19

»Wissen Sie, daß er tatsächlich Ferguson heißt?« knautschte Saul Enderby in besonders breitem Belgravia-Cockney, der letzten Unsitte der englischen Oberklasse.

»Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte Smiley.

»Er ist ungefähr alles, was von diesem ganzen Pfadfinder-Stall übrig ist. Die Weisen sind heutzutage nicht für Inlands-Aufklä­rung. Parteiwidrig oder sonst ein Käse.« Enderby konzentrierte sich wieder auf das umfangreiche Dokument, das er in der Hand hielt. »Und wie heißen Sie, George Smiley? Sherlock Holmes, der seinen armen alten Moriarty hetzt? Kapitän Ahab, der seinen großen weißen Wal jagt? Wer sind Sie?«

Smiley antwortete nicht.

»Ehrlich gesagt, möchte ich gern einen Feind haben«, bemerkte Enderby und blätterte ein paar Seiten um. »Bin schon seit Olims Zeiten auf der Suche. Oder, Sam?«

»Tag und Nacht, Chef«, pflichtete Sam Collins munter bei und bedachte seinen Meister mit einem vertraulichen Grinsen.

Bei Ben waren die rückwärtigen Räumlichkeiten eines dunklen Hotels in Knightsbridge, und dort hatten die drei Männer sich vor einer Stunde getroffen. An der Tür hing ein Schild »Ge­schäftsleitung, nur privat«, und dahinter war ein Vorraum mit Garderobe und WC, und dahinter lag das Allerheiligste, ange­füllt mit Büchern und Moschusduft, das hinwiederum Zugang gewährte zu einem kleinen ummauerten Gartengeviert - vom Park abgezwackt -, mit einem Fischteich und einem Marmoren­gel und einem Pfad zu sinnendem Umherwandeln. Bens Identi­tät war, falls er jemals eine besessen hatte, in den ungeschriebe­nen Archiven der Circus-Mythologie abgelegt. Aber diese nach ihm benannte Stätte war geblieben, als nicht registriertes Zubehör von Enderbys - und vor ihm von Smileys - Posten und als Stelldichein für Treffen, die später nie stattgefunden hatten. »Ich möchte es nochmals durchgehen, wenn's Ihnen recht ist«, sagte Enderby. »Bin um diese Tageszeit ein bißchen langsam von Begriff.«

»Wäre sicher riesig hilfreich, Chef«, sage Collins.

Enderby rückte an seiner Halb-Brille, aber nur, um darüber hinwegzublicken, und Smiley war insgeheim überzeugt, daß sie ohnehin aus Fensterglas bestand.

»Kirow ist also der Sprecher. Nachdem Leipzig ihm die Dau­menschrauben angesetzt hat, stimmt's, George?« Smiley nickte zerstreut. »Die beiden sitzen immer noch in Unterhosen in die­sem Puff, aber es ist fünf Uhr morgens, und die Mädchen wur­den heimgeschickt. Zunächst kommt Kirows tränenreiches Wie-konntest-du-mir-das-antun? >Ich hielt dich für meinen Freund, Otto!< sagt er. Herrgott, wie man sich doch täuschen kann! Dann folgt seine Aussage, von den Übersetzern in schlechtes Englisch gebracht. Sie haben eine Konkordanz ange­fertigt - ist dies das richtige Wort, George? Die >Ähs< und >Ehems< ausgelassen?«

Smiley ließ dahingestellt, ob es das richtige Wort war oder nicht. Vielleicht wurde auch keine Antwort erwartet. Er saß sehr still in einem Lederfauteuil, über die gefalteten Hände gebeugt, und er hatte seinen braunen Tweedmantel nicht ausgezogen. Ein Ex­emplar der Kirow-Umschrift lag in Reichweite. Er sah mitge­nommen aus, und Enderby äußerte später, er habe damals offen­bar eine Hungerkur gemacht. Sam Collins, oberster Einsatzlei­ter, saß buchstäblich in Enderbys Schatten; ein eleganter Mann mit dunklem Lippenbärtchen und einem strahlenden Lächeln

zum An- und Ausknipsen. Früher einmal war Collins der harte Mann des Circus gewesen, der in jahrelangen Außeneinsätzen die Liebedienerei der fünften Etage verachten gelernt hatte. Jetzt war aus dem Wildschützen ein Forstgehilfe geworden, der für seine eigene Rente und Sicherheit Sorge trug, so wie er einst für seine Netze Sorge getragen hatte. Er enthielt sich jeder eigenen Meinung; er rauchte seine braunen Zigaretten bis zur Hälften­markierung, dann drückte er sie in einer zersprungenen Muschel aus, und sein treuer Hundeblick ruhte unverwandt auf Enderby, seinem Herrn. Enderby lehnte am Mittelrahmen einer Fenster­tür, so daß seine Gestalt sich dunkel vor dem Licht von draußen abhob, und stocherte mit einem abgebrochenen Streichholz in den Zähnen. Aus seinem linken Ärmel lugte ein seidenes Ta­schentuch, und er hatte ein Knie vorgeschoben und leicht ge­beugt, als befände er sich hinter der Prominenten-Barriere in As­cot. Über dem Rasen im Garten lagen Nebelschleier wie dünne Gaze. Enderby legte den Kopf zurück und hielt das Dokument mit ausgestrecktem Arm, wie eine Speisenkarte.

»Also los. Ich bin Kirow. >Als Finanzbeamter der Moskauer Zentrale war ich von 1970 bis 1974 mit der Aufgabe betraut, Un­regelmäßigkeiten in den Abrechnungen europäischer Residentu­ren aufzuspüren und die Schuldigen zur Anzeige zu bringen.<« Enderby brach ab und linste wieder über die Halb-Brille. »Das alles war, ehe Kirow den Posten in Paris antrat, stimmt's?«

»Stimmt genau«, sagte Collins keck und blickte Smiley Beistand heischend an, erhielt jedoch keinen.

»Muß mich erst orientieren, ja, George«, erklärte Enderby.

»Muß erst die Strecke auslegen. Habe nicht Ihre kleinen grauen Zellen.«

Sam Collins lächelte strahlend über so viel unangebrachte Be­scheidenheit seines Chefs.

Enderby las weiter: »>Im Zuge dieser äußerst delikaten und ver­traulichen Erhebungen, die in manchen Fällen zur Bestrafung hoher Funktionäre der Moskauer Zentrale führten, machte ich die Bekanntschaft des Leiters des unabhängigen Dreizehnten Di­rektoriums, einer Unterabteilung des Zentralkomitees der Par­tei; eines Mannes, der in der Zentrale nur unter seinem Arbeits­namen Karla bekannt ist. Karla ist ein Frauenname und war an­geblich der Name des ersten Netzes, das er geführt hat.< Stimmt das, George?«

»Das war während des Spanischen Bürgerkriegs«, sagte Smiley.

»Der große Tummelplatz. Na schön. Es geht weiter. >Das Drei­zehnte Direktorium ist innerhalb der Zentrale eine Sonderabtei­lung, denn seine Hauptaufgabe besteht in der Anwerbung, Aus­bildung und Einschleusung von Tiefenagenten in faschistische Länder, sogenannten Maulwürfen< . . . bla . . . bla . . . bla. >Häufig dauert es viele Jahre, bis ein Maulwurf innerhalb des Ziellandes richtig platziert und geheimdienstlich aktiv werden kann.< Siehe Bill Haydon. >Die Aufgabe, solche Maulwürfe zu bedienen, wird nicht den normalen Residenturen im Ausland anvertraut, sondern einem Beauftragten des genannten Karla, gewöhnlich einem Militär, der offiziell als Attache an einer Bot­schaft tätig ist. Diese Beauftragten werden von Karla persönlich handverlesen und bilden eine Elite< . . . bla . . . bla . . . >Sie ge­nießen weit mehr Vertrauen und Freiheit als die übrigen Funk­tionäre der Zentrale und Privilegien in Form von Geld und Rei­sen. Weshalb sie die Eifersucht des übrigen Geheimdienstes auf sich ziehen.<«

Enderby stieß einen bühnenreifen Seufzer aus: »Herrgott, diese Übersetzer!« rief er. »Oder vielleicht redet Kirow wirklich so schwülstig. Man sollte meinen, wer seine letzte Beichte ablegt, würde soviel Benimm haben und sich kurz fassen, nicht wahr?«

Nur Collins lachte.

»Also weiter«, sagte Enderby und verfiel wieder in seinen feierli­chen Ton. »>Im Verlauf meiner umfassenden Fahndung nach fi­nanziellen Unregelmäßigkeiten geriet die Integrität eines Kar­la-Residenten ins Zwielicht, des Residenten in Lissabon, Oberst Orlow. Karla berief ein Geheimtribunal seiner eigenen Leute zu­sammen, das über den Fall befinden sollte, und aufgrund meines Beweismaterials wurde Oberst Orlow am 10. Juni 1973 in Mos­kau liquidiert.< Das haut hin, sagen Sie, Sam?«

»Wir haben einen nicht bestätigten Überläufer-Bericht, wonach er von einem Exekutionskommando erschossen wurde«, sagte Collins forsch.

»Glückwunsch, Genosse Kirow, Beelzebubs Busenfreund. Herrje, was für eine Schlangengrube. Schlimmer als wir.« Enderby las weiter: »>Für meinen Anteil an der Überführung des Verbrechers Orlow wurde ich von Karla persönlich belobigt und mußte ihm Geheimhaltung schwören, da er den Verstoß Oberst Orlows als eine Schande für sein Direktorium und als Schädi­gung seines eigenen Ansehens innerhalb der Moskauer Zentrale empfand. Karla ist als Genosse von hohen moralischen Maßstä­ben bekannt und hat aus diesem Grund viele Feinde in den Rei­hen der Laxen.<«

Enderby machte eine Kunstpause und blickte Smiley aufs neue über die Brille hinweg an.

»Wir drehen uns alle selber den Strick, an dem wir baumeln wer­den, wie, George?«

»Wie Spinnen, die sich im eigenen Netz erdrosseln, Chef«, sagte Collins munter und schoß ein noch strahlenderes Lächeln auf eine Stelle zwischen den beiden Männern ab.

Aber Smiley war völlig in sein Exemplar von Kirows Aussage vertieft und allen Späßen unzugänglich.

»Überspringen wir das nächste Jahr von Brüderchen Kirows Le­ben und Lieben und kommen wir gleich zu seiner nächsten Be­gegnung mit Karla«, schlug Enderby, unangefochten von Smi­leys Wortkargheit, vor. »Die nächtlichen Vorladungen ... die Norm, nehme ich an.« Er blätterte ein paar Seiten weiter. Smiley tat desgleichen. »Wagen fährt vor Kirows Moskauer Domizil vor - warum zum Teufel können sie nicht einfach Wohnung sa­gen? -, er wird aus dem Bett getrommelt und mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Führen schon ein kurioses Leben, diese Gorillas von der Moskauer Zentrale, wie? Wissen nie, ob ein Orden oder eine Kugel auf sie wartet.« Er bezog sich wieder auf den Bericht: »Paßt das alles, George? Die Fahrt und so weiter? Eine halbe Stunde im Auto, kleines Flugzeug etcetera?«

»Das Dreizehnte Direktorium hat drei oder vier Niederlassun­gen, einschließlich eines großen Ausbildungslagers in der Nahe von Minsk«, sagte Smiley.

Enderby blätterte nochmals weiter.

»Also, Kirow ist jetzt wieder bei Karla: im Niemandsland, selbe Nacht. Karla und Kirow ganz unter sich, kleine Blockhütte, Art Eremitenklause, kein Drum und Dran, keine Zeugen-jedenfalls keine zu sehen. Karla kommt sofort zur Sache: Wie würde Ki­row ein Posten in Paris gefallen? Würde Kirow sehr gut gefallen, Sir -« Er schlug die nächste Seite auf. »Kirow hat das Dreizehnte Direktorium schon immer bewundert, Sir, bla, bla - immer schon Karla-Fan gewesen-, kriechen, krabbeln, kriechen. Hört sich an wie Sie, Sam. Interessant, daß Kirow fand, Karla wirke müde - merken Sie was? -, nervös. Karla steht unter Streß, raucht wie ein Schlot.«

»Das hat er immer getan«, sagte Smiley.

»Was hat er getan?«

»Er war von jeher ein sehr starker Raucher«, sagte Smiley.

»Was Sie nicht sagen!«

Enderby blätterte weiter: »Jetzt Kirows Auftrag«, sagte er.

»Karla instruiert ihn. >In offizieller Mission bekleide ich einen Posten in der Handelsabteilung der Botschaft, und als Sonder­mission sollte ich die Kontrolle und Führung der Konten sämtli­cher Außenstellen des Dreizehnten Direktoriums in folgenden Städten übernehmen . . .< Kirow zählt sie sodann auf. Bonn ge­hört dazu, aber nicht Hamburg. Mitgekommen, Sam?«

»Auf der ganzen Linie, Chef.«

»Nicht im Labyrinth verirrt?«

»Keinen Schritt, Chef.«

»Schlaue Lümmel, diese Russkis.«

»Teuflisch.«

»Wieder Kirow: >Er schärfte mir die immense Wichtigkeit mei­ner Aufgabe ein< - bla, bla -, >erinnerte an meine ausgezeichnete Arbeit im Fall Orlow und wies mich an, daß ich meine Berichte inAnbetracht des besonders delikaten Charakters der von mir wahrzunehmenden Tätigkeit direkt an Karlas Privatbüro schicken und hierfür einen Spezial-Code benutzen würde . . .< Auf­schlagen Seite fünfzehn -«

Seite fünfzehn aufgeschlagen, Chef«, sagte Collins.

Smiley hatte die Stelle bereits gefunden.

»> Zusätzlich zu meiner Arbeit als Revisor des Dreizehnten Di­rektoriums für die westeuropäischen Außenstellen würde ich je­doch, wie Karla mir mitteilte, mit gewissen geheimzubleibenden Aktivitäten betraut werden, zwecks Erstellung von Tarn-Vitae oder Legenden für künftige Agenten. Sämtliche Mitglieder sei­nes Direktoriums seien damit befaßt, sagte er, aber die Ausarbei­tung von Legenden unterliege dennoch verschärfter Geheimhal­tung, und ich dürfe unter gar keinen Umständen mit irgend je­mandem darüber sprechen. Weder mit meinem Botschafter noch mit Major Pudin, Karlas ständigem operativem Vertreter in un­serer Pariser Botschaft. Ich sagte natürlich zu und trat nach Ab­leistung eines Sonderkursus in Sicherheit und Kommunikation meinen Posten an. Ich war noch nicht lange in Paris, als Karla mir in einem persönlichen Fernschreiben mitteilte, daß dringend eine Legende für eine Agentin benötigt werde, Alter etwa ein­undzwanzig Jahre.< Jetzt sind wir soweit«, kommentierte En­derby voll Genugtuung. »>Karlas Fernschreiben nannte mir mehrere Emigrantenfamilien, die unter entsprechendem Druck einwilligen könnten, eine solche Agentin als ihre eigene Tochter auszugeben, denn für Karla ist Erpressung ein probateres Mittel als Bestechung.< Womit er verdammt recht hat«, stimmte En­derby lebhaft zu. »Bei der heutigen Inflationsrate ist Erpressung ungefähr die einzige Valuta, die ihre Kaufkraft behält.« Sam Col­lins bekundete seinen Beifall durch ein volltönendes Lachen. »Danke, Sam«, sagte Enderby huldvoll. »Verbindlichsten Dank.«

Ein geringerer Mann als Enderby - oder ein Mann von geringerer Dickfelligkeit - hätte vielleicht die nächsten paar Seiten über­sprungen, denn sie bestätigten größtenteils, wie recht Connie Sachs und Smiley gehabt hatten, als sie vor drei Jahren auf eine Durchleuchtung der Leipzig-Kirow-Verbindung drängten.

»Kirow klappert pflichtschuldigst die Emigranten ab, aber ohne Erfolg«, verkündete Enderby, als lese er die Untertitel im Kino vor. »Karla mahnt Kirow zu größerem Eifer, Kirow verdoppelt seine Anstrengungen, wieder Fehlanzeige.«

Enderby brach ab und blickte Smiley an, diesmal sehr direkt.

»Kirow taugte nichts, wie, George?« sagte er.

»Nein«, sagte Smiley.

»Karla konnte seinen eigenen Leuten nicht trauen, darauf wollen Sie doch hinaus. Er mußte sich unterm Fußvolk umsehen und ei­nen so unsicheren Kantonisten wie Kirow anwerben.«

»Ja.«

»Einen Tölpel. Der nie und nimmer Sarratt geschafft hätte.«

»Genau.«

»Mit anderen Worten: Nachdem er seinen eigenen Apparat auf­gezogen und ihm seine eisernen Regeln antrainiert hat, wagte er nicht, ihn in dieser speziellen Sache einzusetzen. Wollen Sie dar­auf hinaus?«

»Ja«, sagte Smiley. »Darauf will ich hinaus.«

Als Kirow nun im Flugzeug nach Wien ach so zufällig Leipzig wiedersah - Enderby gab nun den Inhalt von Kirows Bericht in seiner eigenen Formulierung wieder-, erschien Otto ihm wie ein Geschenk des Himmels. Was tat's, daß Ottos Sitz in Hamburg war, was tat's, daß damals in Riga manch Unschönes passierte: Otto war Emigrant, hatte Kontakt mit den Emigrantengruppen, Otto der Goldjunge. Kirow jagte eine Meldung an Karla und schlug vor, daß Leipzig als Emigranten-Quelle und Talentsucher angeheuert werde. Karla gab seine Zustimmung.

»Auch eine kuriose Sache, wenn man's bedenkt«, bemerkte En­derby. »Herrje, ich meine, wie kann ein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, auf einen Gaul mit Leipzigs Ruf setzen?

Noch dazu für einen solchen Job?«

»Karla war im Druck«, sagte Smiley. »Kirow sagte das aus, und es wird auch von anderer Seite bestätigt. Er war in Eile. Er mußte Risiken eingehen.«

»Leute umlegen, zum Beispiel?«

»Das war erst kürzlich«, sagte Smiley in so begütigendem Ton, daß Enderby ihm einen scharfen Blick zuwarf.

»In letzter Zeit sind Sie verdammt nachsichtig, wie, George?« sagte Enderby argwöhnisch.

»Tatsächlich?« Smiley schien durch die Frage verwirrt. »Wenn Sie es sagen, Saul.«

»Und verdammt sanftmütig obendrein.« Er wandte sich wieder der Tonbandabschrift zu. »Seite einundzwanzig, dann ist Feier­abend.« Er las langsam, um der Stelle besonderes Gewicht zu verleihen. »Seite einundzwanzig«, wiederholte er. »>Im An­schluß an die erfolgreiche Anwerbung der Ostrakowa und die amtliche Ausstellung eines französischen Visums für ihre Toch­ter Alexandra erhielt ich den Auftrag, ab sofort monatlich zehn­tausend US-Dollar aus dem Pariser Spesenfonds für die Bedie­nung dieser neuen Tiefenagentin abzuzweigen, die unter dem Arbeitsnamen KOMET geführt werde. Die Agentin KOMET erhielt außerdem die höchste Geheimhaltungsstufe innerhalb des Direktoriums, so daß alle sie betreffenden Meldungen dem Lei­ter persönlich unter Benutzung des Absender-Empfänger-Co­des und ohne Mittelsperson zugehen mußten. Wenn irgend möglich, sollten solche Mitteilungen per Kurier reisen, da Karla strikter Gegner unnötiger Funkkontakte ist.< Ist da etwas Wah­res dran, George?« fragte Enderby leichthin.

»Auf diese Weise haben wir ihn damals in Indien geschnappt«, sagte Smiley, ohne den Kopf zu heben. »Wir haben seine Codes geknackt, und daraufhin schwor er, nie wieder Funk zu benut­zen. Wie die meisten Schwüre wurde auch dieser nur bedingt ge­halten.«

Enderby biß ein Streichholzende ab und schmierte es auf seinen Handrücken. »Möchten Sie nicht den Mantel ablegen, George?« fragte er. »Sam, fragen Sie ihn, was er trinken möchte.«

Sam fragte, aber Smiley war so sehr in die Tonbandabschrift ver­tieft, daß er nicht antwortete.

Enderby nahm seine Vorlesung wieder auf. »>Ferner erhielt ich Anweisung, dafür zu sorgen, daß in den Jahresabrechnungen für Westeuropa, die ich als Revisor abzeichnen und Karla zur Vor­lage beim Collegium der Moskauer Zentrale am Ende eines jeden Geschäftsjahres übermitteln mußte, kein Hinweis auf KOMET zu finden sein würde . . . Nein, ich bin der Agentin KOMET nie persönlich begegnet und weiß auch nicht, was aus ihr gewor­den ist oder in welchem Land sie operiert. Ich weiß nur, daß sie unter dem Namen Alexandra Ostrakowa lebt, Tochter in Frank­reich naturalisierter Eltern . . .<« Weiteres Umblättern. »>Die monatliche Summe von zehntausend Dollar wurde nicht durch mich direkt ausbezahlt, sondern an eine Bank in Thun, im schweizerischen Kanton Bern, überwiesen. Die Überweisung geschieht per Dauerauftrag zu Gunsten eines Dr. Adolf Glaser. Glaser ist nomineller Konto-Inhaber, aber ich glaube, Glaser ist nur der Arbeitsname eines Karla-Mannes an der Sowjetbotschaft in Bern, dessen richtiger Name Grigoriew lautet. Zu dieser An­nahme gelangte ich aus folgendem Grund: Bei einer dieser Geld­sendungen nach Bern unterlief der überweisenden Bank ein Irr­tum, und das Geld traf nicht in Bern ein. Als Karla davon erfuhr, trug er mir auf, sofort denselben Betrag nochmals und zwar an Grigoriew persönlich zu überweisen, während die Bank der Sa­che nachging. Ich führte den Befehl aus und erhielt später die doppelt bezahlte Summe zurück. Das ist alles, was ich weiß. Otto, mein Freund, ich flehe dich an, behalte diese vertraulichen Informationen für dich, sie könnten mein Tod sein.< Womit er verdammt recht hat. Waren sie.« Enderby warf das Protokoll auf einen Tisch, wo es mit lautem Klatschen landete. »Kirows Te­stament und Letzter Wille, könnte man sagen. Das wär's. George?«

»Ja, Saul?«

»Wirklich nichts zu trinken?«

»Danke, ich bin ganz zufrieden.«

»Ich bin noch immer am Ausklamüsern, bei mir geht's nicht so schnell. Rechnen wir mal gemeinsam nach. Im Kopfrechnen sind Sie mir um Längen voraus. Also, Zug um Zug.« Er erinnerte an Lacon, als er eine weiße Hand hochhielt und die Finger spreizte, an denen er sodann abzählte.

»Nummer eins: Die Ostrakowa schreibt an Wladimir. Ihr Brief rührt alte Geschichten wieder auf. Vermutlich hat Mikhel ihn abgefangen und gelesen, aber das werden wir nie erfahren. Wir könnten ihn in den Schwitzkasten nehmen, aber das würde ver­mutlich nicht nur nichts nützen, sondern höchstwahrscheinlich in Karlas Taubenschlag Großalarm auslösen.« Er packte einen zweiten Finger. »Nummer zwei: Wladimir schickt eine Kopie des Briefes an Otto Leipzig mit der dringenden Bitte, er möge umgehend seine Freundschaft mit Kirow aufwärmen. Nummer drei: Leipzig braust nach Paris, besucht die Ostrakowa, läuft seinem lieben alten Kumpel Kirow über den Weg, lockt ihn nach Hamburg - wohin Kirow schließlich ohne weiteres mitdarf, denn Leipzig steht bei Karla immer noch als Kirows Agent auf der Liste. Aber jetzt frage ich mich etwas, George.«

Smiley wartete.

»In Hamburg zieht Leipzig seinem Freund Kirow die Würmer aus der Nase. Ja? Beweis liegt hier in unseren Schwitzhändchen.

Aber ich frage mich - wie?«

Vermochte Smiley wirklich nicht zu folgen oder lag ihm daran, Enderby noch ein bißchen Kopfarbeit leisten zu lassen. Jeden­falls zog er es vor, Enderbys Frage als rhetorisch zu betrachten. »Wie erpreßt Leipzig ihn genau?« bohrte Enderby. »Was ist das Druckmittel? Sex-Fotos? Schön, okay. Karla ist Puritaner, Ki­row auch. Aber ich meine, Herrgott, wir leben nicht mehr in den fünfziger Jahren, wie? Heutzutage kann jeder sich ein bißchen Fleischeslust erlauben, was?«

Smiley lieferte keinen Kommentar zu russischen mores; aber zum Thema Druckmittel äußerte er sich so präzise, wie Karla es vermutlich getan hätte. »Ihre Ethik ist anders als die unsrige. Sie duldet keine Dummköpfe. Wir halten uns immer für leichter er­preßbar als die Russen. Das stimmt nicht. Das stimmt ganz ein­fach nicht.« Er schien in diesem Punkt sehr sicher zu sein. Er schien in letzter Zeit reichlich darüber nachgedacht zu haben: »Kirow war unfähig und indiskret. Allein seiner Indiskretion wegen hätte Karla ihn vernichtet. Leipzig besaß den Beweis da­für. Vielleicht erinnern Sie sich, als wir die ersten Recherchen über Kirow anstellten: Damals hatte Kirow sich betrunken und höchst unklug über Karla ausgepackt. Hat Leipzig erzählt, Karla habe ihm befohlen, die Legende für eine Agentin aufzubauen. Damals mißtrauten Sie der Geschichte, aber sie stimmte.«

Enderby war kein Mann, der errötete, aber er hatte tatsächlich soviel Anstand, ein schiefes Grinsen zu zeigen, ehe er in seiner Tasche nach einem weiteren Streichholz fischte.

»Und wer einen Stein wälzt, auf den rollt er zurück«, zitierte er befriedigt, ob er allerdings auf sein eigenes Versäumnis anspielte oder auf Kirows Achtlosigkeit, blieb unklar. »>Erzähl uns den Rest, Kumpel, oder ich erzähle Karla, was du mir schon alles er­zählt hast<, sagt Klein Otto zu der Fliege. Herrje, Sie haben recht, er hatte Kirow wirklich am Wickel!«

Sam Collins riskierte eine vermittelnde Bemerkung. »Ich glaube, was George sagt, paßt ziemlich genau zu dem Hinweis auf Seite zwei, Chef«, sagte er. »An dieser Stelle erwähnt Leipzig tatsäch­lich >unsere Gespräche in Paris<. Da hat er schon das Karla-Mes­ser angesetzt, keine Frage. Stimmt's, George?«

Aber was die Aufmerksamkeit anging, die Smiley und Enderby ihm zollten, hätte Sam Collins ebenso gut im Nebenzimmer sprechen können.

»Leipzig hatte auch den Brief der Ostrakowa«, ergänzte Smiley.

»Der Inhalt sprach nicht gerade für Kirow.«

»Noch etwas«, sagte Enderby.

»Ja, Saul?«

»Vier Jahre, ja? Es ist volle vier Jahre her, seit Kirow seinen er­sten Versuch bei Leipzig gemacht hat. Plötzlich reißt er die Ostrakowa auf und probiert die gleiche Masche. Vier Jahre spä­ter. Wollen Sie sagen, er sei die ganze Zeit über mit ein und dem­selben Auftrag Karlas schwanger gegangen, ohne mit einem Re­sultat niederzukommen?«

Smileys Antwort war seltsam bürokratisch. »Man kann nur vermuten, daß Karlas Bedarf nicht mehr gegeben war und später wieder akut wurde«, erwiderte er steif, und Enderby war klug genug, nicht weiter in ihn zu dringen.

»Kurz und gut: Leipzig erpreßt Kirow nach Strich und Faden und macht Wladimir davon Mitteilung«, faßte Enderby zusammen, und hob abermals zählend die gespreizten Finger. »Wla­dimir schickt Willem als Kurier los. Inzwischen hat Karla auf seiner Ranch in Moskau Lunte gerochen, oder Mikhel hat gepfif­fen, vermutlich letzteres. Wie dem auch sei, Karla beordert Ki­row unter dem Vorwand einer Beförderung nach Hause und hängt ihn an den Ohren auf. Kirow singt sofort, hätte ich auch getan. Karla versucht, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken. Tötet Wladimir, der mit dem Brief der Ostrakowa auf dem Weg zu unserem Treff ist. Tötet Leipzig. Macht einen gemeinen Mordanschlag auf die alte Dame, aber es klappt nicht. Wie ist ihm jetzt zu Mute?«

»Er sitzt in Moskau und wartet, daß Holmes oder Kapitän Ahab bei ihm auftauchen«, scherzte Sam Collins mit seiner Samt­stimme und zündete sich seine soundsovielte Zigarette an.

Enderby mußte nicht lachen. »Und warum buddelt Karla seinen Schatz nicht wieder aus, George? Deponiert ihn anderswo? Wenn Kirow Karla beichtete, was er Leipzig gebeichtet hat, dann mußte Karla als erstes alle Spuren verwischen!«

»Vielleicht ist der Schatz nicht zu transferieren«, erwiderte Smi­ley. »Vielleicht sind Karlas Möglichkeiten erschöpft.«

»Aber es wäre heller Wahnsinn, dieses Bankkonto stehenzulas­sen!«

»Es war auch heller Wahnsinn, einen Idioten wie Kirow einzu­setzen«, sagte Smiley. »Es war Wahnsinn, ihn Leipzig anwerben zu lassen, Wahnsinn, sich an die Ostrakowa heranzumachen, und Wahnsinn zu glauben, durch drei Morde könne er das Leck stopfen. Die Voraussetzung voller Zurechnungsfähigkeit ist da­her nicht gegeben. Warum auch?« Er schwieg eine Weile. »Und Karla glaubt es offenbar immer noch, sonst würde Grigoriew nicht nach wie vor in Bern sein. Das ist er doch, wenn ich Sie recht verstanden habe?« Nur die Andeutung eines Seitenblicks zu Collins.

»Bis dato sitzt er noch brav im alten Nest«, sagte Collins mit sei­nem Allwetter-Lächeln.

»Dann wäre ein Transfer des Bankkontos kaum ein logischer Schritt«, bemerkte Smiley. Und er fügte hinzu: »Nicht einmal für einen Wahnsinnigen.«

Und es war seltsam - das äußerten Collins und Enderby später übereinstimmend im engsten Kreis -, daß alles, was Smiley sag­te, wie ein kalter Hauch durch den Raum zu wehen schien, daß sie beide, ohne zu begreifen, wie es zuging, sich in eine höhere Sphäre menschlichen Verhaltens versetzt sahen, für die sie nicht gebaut waren.

»Wer ist also seine Dunkle Dame?« fragte Enderby. »Wer ist ihm zehntausend pro Monat und seine ganze verdammte Karriere wert? Bringt ihn soweit, daß er Gimpel ausschickt, statt seiner eigenen regulären Halsabschneider? Muß eine bemerkenswerte Puppe sein.«


Wiederum kann man nur raten, warum Smiley beschlossen hat­te, diese Frage nicht direkt zu beantworten. Vielleicht liegt die Erklärung in seiner eisernen Unzugänglichkeit; oder vielleicht haben wir es mit der hartnäckigen Weigerung des geborenen Agenten zu tun, seinem Vorgesetzten irgendetwas zu offenba­ren, was für die Zusammenarbeit nicht unbedingt notwendig ist. Ganz bestimmt hatte sein Entschluß einen philosophischen Grund. Schon war Smiley überzeugt, niemandem außer sich sel­ber verantwortlich zu sein: Warum sollte er handeln, als wäre dies nicht der Fall? »Alle Fäden führen in mein eigenes Leben!« mag er argumentiert haben. »Warum meinem Gegenspieler die En­den in die Hand geben, nur damit er mich daran gängeln kann?« Oder aber, er dachte -- und vermutlich zu recht -, daß Enderby die Wirrungen von Karlas Lebensweg ebenso bekannt waren wie Smiley; und daß er, falls dem nicht so gewesen sein sollte, seine Rußland-Spezialisten die ganze Nacht hindurch hatte wühlen lassen, bis sie auf die Antworten gestoßen waren, die ihm fehl­ten.

Was immer zutreffen mag, fest steht, daß Smiley sein Wissen für sich behielt.

»George?« sagte Enderby nach langer Pause.

Ein Flugzeug donnerte im Tiefflug über das Haus.

»Die Frage ist ganz einfach, ob Sie das Produkt haben möchten«, antwortete Smiley schließlich. »Ich sehe sonst nichts, was letzt­lich von großer Bedeutung wäre.«

»Ach, Sie sehen sonst nichts!« sagte Enderby, zog die Hand vom Mund und damit das Streichholz. »Oh doch, ich möchte ihn ha­ben«, fuhr er fort, als sei dies nur ein Teil des Ganzen. »Ich möchte die Mona Lisa haben und den Vorsitzenden der Volksre­publik China und den Sieger des nächstjährigen Irish Sweep, Ich möchte Karla in Sarratt auf dem heißen Stuhl haben, wo er vor den Inquisitoren seine Lebensgeschichte ausspuckt. Ich möchte, daß mir die amerikanischen Vettern noch jahrelang aus der Hand fressen. Ich möchte alle Trümpfe haben, klar, daß ich das möch­te. Aber das hilft mir nicht aus dem Schlamassel.«

Doch Smiley schien an Enderbys Dilemma seltsam uninteres­siert.

»Bruder Lacon dürfte Sie doch aufgeklärt haben? Über den Still­halte-Befehl und so?« fragte Enderby. »Ein junges idealistisches Kabinett, nichts geht über Entspannung, Transparenz der Re­gierungsarbeit ist die Parole, diesen ganzen Scheiß? Schluß mit den bedingten Reflexen des Kalten Krieges? Schnüffeln unter je­dem Whitehall-Bett nach Tory-Verschwörungen, besonders un­ter dem Unsrigen? Hat er das getan? Hat er Ihnen gesagt, daß sie eine gewaltige anglo-russische Friedensinitiative starten wollen, wieder einmal, die prompt spätestens bis nächste Weihnachten platzen wird?«

»Nein. Nein, davon hat er mir nichts gesagt.«

»Aber das Vorhaben besteht wirklich. Und wir dürfen es nicht gefährden, tra-la-la. Typisch, derselbe Verein, der die Friedens-Trommeln rührt, schreit Zeter und Mordio, wenn wir die Ware nicht liefern. Das muß jedem einleuchten, wie? Schon jetzt möchten sie wissen, wie die Reaktion der Sowjets ausfallen wird.

War das schon immer so?«

Smiley zögerte so lange mit der Antwort, als müsse er das Urteil des Jüngsten Gerichts fällen. »Ja. Ich glaube schon. Ich glaube, in der einen oder anderen Form war es schon immer so«, sagte er schließlich, und diese Feststellung schien für ihn selber viel zu bedeuten.

»Hätten Sie mir vorher sagen können.«

Enderby schlenderte zur Mitte des Zimmers und goß sich am Büffet ein Glas reines Sodawasser ein; er starrte Smiley in an­scheinend ehrlicher Unschlüssigkeit an. Starrte ihn an, wandte den Kopf und starrte ihn aufs neue an, zeigte alle Symptome ei­nes Mannes, der mit einem unlösbaren Problem konfrontiert ist. »Eine harte Nuß, Chef, wahrhaftig«, sagte Sam Collins, wovon keiner der beiden anderen Männer die geringste Notiz nahm. »Und es ist nicht einfach ein gemeines Bolschi-Komplott, George, das uns ins eigene Grab locken soll - sind Sie da ganz si­cher?«

»Ich fürchte, diesen Aufwand sind wir nicht mehr wert, Saul«, sagte Smiley mit abbittendem Lächeln.

Enderby war nicht erpicht darauf, an die Grenzen von Britanni­ens Größe erinnert zu werden, und sekundenlang verzog sich sein Mund zu einer säuerlichen Grimasse.

»All right, Maud«, sagte er nach einer Weile. »Laß uns in den Garten gehen.«


Sie spazierten Seite an Seite. Collins war auf ein Nicken Ender­bys hin im Haus geblieben. Unter dem sachten Regen kräuselte sich die Wasserfläche des Teichs, und der Marmorengel glänzte im Dämmerlicht. Von Zeit zu Zeit schüttelte eine kurze Brise ei­nen Wasserschauer von den hängenden Zweigen auf den Rasen und auf den einen oder anderen der beiden Männer. Aber En­derby war ein englischer Gentleman, Gottes Regen mochte den Rest der Menschheit durchnässen, doch er wollte verdammt sein, wenn auch er etwas abbekäme. Das Licht fiel in kleinen Flecken auf sie. Aus Bens Fenstertüren fielen kleine gelbe Rechtecke über den Teich. Von jenseits der Ziegelmauer kam der kränklich grüne Schimmer einer modernen Straßenlampe. Sie drehten schweigend eine Runde, ehe Enderby sprach.

»Sie haben uns ganz schön in Trab gehalten, George, das muß ich schon sagen. Willem, Mikhel, Toby, Connie. Der arme alte Fer­guson hatte kaum Zeit, seine Spesenabrechnung auszufüllen, und schon waren Sie wieder auf Achse. >Muß er denn nie schla­fen?< hat er mich gefragt. >Muß er nie was trinken?<«

»Tut mir leid«, murmelte Smiley, um irgendetwas zu sagen.

»Eben nicht«, sagte Enderby und blieb unvermittelt stehen.

»Verdammte Schnürsenkel«, brummte er und beugte sich über seinen Stiefel, »immer der gleiche Jammer bei Wildleder. Zu we­nige Ösen, daher. Sollte man nicht einmal den verdammten Bri­ten zutrauen, daß sie's fertigbringen, mit Löchern zu knausern, wie?«

Enderby setzte den Fuß wieder auf den Boden und hob den an­deren.

»Ich will ihn, wie er leibt und lebt, George, hören Sie? Bringen Sie mir einen lebendigen, redenden Karla, und ich nehme ihn und entschuldige mich später dafür. Karla bittet um Asyl? Nun ja, ehern, nicht eben gern, aber er soll's haben. Bis die Weisen ihre Donnerbüchsen geladen haben, um mich abzuschießen, habe ich genügend aus ihm rausgequetscht, daß ihnen für immer das Maul gestopft ist. Den ganzen Mann oder gar nichts, ver­standen?«

Sie hatten ihre Wanderung wieder aufgenommen, Smiley trot­tete hinter Enderby her, der jedoch, obgleich er sprach, nicht den Kopf wandte.

»Und bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten diese Sippschaft abhängen«, warnte er. »Wenn Sie und Karla auf dem schmalen Felsvorsprung über den Reichenbach-Fällen nicht mehr vor-und zurückkönnen und Sie schon die Hände um Karlas Hals le­gen, steht plötzlich Bruder Lacon hinter Ihnen, zerrt an Ihren Rockschößen und sagt, daß man zu einem Russen nicht garstig sein darf. Ist Ihnen das klar?«

Smiley sagte, ja, es sei ihm klar.

»Was haben Sie bisher gegen ihn vorzubringen? Mißbrauch sei­ner Amtsbefugnisse, nehme ich an. Betrug. Veruntreuung öffentlicher Gelder, genau das, weswegen er den Knaben aus Lis­sabon hinrichten ließ. Ungesetzliches Vorgehen im Ausland, einschließlich einiger Mordanschläge. Vermutlich eine ver­dammt lange Liste, wenn man's zusammenzählt. Plus dieser Bande eifersüchtiger Biber in der Moskauer Zentrale, die schon lang nach seinem Blut lechzen. Er hat recht: Erpressung ist ver­dammt besser als Bestechung.«

Smiley sagte ja, es scheine so.

»Und Sie werden Leute brauchen. Babysitter, Pfadfinder, sämt­liches verbotene Spielzeug. Kein Wort darüber zu mir, suchen Sie sich selber, was Sie brauchen. Geld ist etwas anderes. Ich kann Sie auf Jahre hinaus in den Konten verschwinden lassen, so, wie diese Hampelmänner im Schatzamt arbeiten. Sagen Sie mir nur, wann, wieviel und wohin, und ich mache Ihren Karla und frisiere die Bücher. Wie steht's mit Pässen und so? Wollen Sie Adressen haben?«

»Ich glaube, ich bin versorgt, danke.«

»Ich lasse Sie Tag und Nacht überwachen. Wenn das Unterneh­men schief geht und es einen Skandal gibt, möchte ich mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte Sie unter Beobachtung halten sollen. Ich werde sagen, daß ich nach der Sache mit Wladimir einen Al­leingang befürchtet und beschlossen hätte, Sie für alle Fälle an die lange Leine zu nehmen. Ich werde sagen, die ganze Katastrophe sei nur das lächerliche Ein-Mann-Unternehmen eines senilen Spions, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.«

Smiley sagte, das halte er für eine gute Idee.

»Ich kann zwar kein großes Aufgebot auf die Straße schicken, aber ich kann immerhin Ihr Telefon anzapfen, Ihre Briefe auf­dämpfen und wenn's mir Spaß macht, in Ihrem Schlafzimmer Wanzen setzen. Genau gesagt, sind wir schon seit Samstag in der Leitung. Nichts natürlich, aber was kann man schon erwarten?« Smiley nickte mitfühlend.

»Sollte Ihre Abreise ins Ausland mir als überstürzt oder geheimnisvoll auffallen, so werde ich Meldung machen. Außerdem brauche ich eine Legende für Ihre Besuche im Archiv des Circus.

Sie werden zwar nur nachts hingehen, aber jemand könnte Sie erkennen, und ich will mich auch hierbei nicht erwischen las­sen.«

»Es bestand einmal der Plan, eine interne Geschichte der Dienst­stelle in Auftrag zu geben«, sagte Smiley hilfsbereit. »Natürlich nicht zur Veröffentlichung, aber doch eine Art fortlaufender Chronik, die Neulingen und gewissen Verbindungsdienststellen zur Verfügung stehen könnte.«

»Ich schicke Ihnen ein offizielles Schreiben«, sagte Enderby. »Und ich werde es wohlweislich zurückdatieren. Sollten Sie während Ihres Aufenthalts innerhalb des Gebäudes Ihre Befug­nisse übertreten, so ist das nicht meine Schuld. Der Bursche da in Bern, den Kirow erwähnte, Grigoriew, Handelsattache. Der Bursche, an den die Moneten gehen?«

Smiley schien tief in Gedanken. »Ja, ja, natürlich«, sagte er.

»Grigoriew.«

»Ich nehme an, er ist Ihre nächste Station, wie?«

Eine Sternschnuppe sauste über den Himmel, und einen Augen­blick lang sahen sie ihr beide nach.

Enderby zog ein einfaches gefaltetes Blatt Papier aus der Innen­tasche. »Hier, das ist Grigoriews Stammbaum, so weit wir ihn kennen. Er ist sauber durch und durch. Einer der ganz Wenigen. War früher Dozent für Volkswirtschaft an irgendeiner russi­schen Universität. Mit einer Schreckschraube verheiratet.«

»Vielen Dank«, sagte Smiley höflich. »Herzlichen Dank.«

»Inzwischen haben Sie meinen Segen, was ich im Ernstfall strikt ableugnen werde«, sagte Enderby, während sie sich auf den Rückweg zum Haus machten.

»Vielen Dank«, sagte Smiley wieder.

»Tut mir leid, daß Sie ein Opfer der imperialistischen Heuchelei werden mußten, aber Sie sind nicht der einzige.«

»Keine Ursache«, sagte Smiley.

Enderby blieb stehen und wartete, bis Smiley ihn eingeholt hat­te.

»Wie geht's Ann?«

»Danke, gut.«

»Wie viel -« Plötzlich geriet er aus dem Konzept. »Sagen wir mal so, George«, meinte er, nachdem er eine Weile die köstliche Nachtluft genossen hatte. »Reisen Sie in diesem Fall in Geschäf­ten oder zum Vergnügen? Worum geht's?«

Smileys Antwort ließ auf sich warten und war ebenso indirekt:

»Mit dem Begriff Vergnügen konnte ich nie viel anfangen«, sagte er. »Oder vielleicht sollte ich sagen: mit dem Unterschied.«

»Hat Karla noch immer das Feuerzeug, das sie Ihnen schenkte? Das stimmt doch, oder? Es heißt, damals, als Sie in Delhi mit ihm sprachen - ihn umdrehen wollten -, habe er Ihnen das Feuerzeug geklaut. Besitzt es heute noch, wie? Benutzt es noch immer? Würde mich ganz schön wurmen, wenn es mir gehört hätte.« »Es war nur ein gewöhnliches Ronson-Feuerzeug«, sagte Smi­ley. »Allerdings sind diese Dinger sehr stabil, so gut wie unver­wüstlich, nicht wahr?«

Sie trennten sich grußlos.

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