. Er war mit dem Taxi gekommen und hatte eine gelbe Holzente für Beckie gekauft. Auf Rädern.«
»Sicher.«
»Sehr schön. Aber vor gestern - ich meine, abgesehen von gestern -, wann haben Sie ihn da das letzte Mal gesehen?«
Manche Fragen stellt man auf gut Glück, manche aus Instinkt, wieder andere - wie diese hier - beruhen auf einer Vorauskenntnis, die mehr ist als Instinkt und weniger als Wissen.
Willem fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Am Montag«, sagte er kläglich. »Ich seh' ihn am Montag. Er ruft mich an, wir treffen uns. Sicher.«
Stella flüsterte: »Oh, Willem«, und hielt das Kind senkrecht vor sich hin wie einen kleinen Soldaten, während sie nach unten auf den Sisalteppich blickte und wartete, daß ihre Gefühle wieder ins Lot kämen.
Das Telefon begann zu schrillen. Wie ein wütendes Kind sprang Willem darauf zu, hob den Hörer ab, schmetterte ihn wieder auf die Gabel, schmiß dann den ganzen Apparat auf den Boden und stieß mit dem Fuß den Hörer weg. Dann setzte er sich.
Stella wandte sich an Smiley. »Ich möchte, daß Sie gehen«, sagte sie. »Verschwinden Sie, und kommen Sie nie mehr wieder. Bitte, Max. Sofort.«
Eine Weile schien Smiley sich ganz ernsthaft zu überlegen, ob er dieser Aufforderung nachkommen solle. Dann tauchte er in die Innentasche seines Mantels und zog ein Exemplar der Frühausgabe des Evening Standard hervor. Er reichte es Stella, nicht Willem, teils wegen der Sprachbarriere, teils, weil er vermutete, daß Willem unter dem Schlag zusammenbrechen werde.
»Leider ist Wladi für immer von uns gegangen, William«, sagte er im Ton schlichten Bedauerns. »Es steht in den Zeitungen. Er wurde erschossen. Die Polizei wird Ihnen Fragen stellen. Ich muß wissen, was passiert ist und Ihnen sagen, was Sie antworten sollen.«
Willem flüsterte irgendetwas Hoffnungsloses auf Russisch, Stella, die mehr sein Ton rührte, als das, was er sagte, setzte das eine Kind ab und ging hin, das andere zu trösten, und Smiley hätte ebenso gut nicht im Zimmer sein können. Eine Zeitlang blieb er also einfach so sitzen, dachte an Wladimirs Negativ, das unentzifferbar bleiben würde, solange er es nicht in ein Positiv verwandelte, und das in seinem Karton im Savoy Hotel ruhte, zusammen mit dem anonymen Brief aus Paris, mit dem er noch nichts anfangen konnte. Und an den zweiten Beweis, fragte sich, worin er wohl bestanden und wie der alte Mann ihn mit sich geführt haben mochte: in der Brieftasche, vermutete er und war überzeugt, daß er es nie erfahren würde.
Willem saß tapfer da, als wohnte er bereits Wladimirs Beerdigung bei. Stella saß neben ihm und hatte ihre Hand auf seine Hand gelegt, Beckie, das Kind, lag auf dem Boden und schlief. Während Willem sprach, liefen ihm manchmal hemmungslos Tränen über die bleichen Wangen.
»Auf die anderen gebe ich nichts«, sagte Willem. »Auf Wladi alles. Ich liebe diesen Mann.« Er begann wieder: »Nach dem Tod meines Vaters ist Wladi für mich Vater geworden. Manchmal nenne ich ihn sogar >Vater<. Nicht Onkel. Vater.«
»Vielleicht könnten wir mit dem Montag anfangen«, schlug Smiley vor. »Mit dem ersten Treffen.«
Wladi hatte telefoniert, sagte Willem. Es war das erste Mal seit Monaten, daß Willem etwas von ihm oder von irgendjemandem aus der Gruppe hörte. Wladi hatte Willem im Lagerhaus angerufen, aus heiterem Himmel, während Willem gerade seine Fracht verzurrte und im Büro vor dem Aufbruch nach Dover die Verladepapiere prüfte. So lautete die Vereinbarung, sagte Willem, so war es mit der Gruppe abgemacht. Er stand außerhalb, wie sie alle mehr oder weniger aus dem Spiel waren, aber falls er dringend benötigt werden sollte, so könnte man ihn an Montagvormittagen im Lagerhaus erreichen, nicht zu Hause, wegen Stella. Wladi war Beckies Pate, und als Pate konnte er jederzeit zu Hause anrufen. Aber nicht geschäftlich. Niemals.
»Ich frage ihn: >Wladi! Was gibt's? Hören Sie, wie geht's Ihnen ?<«
Wladimir war in einer Telefonzelle am anderen Ende der Straße. Er wollte Willem sofort persönlich sprechen. Entgegen allen Bestimmungen der Betriebsordnung ließ Willem ihn an der Kreuzung einsteigen, und Wladimir fuhr den halben Weg nach Dover mit: »Schwarz«, sagte Willem, und meinte damit »vorschriftswidrig«. Der alte Knabe hatte einen Strohkorb voller Orangen dabei, aber Willem war nicht in der Stimmung gewesen zu fragen, warum er sich ein paar Pfund Apfelsinen aufhalsen sollte. Zuerst sprach Wladimir von Paris und von Willems Vater und von den großen Schlachten, die sie zusammen geschlagen hatten, dann fing er von einer kleinen Gefälligkeit an, die Willem ihm erweisen könne. Der alten Zeiten wegen, eine kleine Gefälligkeit. Willems Vater wegen, den Wladimir geliebt hatte. Der Gruppe wegen, deren großer Held einst Willems Vater gewesen war.
»Ich sag zu ihm: >Wladi, diese kleine Gefälligkeit ist unmöglich für mich. Ich verspreche Stella: ist unmöglich.<«
Stellas Hand hob sich von der ihres Mannes, und die junge Frau saß da, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn zu trösten, und ihrem Kummer über seinen Wortbruch.
Nur eine ganz kleine Gefälligkeit, hatte Wladimir betont. Klein, keine Scherereien, kein Risiko, aber eine große Hilfe für unsere Sache: außerdem Willems Pflicht. Dann brachte Wladimir Schnappschüße zum Vorschein, die er bei Beckies Taufe aufgenommen hatte. Sie waren in einem gelben Kodak-Umschlag, die Abzüge auf einer Seite, die Negative in einer Zellophanschutzhülle auf der anderen, und das blaue Etikett des Drogisten noch immer außen angeheftet, alles ganz und gar harmlos.
Eine Weile bewunderten sie die Bilder, bis Wladimir plötzlich sagte: »Es ist für Beckie, Willem. Was wir tun, tun wir für Beckies Zukunft.«
Während Willem diese Worte Wladimirs wiederholte, ballte Stella die Fäuste, und als sie wieder aufsah, wirkte sie entschlossen und sehr viel älter, mit Inseln von Fältchen um die Augenwinkel.
Willem fuhr in seiner Geschichte fort: »Dann sagt Wladimir zu mir: >Willem. Jeden Montag fährst du nach Hannover und Hamburg, und kommst freitags zurück. Wie lange Zeit bleibst du in Hamburg, bitte?<«
Worauf Willem geantwortet hatte, so wenig, wie möglich, je nachdem, wie lange er zum Ausladen brauchte, je nachdem, ob die Lieferung an den Kommissionär ging oder an den Empfänger, je nachdem, zu welcher Tageszeit er ankam und wieviele Stunden er schon in seinem Fahrtenbuch hatte. Es kamen noch mehr Fragen dieser Art - viele davon völlig banal -, und Willem gab auch sie wieder: wo Willem unterwegs schlafe, wo er esse -und Smiley wußte, daß der alte Mann auf ziemlich monströse Art genau das tat, was auch er selber getan hätte; er redete Willem in eine Ecke, veranlaßte ihn zu antworten, als Vorspiel zu seinem Nachgeben. Und jetzt erst erklärte Wladimir unter Aufgebot aller seiner militärischen und familiären Autorität, was Willem tun sollte.
»Er sagt zu mir: >Willem, nimm diese Orangen für mich nach Hamburg mit. Nimm diesen Korb.< >Wozu?< frag ich ihn. >General, warum soll ich diesen Korb nehmen?< Da gibt er mir Geld, fünfzig Pfund. >Für Notfalles sagt er zu mir. >Im Notfall sind hier fünfzig Pfund.< >Aber wozu denn der Korb?< frag ich ihn. >Was für ein Notfall ist denn vorgesehen, General?<«
Dann rezitierte Wladimir die Instruktionen für Willem, sie schlössen Ausweichmöglichkeiten und alle erdenklichen Eventualitäten mit ein - sogar eine zusätzliche Übernachtung mit Hilfe der fünfzig Pfund -, und Smiley stellte fest, daß der General auch hier, genau wie bei Mostyn, strikt auf Moskauer Regeln bestanden und, wie alle seinesgleichen, des Guten zuviel getan hatte - je älter er wurde, desto mehr verstrickte sich der alte Knabe in das Netz seiner eigenen Verschwörungen. Willem sollte den gelben Kodak-Umschlag mit Beckies Fotos oben auf die Orangen legen, nach vorn zum Schiffsbug schlendern - was Willem dann alles tatsächlich getan hatte, sagte er-, und der Umschlag war der Briefkasten, und das Zeichen dafür, daß er aufgefüllt worden war, würde eine gelbe Kreidemarke sein, »so gelb, wie der Umschlag, was eine Tradition unserer Gruppe ist«, sagte Willem.
»Und das Sicherheitssignal?« fragte Smiley. »Das Signal, das besagt: >Ich werde nicht verfolgt«
»War Hamburger Zeitung von gestern«, antwortete Willem prompt - indessen habe es, wie er gestand, über diesen Punkt eine kleine Auseinandersetzung gegeben, trotz des Respekts, den er Wladimir als Führer, als General und als Freund seines Vaters schuldete -
»Er spricht zu mir, > Willem, du steckst diese Zeitung in deine Tasche.< Aber ich sag ihm: >Wladi, bitte schauen Sie mich an, ich hab nur Trainingsanzug, keine Taschen.< Also sagt er, >Willem, dann trägst du die Zeitung unterm Arm.<«
»Bill«, sagte Stella und atmete tief durch, wie nach einem Schock. »Bill, du hirnverbrannter Narr.« Sie wandte sich an Smiley. »Ich meine, warum hat er es, was immer es auch war, nicht mit der Scheißpost geschickt und damit basta?«
Weil es ein Negativ war. Und nach Moskauer Regeln sind ausschließlich Negative beweiskräftig. Weil der General in der beständigen Furcht vor Verrat lebte, dachte Smiley. Er witterte ihn in allem und jedem. Und wenn der Tod Beweiskraft besitzt, dann hatte er Recht gehabt.
»Und es hat geklappt?« fragte Smiley schließlich Willem mit großer Behutsamkeit. »Die Übergabe hat geklappt?«
»Sicher! Großartig geklappt«, stimmte Willem lebhaft zu und warf einen trotzigen Blick auf Stella.
»Und haben Sie irgendeine Ahnung, zum Beispiel, wer Ihr Kontakt bei diesem Treffen gewesen sein könnte?«
Nur sehr zögernd und nach vielem Zureden, teils von Stella, berichtete Willem auch davon: von dem hohlwangigen Gesicht, das so verzweifelt ausgesehen und ihn an seinen Vater erinnert hatte; von dem warnenden Starren, das er vielleicht wirklich gesehen oder sich in seiner Aufregung nur eingebildet hatte. So, wie manchmal im Fernsehen, wenn man ein Fußballspiel verfolgt, was er leidenschaftlich gerne tat, die Kamera ein Gesicht aus der Menge herausholt, das einem dann bis zum Ende des Spiels gegenwärtig bleibt, auch wenn es nie wieder auftauchte - genau so war es ihm mit dem Gesicht auf dem Schiff gegangen. Er beschrieb die aufgezwirbelten Haarbüschel und zog mit den Fingerspitzen tiefe Furchen in seine eigenen glatten Wangen. Er beschrieb, wie klein der Mann war, und sogar, wie sexy er wirkte - Willem sagte, da sei er sicher. Er beschrieb sogar, wie er den Eindruck gehabt habe, der Mann wolle ihn ermahnen - ermahnen, auf das wertvolle Ding achtzugeben. Genau so würde er selber dreinschauen — sagte Willem zu Stella in einer jähen tragischen Vision -, wenn wieder Krieg wäre und Kämpfe und er Beckie einem Fremden in Obhut geben müßte! Und dies war das Stichwort für weitere Tränen und weitere Aussöhnung und weitere Wehklagen über den Tod des alten Mannes, denen Smileys nächste Frage unweigerlich neue Nahrung gab:
»Also: Sie haben den gelben Umschlag zurückgebracht, und gestern, als der General mit der Ente für Beckie hierherkam, haben Sie ihm den Umschlag ausgehändigt«, spann Smiley den Faden so vorsichtig wie irgend möglich weiter, aber er mußte noch eine gute Weile warten, bis eine zusammenhängende Erzählung zustande kam.
William hatte es sich, sagte er, zur Gewohnheit gemacht, am Freitag, ehe er vom Lager nach Hause fuhr, ein paar Stunden in der Kabine des Lasters zu schlafen, sich dann zu rasieren und eine Tasse Tee mit den Jungens zu trinken, so daß er ausgeruht daheim ankam und nicht nervös und mißgelaunt. Es war ein Trick, den er von den alten Hasen gelernt hatte, sagte er: Nicht direkt heimbrausen, das gibt nur Ärger. Aber gestern war's anders, sagte er, und außerdem - er stutzte plötzlich die Namen auf eine Silbe zusammen - war Stell mit Beck zu Ma nach Staines gefahren. Also war er ausnahmsweise geradewegs nach Hause gekommen, hatte Wladimir angerufen und ihm das vereinbarte Codewort gegeben. »Wo angerufen?« unterbrach Smiley ihn sanft.
»In Wohnung. Er hat mir gesagt: >Nur in Wohnung anrufen. Niemals in der Bibliothek. Mikhel ist guter Mann, aber er ist nicht eingeweiht. <«
Und, fuhr Willem fort, innerhalb kürzester Zeit - er hatte vergessen, wie kurz - war Wladimir in einem Mini-Taxi gekommen, was er nie zuvor getan hatte, mit der Ente für Beck. Willem gab ihm den gelben Umschlag mit den Schnappschüssen, und Wladimir ging damit zum Fenster. Sehr langsam, »als ob's was Geweihtes aus einer Kirche wäre«, hatte Wladimir, mit dem Rücken zu Willem, die Negative nacheinander gegen das Licht gehalten, bis er offenbar auf das gesuchte gestoßen war, und danach hatte er es noch eine lange Zeit betrachtet.
»Nur eines?« fragte Smiley schnell, da er wieder an die zwei Beweise dachte. »Ein Negativ?«
»Sicher.«
»Einen Rahmen oder einen Streifen?«
Rahmen: Willem war sicher. Ein kleiner Rahmen. Jawohl, fünfunddreißig Millimeter, wie seine eigene Agfa Automatic. Nein, Willem hatte nicht sehen können, was darauf war, Text oder sonstwas. Er hatte nur Wladimir gesehen, sonst nichts.
»Wladi war rot, Max. Wild im Gesicht, Max, glänzend mit den Augen. Er war alter Mann.«
»Und auf der Fahrt«, unterbrach Smiley Willems Bericht, um eine entscheidende Frage zu stellen. »Auf dem ganzen Weg von Hamburg nach Hause, haben Sie da nie einen Blick darauf riskiert?«
»War Geheimnis, Max. War militärisches Geheimnis.«
Smiley blickte Stella an.
»Würde er nie tun«, sagte sie in Beantwortung seiner stummen Frage. »Dafür ist er zu ehrlich.«
Smiley glaubte ihr.
Willem nahm seine Geschichte wieder auf. Wladimir steckte den gelben Umschlag in die Tasche, führte Willem in den Garten und dankte ihm, hielt Willems Hand in beiden Händen und sagte ihm, was für eine Großtat er vollbracht habe, die allergrößte: daß Willem seines Vaters Sohn sei, ein noch besserer Soldat sogar als sein Vater - beste estnische Rasse, seriös, gewissenhaft und zuverlässig; daß sie mit diesem Foto viele Schulden abtragen und es den Bolschewiken ordentlich heimzahlen könnten; daß das Foto ein Beweis sei, um den niemand herumkomme. Ein Beweis, wofür, sagte er jedoch nicht - nur, daß Max ihn sehen und daran glauben und entsprechend handeln werde. Willem wußte nicht recht, warum sie in den Garten hatten gehen müssen, aber er vermutete, daß der alte Mann in seiner Erregung vor Mikrophonen Angst bekommen hatte, denn er sprach auch schon wieder jede Menge über Sicherheit.
»Ich bring ihn zur Gartentür, aber nicht zum Taxi. Er sagt, ich soll nicht zum Taxi mitkommen. >Willem, ich bin alter Mann<, sagt er zu mir. Wir sprechen russisch. >Kann sein, nächste Woche fall ich tot um. Wenn schon! Heute haben wir große Schlacht gewonnen. Max wird mächtig stolz auf uns sein!«
Die Richtigkeit der letzten Worte des Generals traf Willem so sehr, daß seine braunen Augen loderten und er wütend aufsprang. »War Sowjets!« schrie er. »War Sowjetspione, Max, sie töten Wladimir. Er weiß zuviel!«
»Genau wie du«, sagte Stella, und es folgte ein langes verlegenes Schweigen. »So, wie wir alle«, fügte sie mit einem Blick auf Smiley hinzu.
»War das alles?« fragte Smiley. »Hat er sonst nichts gesagt, zum Beispiel über die Wichtigkeit der Aufgabe, die Sie erledigt haben? Nur, daß Max glauben wird?«
Willem schüttelte den Kopf.
»Oder über irgendwelche weiteren Beweise?«
Nichts, sagte Willem; sonst nichts.
»Auch nichts darüber, wie er sich vorher mit Hamburg in Verbindung gesetzt und alles abgesprochen hatte? Ob noch andere Gruppen beteiligt waren? Bitte, denken Sie nach.«
Willem dachte nach, jedoch ohne Erfolg.
»Wem haben Sie denn noch davon erzählt, außer mir?« fragte Smiley.
»Niemand! Max, niemand!«
»Hat gar nicht Zeit dazu gehabt«, sagte Stella.
»Niemand! Auf Fahrt schlafe ich in Kabine, spare zehn Pfund Übernachtungsgeld. Wir kaufen Haus mit Erspartem. In Hamburg erzähle ich niemand. Im Lagerhaus, niemand!«
»Hat Wladimir jemanden ins Vertrauen gezogen - ich meine, jemanden, den Sie kennen?«
»Von der Gruppe niemand, nur Mikhel, wie nötig, aber nicht ganz, nicht einmal Mikhel. Ich frag ihn: >Wladimir, wer weiß, daß ich das für Sie tue?< >Nur Mikhel ein ganz kleines bißchen<, sagt er. >Mikhel leiht mir Geld, leiht mir Fotokopierer, er ist mein Freund. Aber selbst Freunden können wir nicht trauen. Feinde fürchte ich nicht, Willem. Aber Freunde fürchte ich gewaltig.«
Smiley wandte sich an Stella: »Sollte die Polizei hierherkommen«, sagte er. »Sollte sie kommen, so wird sie nur wissen, daß Wladimir gestern bei Ihnen vorbeigeschaut hat. Sie wird bis zum Taxifahrer vorgestoßen sein, genau wie ich.«
Stella beobachtete ihn mit ihren großen klugen Augen.
»Also?« fragte sie.
»Also behalten Sie den Rest für sich. Die Polizei weiß, was sie wissen muß. Alles weitere würde nur eine Belastung für sie sein.«
»Fürsie oder für Sie?« fragte Stella.
»Wladimir hat gestern Beckie besucht und ihr ein Geschenk gebracht. Das ist die Legende, haargenau Williams erste Version der Geschichte. Wladimir wußte nicht, daß Sie mit Beckie zu Ihrer Mutter gefahren waren. Er fand William allein vor, die beiden haben über alte Zeiten geplaudert und sind im Garten spazieren gegangen. Er konnte wegen des Taxis nicht mehr länger warten und ist also abgezogen, ohne Sie oder sein Patenkind gesehen zu haben. Mehr war nicht.«
»Sind Sie hier gewesen?« Stella beobachtete ihn immer noch. »Wenn danach gefragt wird, ja. Ich bin heute gekommen, um Ihnen die schlechte Nachricht schonend beizubringen. Daß William der Gruppe angehört hat, interessiert die Polizei nicht. Für sie zählt nur die Gegenwart.«
Erst jetzt wandte Smiley seine Aufmerksamkeit wieder Willem zu. »Sagen Sie, haben Sie noch etwas anderes für Wladimir mitgebracht?« fragte er. »Außer dem, was im Umschlag war? Ein Geschenk vielleicht? Was er gern hatte, aber nicht selbst kaufen konnte?«
Willem konzentrierte sich energisch auf die Frage, ehe er antwortete. »Zigaretten!« rief er plötzlich. »Auf Boot kaufe ich ihm französische Zigaretten als Geschenk. Gauloises, Max. Mag er sehr gern! >Gauloises Caporal, mit Filter, Willem.< Sicher!«
»Und die fünfzig Pfund, die Wladimir von Mikhel geborgt hatte?« fragte Smiley.
»Geb ich zurück. Sicher.«
»Alles?« sagte Smiley.
»Alles. Zigaretten waren Geschenk. Max, ich liebe diesen Mann.«
Stella brachte ihn hinaus, und an der Tür nahm er sie sanft am Arm und führte sie ein paar Schritte in den Garten, außer Hörweite ihres Mannes.
»Ihr habt den Zug verpaßt«, sagte sie zu ihm. »Was ihr auch tut, früher oder später muß die eine oder die andere Seite aufstecken. Ihr seid wie die Gruppe.«
»Seien Sie ruhig und hören Sie zu«, sagte Smiley. »Hören Sie zu?«
»Ja.«
»William darf mit niemandem über diese Sache sprechen. Mit wem redet er gern im Lagerhaus?«
»Mit aller Welt.«
»Schön, tun Sie, was Sie können. Hat außer Mikhel sonst noch wer angerufen? Vielleicht jemand, der sich verwählt hat? Einmal klingeln lassen - dann wieder aufgelegt?«
Sie überlegte und schüttelte dann den Kopf.
»Ist jemand an die Tür gekommen? Vertreter, Marktforscher, Wanderprediger? Meinungsumfrager? Irgend jemand? Sind Sie sicher?«
Sie starrte ihn weiter an, und ihre Augen schienen ihn zusehends zu ergründen und ihm Achtung zu bezeugen. Dann schüttelte sie wiederum den Kopf, verwehrte ihm die Partnerschaft, um die er warb.
»Bleiben Sie ihm vom Leib, Max. Sie und alle anderen. Ganz gleich, was passiert und wie schlimm es ist. Er ist erwachsen. Er braucht keinen Vikar mehr.«
Sie sah ihm nach, vielleicht, um sicher zu sein, daß er wirklich ging. Wie er so dahinfuhr, brannte ihm eine Weile die Sorge um Wladimirs Negativ in der Zigarettenschachtel auf der Seele wie Angst um verstecktes Geld - ob es wohl in Sicherheit war, ob er einen Blick darauf tun oder einen Abzug machen solle; schließlich war es unter Hingabe des Lebens durch die feindlichen Linien gebracht worden. Doch als er sich dem Fluß näherte, hatten seine Gedanken und Vorhaben eine andere Richtung eingeschlagen. Er umfuhr Chelsea, reihte sich in den nordwärts fließenden Wochenendverkehr ein, den hauptsächlich junge Familien in alten Wagen bestritten. Und ein wohlvertrautes Motorrad mit schwarzem Beiwagen, das ihm auf der ganzen Strecke nach Bloomsbury getreulich auf den Fersen blieb.