10

»Ich seh das Tunnelende.«

Von der Stimme geweckt, die so seltsam durch den Schacht hallte, merkten Rhapsody und Grunthor auf. Rhapsody hob den Kopf. Ihr langes Haar bedeckte die breite Brust des Firbolg-Sergeanten, an der sie geruht hatte.

Grunthor blickte auf und entdeckte hoch oben ein schwaches rötliches Schimmern, den Widerschein von Tageslicht, wie es schien. Er nickte.

»Gut, machen wir also, dass wir da hoch kommen«, sagte er und half Rhapsody beim Aufstehen. Sie setzten ihren Weg fort. Jetzt, da das Ende abzusehen war, fand Rhapsody den Anstieg nur noch halb so schwer. Mit frischen Kräften und sicherem Tritt strebte sie dem Licht entgegen. Während der endlos scheinenden Kletterei durch die Dunkelheit hatte sie alle Gedanken an den offenen Himmel unterdrückt, weil sie dadurch noch mehr niedergeschlagen gewesen wäre. Selbst jetzt hütete sie sich vor verfrühten Hochgefühlen.

Und das war nur weise. Obwohl die drei schnell vorankamen und sich keine Pause gönnten, hatte es den Anschein, als kämen sie dem Ende kein Stückchen näher. Als ihre Kräfte erschöpft waren, richteten sie ein Schlaflager ein und teilten die Reste des Proviants, den Achmed mit sich führte. Rhapsody aß trockene Bohnen, kleine Stücke der von Achmed geernteten Sagiawurzel und trank dazu ein wenig Wasser, gesammelt aus dem, was von den dünnen Wurzeltrieben abgetropft war. Wieder machte sich bei ihr Verzweiflung breit. Den Traum der vergangenen Nacht hatte sie bislang erfolgreich verdrängt, weil mit dem Ausblick auf ein Ende der Reise auch die Hoffnung verbunden war, Michael für immer abschütteln zu können. Doch nun kehrten ihre Gedanken in jene schreckliche Zeit zurück.

Was ihr während dieser einem Albtraum gleichen zwei Wochen am meisten zu schaffen gemacht hatte, war weniger die Verkommenheit, die Michael an den Tag legte, als die völlige Unvorhersehbarkeit dessen, was sie erwartete. Manchmal schloss er sich tagelang mit ihr in der Kammer ein und verlangte ihre volle Aufmerksamkeit; dann wiederum schleifte er sie, einer plötzlichen Laune folgend, hinunter in den Essraum, wo er sie vor den Augen seiner verblüfften Männer, die gerade beim Frühstück saßen, auf den Tisch legte und besprang.

Manchmal packte ihn die Eifersucht. Die bekam unter anderem einer seiner Lakaien zu spüren, nur weil er sie einmal ein wenig zu lange angesehen hatte. Bei anderer Gelegenheit zwang er sie, seinen Männern zu Willen zu sein, einem nach dem anderen. Sie hatte sich den Tod herbeigesehnt und sich, weil der nicht kommen wollte, allein mit dem Gedanken getröstet, dass zumindest das Kind in Sicherheit war.

Endlich kam der Tag, an dem er aufbrechen sollte. Rhapsody sah zu, wie er sein Pferd bepackte. Er war ausgesprochen guter Laune. Lächelnd nahm er ihren Kopf zwischen beide Hände und gab ihr einen zarten Abschiedskuss.

»Wirklich, Rhapsody, es war wunderschön mit dir. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder zu sehen. Wirst du mich vermissen?«

»Natürlich«, sagte sie. Inzwischen gingen ihr die Lügen schon sehr viel leichter von den Lippen.

»So ist es brav. Nun denn, Karvolt, hol Petunia, und dann nichts wie weg.«

Rhapsody glaubte nicht richtig zu hören. »Was? Nein, Michael, sie gehört mir. Das war so abgemacht.«

»Mach dich nicht lächerlich. Ich habe ihrem sterbenden Vater, gleich nachdem ich ihm die Kehle aufgeschlitzt hatte, versprochen, mich persönlich um die Kleine zu kümmern. Du erwartest doch wohl nicht von mir, dass ich wortbrüchig werde, oder?« Aus dem Haus tönten Schreie, und wenig später trat Karvolt zur Tür hinaus, das Mädchen im Arm.

Rhapsody geriet in Panik. Dass ein Abkommen mit Michael keinen Wert hatte, war ihr im Grunde von Anfang an klar gewesen, doch sie hatte die Augen davor verschlossen, weil sie nicht ertragen konnte, was in Wahrheit zu befürchten stand. Er grinste bis über beide Ohren und stellte sich ihr in den Weg, als sie versuchte, dem Mädchen zu Hilfe zu eilen. Schluchzend lenkte sie ein und ließ den Tränen freien Lauf.

»Bitte, Michael, nein. Steh zu deinem Wort. Gib sie mir. Bitte.«

»Warum sollte ich, meine Liebe? Ich blicke auf die schönsten zwei Wochen meines Lebens zurück. Im Ernst, alle vordem erlebten Freuden zusammengenommen reichen nicht heran an das Vergnügen, das du mir bereitet hast. Ich bin jetzt verwöhnt und will meine Lust auch in der nächsten Zeit befriedigt wissen. Bis auf Weiteres wird nun Petunia dafür sorgen müssen. Als Ersatz für dich.«

Rhapsody packte ihn beim Arm. »Dann nimm mich, aber lass das Mädchen.« Sie wusste, was seine letzten Worte zu bedeuten hatten. Er würde das Kind missbrauchen und sich dann seiner entledigen. Michael triumphierte. »Wie rührend. Wer hätte das gedacht? Noch vor zwei Wochen wolltest du mir einen Korb geben. Offenbar hat dich meine Fürsorge zu einem gründlichen Sinneswandel bewogen, nicht wahr, meine Liebe?«

»Ja«, sagte Rhapsody, und das war die bittere Wahrheit. Vieles, woran sie früher fest geglaubt hatte, war in dieser Zeit für immer verloren gegangen.

»Was weißt du schon? Ich hätte ja selbst kaum für möglich gehalten, wie gut ich in Wirklichkeit bin. Tut mir Leid, Rhapsody, aber ich kann dir nicht helfen. Da du wahrscheinlich nicht auf mich warten wirst, kann niemand von mir fordern, dass ich auf dich warte. Sitz auf, Karvolt.« Er wandte sich ab. In einem letzten Akt der Verzweiflung warf sich Rhapsody ihm um den Hals und küsste ihn. Sie spürte, wie sein Herz schneller schlug, als sich seine Überraschung gelegt hatte und er die Arme um sie schlang. Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Bitte, Michael, willst du das einer Frau antun, die dich liebt?« Sie wusste, was er von diesem vermeintlichen Liebesgeständnis halten würde. Es war eine rein rhetorische Frage.

Er stieß sie von sich und sah ihr ins Gesicht. »Du liebst mich? Du, Rhapsody? Schwör’s, und ich lasse das Kind bei dir zurück.« Über seine Schulter hinweg sah sie Karvolt im Sattel sitzen; er hatte das wimmernde Kind in Fesseln gelegt und starrte interessiert in ihre Richtung.

»Zuerst soll sie absteigen und ins Haus laufen. Dann schwör ich’s dir.«

»Es muss dir schon Ernst damit sein, Rhapsody. Ich lass nicht mit mir spaßen.«

»Mir ist es sehr ernst damit, ich schwör’s.«

Michael gab Karvolt ein Zeichen, der daraufhin das Mädchen losband und zur Haustür führte, wo es von Nana in Empfang genommen wurde.

»Nun, meine Liebe, was war es, das du mir sagen wolltest?«

Rhapsody atmete tief durch. »Ich schwöre bei meinem Stern, dass ich bis ans Ende aller Tage keinen anderen Mann lieben werde. Reicht dir das jetzt, Michael?« Sein triumphierendes Grinsen machte sie krank. Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie.

»Ja«, sagte er leise. »Ich liebe dich auch, und es wird neben dir keine andere bestehen können. Im Bett vielleicht, aber nicht in meinem Herzen. Ich komme wieder, Rhapsody, dann werden wir immer zusammen sein.«

Sie nickte stumm und wunderte sich über die Leichtgläubigkeit dieses rohen Mannes. Aber er konnte ja auch nicht wissen, dass sie keine Liebe mehr zu verschenken hatte. Denn ihr Herz war längst vergeben und mit dem, der es genommen hatte, gestorben.

Die Arme um den Körper geschlungen, sah sie den Trupp davon reiten. Michael drehte sich noch einmal um und winkte ihr lächelnd zu. Als die Reiter außer Sichtweite waren, ging sie hinter einen Busch und erbrach sich.

»Geschmeiß!«

Rhapsody richtete sich verstört auf. Es schien, als hätte Achmed ihre Gedanken gelesen. Dann folgte sie seinem Fingerzeig und erschrak. Von oben kroch entlang der Wurzel ein lebender Wall aus fahlen, zuckenden Riesenwürmern herab, die von der Körperwärme der drei angelockt zu sein schienen. Vor Entsetzen zitternd, schüttelte Rhapsody ihren Dolch aus dem Ärmel. Die Klinge war so lang wie ihre Handfläche, das Heft nur halb so groß. Damit ließ sich wohl kaum etwas ausrichten gegen die Würmer, die gut dreimal so lang waren.

Plötzlich schlang sich ihr von hinten Grunthors Arm um die Taille, so wuchtig, dass ihr die Luft wegblieb. Er setzte sie unterhalb von sich ab und kletterte ein Stück weiter nach oben, wo er eine breite Spalte in der Wurzel fand, die ihm Unterschlupf bot. Rhapsody folgte und suchte Schutz in einem Gestrüpp aus dünnen Ablegern.

Sie hörte die runden Geschosse aus Achmeds Cwellan pfeifend durch die Luft schwirren und betete im Stillen, dass sie nicht auf sie und den Gefährten hageln würden.

»Zieh dein Schwert!«, forderte Achmed den Riesen auf. Das Ungeziefer bewegte sich verblüffend schnell, glitt an der Wurzel entlang nach unten und ließ sich von keiner Unebenheit aufhalten. Die Würmer schwärmten über Achmed hinweg, bedeckten ihn von Kopf bis Fuß. Er ließ die Klinge sausen, so schnell, dass sie nicht mehr zu sehen war. Die Würmer fielen von ihm ab und stürzten in die Tiefe, wobei der eine und andere kurz mit Rhapsody in Berührung kam, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden.

Ihre Leiber waren so fahl wie die Wurzeln und von dünnen Adern durchzogen, die violett unter der Haut schimmerten, so wie die mit Blut gefüllten, geschwollenen Köpfe. Einer der Würmer fiel ihr auf den Kopf und biss mit kleinen, spitzen Zähnen zu. Rhapsody musste an sich halten, um nicht hysterisch aufzuschreien.

Grunthor hatte ein mächtiges Schwert gezogen, mit dem er das Gewürm in Massen von der Wurzel schälte und es in den Abgrund schickte.

Reaktionsschnell wich sie den herabstürzenden Kadavern aus und starrte auf diejenigen Kriechtiere, die Grunthor unbeschadet passiert hatten und nun auf sie zukamen. Zu Dutzenden. Sie konnte sich ausrechnen, dass, wenn so viele bis zu ihr vordrangen, die Männer über ihr mit Hunderten zu kämpfen hatten.

Unermüdlich schlug Grunthor zu, fand aber noch zwischendurch Gelegenheit, ihr einen Blick zuzuwerfen. »Hier, damit kannst du dich mal auseinander setzen«, sagte er und trat mit der Fußspitze eine sich windende Geschwulst von der Wurzel. Rhapsody konnte ihr nur um Haaresbreite ausweichen. »Nimm dir eins von meinen Schwertern.« Er senkte den Rumpf zur Seite, sodass sie nach einer der Waffen langen konnte, die er auf dem Rücken mit sich trug. Rhapsody schüttelte den Kopf. Sie stocherte gerade auf zwei zuckende Leiber ein, die dicht über ihr an der Wand klebten. »Ich weiß nur mit meinem Dolch umzugehen«, antwortete sie. Kaum hatte sie die beiden Würmer zur Strecke gebracht, da war auch schon ein dritter aufgetaucht, und ehe sie sich versah, spürte sie dessen Zähne im Unterarm. Kreischend versuchte sie das Ungetüm abzuschütteln.

»Dreh dich um«, sagte Grunthor. Rhapsody gehorchte. Der Bolg lehnte sich zurück, streckte den Arm aus, spießte den Wurm gezielt mit der Schwertspitze auf und schleuderte ihn mit einer Drehung aus dem Handgelenk weg. Sie schrie vor Schmerz auf, denn mit dem Untier hatte sich auch ein Stück Haut vom Arm gelöst. »Wenn das hier vorbei ist, werden wir dir ein paar Lektionen erteilen müssen«, sagte er und wandte sich wieder den von oben nachrückenden Massen zu.

»Wenn ich denn dann noch lebe«, murmelte sie.

»Ich bin durch«, rief Achmed und seilte sich ab, um Grunthor Hilfestellung zu leisten.

»Mit dem Rest hier werd ich allein fertig. Hilf lieber der Gräfin«, sagte der Riese, ohne die Klinge zur Ruhe kommen zu lassen.

»In Deckung«, kommandierte Achmed, worauf sich Rhapsody gegen die Wurzel presste und dabei einen Wurm unter der Brust zerquetschte. Sie kniff die Augen zu, als die Cwellanscheiben vorbeiwischten und das Ungeziefer durchpflügten.

»Jetzt kannst du dich wieder bewegen«, sagte die Stimme, die so dünn und rau wie Treibsand klang. Sie öffnete die Augen, atmete tief durch und begegnete Achmeds Blick.

Es war schon eine Weile her, dass sie ihm das letzte Mal ins Gesicht geschaut hatte. Für gewöhnlich kletterte er mit einigem Abstand vorneweg, und so hatte sie ganz vergessen, wie erschreckend er aussah, besonders im Dunkeln.

»Danke«, sagte sie kleinlaut, und ihre Stimme klang wie das Krächzen einer alten Frau. Dann sah sie Blut auf seinem Unterarm. »Du bist verletzt.«

»Scheint so.« Er warf einen Blick auf Grunthor. Der Sergeant nickte. Achmed machte sich wieder auf nach oben, auf seine Position als Anführer.

»Lass dich verarzten. Nicht, dass sich die Wunde noch entzündet.« Sie sprach jetzt in ruhigem Ton und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihr das Herz raste. Rhapsody wusste aus Erfahrung, dass sie inmitten größter Not verhältnismäßig ruhig blieb, fast kühl. War aber die Gefahr erst einmal vorbei, setzten Symptome der Panik ein.

»Es wird mich schon nicht umhauen«, antwortete der verhüllte Mann. Grunthor schüttelte den Kopf.

»Sie hat Recht. Wer weiß, auf welchem Mist die Würmer rumgekrochen sind. Vielleicht waren sie das Nutzvieh unsrer kleinen Zwergenfreunde.«

Achmed schien einen Augenblick lang nachzudenken, rutschte dann an der Wurzel zurück, bis er neben ihr auf dem kleinen Vorsprung stand. »Na schön, aber beeil dich.«

»Hast du etwa eine Verabredung einzuhalten?«, entgegnete sie und zog den Wasserschlauch aus ihrem Gepäck. Daraufhin nahm sie seinen Unterarm in die Hand und wendete ihn nach oben. Die Wunde war tief und blutete stark. Vorsichtig tröpfelte sie etwas Wasser darauf. Sie spürte, wie er sich verspannte, obwohl er nicht mit der Wimper zuckte.

Grunthor rückte näher und sah zu, wie sie ein Fläschchen öffnete, dem ein scharfer Geruch nach Essig und Gewürzen entstieg. Rhapsody befeuchtete ein sauberes Taschentuch mit der Hamamelis-Thymian-Lösung und betupfte die Wunde damit. Achmed versuchte, sich ihr zu entwinden.

»Halt still. Ich muss noch üben«, ulkte sie.

»Wie beruhigend.« Er winselte, als die übel riechende Flüssigkeit die Wunde benetzte und heftig zu brennen anfing. »Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dich auch mit einem Arm erschlagen kann, falls du es darauf abgesehen haben solltest, mich zum Krüppel zu machen.«

Rhapsody blickte zu ihm auf und schmunzelte. Ihr Gesicht war verschmiert und blutig nach dem Kampf, doch die Augen leuchteten hell. Achmed verspürte ein Stechen im Innern, so sehr er es auch zu ignorieren versuchte. Grunthor hatte Recht. Ihr Lächeln war beeindruckend.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Wunde und summte eine Melodie, die sich als ein Sirren in der Luft ausbreitete. Der Schmerz ließ nach, und ihm war, als würden helle Schwingungen von der Wunde gespiegelt.

»Hör auf damit!«, verlangte er in barschem Ton. »Das tut mir in den Ohren weh.«

Sie lachte. »Wenn ich aufhöre, ist die ganze Wirkung dahin. Das Lied hat Heilkraft.«

Rhapsody summte weiter, und aus der wortlosen Melodie wurde ein Lied. Sie sang einen Text in einer für ihn fremden Sprache.

»Oh, wie hübsch«, kommentierte Grunthor. »Ich geh mal davon aus, dass wir dieses stinkende Loch bald verlassen ham. Falls wir dann keine Arbeit finden, könnte uns Ihro Gnaden vielleicht ein paar Liedchen beibringen, womit wir dann als Troubadoure über Land ziehn. Ich seh uns schon: Schlangen-Achmed und Ochsenfrosch.«

Rhapsody hörte auf zu singen und sagte: »Gute Idee. Lasst mich raten... du, Achmed, singst Tenor.«

Als Antwort erntete sie einen mürrischen Blick. Sie nahm den Verband von der Wunde. »Ihr zwei solltet wirklich ein bisschen mehr Respekt vor der Musik haben. Sie ist sehr wirksam, als Waffe wie auch in jeder anderen Hinsicht.«

»Stimmt. Meine Singstimme ist nervtötend. Das hat man ihr schon oft bescheinigt.«

Rhapsody lachte hell auf. »Macht euch ruhig lustig. Aber es wird wahrscheinlich die Musik sein, die uns hier herausholt, Musik in der einen oder anderen Form.«

»Nur, wenn du uns mit deinem Geträllere so sehr auf den Geist gehst, dass ich dir ein zweites Paar Beine mache.«

»Musik ist nichts anderes als ein Wegweiser durch die Schwingungen, aus denen die Welt gemacht ist«, entgegnete Rhapsody. »Wer einen solchen Wegweiser hat, findet sich überall zurecht.« Sie öffnete ihre Tasche und holte eine getrocknete Blüte daraus zum Vorschein. »Erinnert ihr euch? Ihr nanntet es einen Taschenspielertrick, was natürlich nicht stimmt. Es lässt sich auch jetzt noch, nach so langer Zeit, wiederholen.« Ohne die spöttischen Blicke der beiden zur Kenntnis zu nehmen, legte sie die Blume in Achmeds Hand und sang leise deren Namen. Ihn Erwartung seiner Reaktion fing sie zu schmunzeln an.

Grunthor beugte sich über ihre Schulter und sah, wie die Blütenblätter wieder frisch wurden und sich neu entfalteten. Trotz des Gestanks nach abgestandenem Wasser und Körperschweiß war der zarte Duft der Schlüsselblume wahrzunehmen.

»Das funktioniert wohl auch nur mit Blumen, oder?«

»Nein, das klappt immer und mit allem.« Sie nahm den Verband vom Arm und sah, dass sich die Wunde geschlossen hatte und fast nicht mehr zu erkennen war. Wo soeben noch ein tiefer Schnitt geklafft hatte, zeigte sich jetzt nur noch eine dünne rosafarbene Spur, und auch die war nach einer Weile restlos verschwunden.

Sogar Achmed schien gewaltig beeindruckt zu sein. »Wie ist das möglich?«

»So etwas kann eine Benennerin gewissermaßen von Amts wegen. Nichts, kein Begriff, kein Gesetz ist so stark wie die Kraft, die im Namen eines Dings steckt. Mit dem Namen steht und fällt unsere Identität. Er ist unsere Essenz, unsere persönliche Geschichte, und manchmal kann er das, was wir sind, noch einmal machen, egal, wie sehr wir uns auch verändert haben mögen.«

Achmed warf ihr einen schrägen Blick zu. »In deinem Gewerbe lohnt sich so etwas bestimmt. Wie oft hast du deine Jungfräulichkeit schon verkauft? Wird sie von Mal zu Mal teurer?« Sie war merklich getroffen, was er sogleich bedauerte. Aus Scham legte er einen spöttischen Ton in seine Stimme und sagte: »Oh, es tut mir schrecklich Leid. Habe ich dich verletzt?«

»Nein«, antwortete sie. »Solche Bemerkungen habe ich schon allzu häufig hören müssen. Dass sich Männer immer wieder daneben benehmen und sich selbst zu Idioten stempeln, bin ich gewohnt.«

»He, he, pass bloß auf, Herzchen«, warnte Grunthor scherzhaft. »Ich hab wirklich schon lang nichts Anständiges mehr zwischen die Zähne gekriegt.«

»Na bitte, wieder so ein Beispiel«, entgegnete sie ruhig. »Männer mögen größer sein und mehr Kraft haben, was manche auch ziemlich rücksichtslos ausnutzen, wenn sie mit ihrem Verstand nicht mithalten können. Wer hat wohl die Prostitution erfunden, was meint ihr? Die Frauen? Glaubt ihr, es würde Spaß machen, wenn man tagtäglich herabgewürdigt wird? Was für eine Ironie: Nach Hurendiensten besteht eine enorm starke Nachfrage, aber ohne Not wäre kaum eine Frau dazu bereit.«

Sie betupfte nun die eigene Bisswunde mit ihrem Heilwasser und bot das Fläschchen auch Grunthor an, doch der schüttelte den Kopf.

»Die Männer wollen es so«, fuhr sie fort. »Sie gehen weite Wege und geben viel Geld aus, um ihr Mütchen zu kühlen. Die Frauen aber, die ihnen dabei zu Diensten waren, müssen sich hinterher noch deren Beleidigungen gefallen lassen, und es wird erwartet, dass sie sich schämen, obwohl es doch die Männer sind, die dazu sehr viel mehr Grund hätten. Ich kann das nicht begreifen.

Ein jeder hat Verständnis dafür, dass jemand, wenn er Hunger leidet, Mundraub begeht. Aber für eine Frau, die, aus Not oder weil ihr mit Gewalt gedroht wird, auf den Strich geht, scheint es keinerlei Nachsicht zu geben. Ganz anders steht der Mann da, der ihre Dienste in Anspruch nimmt. Nicht nur, dass er ihr seinen Dank vorenthält, er macht sich auch noch über sie lustig. Für mich steht jedenfalls fest: Ich werde keinen Mann mehr an mich heranlassen. Ihr könnt mich alle mal...«

» ... am Abend besuchen«, kicherte Grunthor, »und am Morgen, am Mittag...«

Mit einem einzigen Wort brachte Rhapsody den Riesen zum Schweigen. Er bewegte zwar noch die Lippen, doch es kam kein Laut darüber hinweg. Die Stimme versagte ihm. Erschrocken sperrte er die Augen auf und starrte auf Achmed.

Achmed streckte den Arm aus und packte sie beim Kragen.

»Was hast du getan? Ihn verzaubert? Mach das sofort rückgängig.«

Rhapsody vorzog keine Miene. »Er ist nicht verzaubert; er kann sprechen, wann er will.«

»Offenbar nich ... oh, offenbar doch. Tut mir Leid, Herzchen, ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Schon gut. Wie gesagt, mir sind schon so viele Beleidigungen zu Ohren gekommen, dass mich in dieser Hinsicht nichts mehr kränken kann.«

»Wir zwei wären die Letzten, die dir irgendwelche Vorhaltungen machen würden. Wir halten uns an die Devise ›leben und leben lassen‹. Hab ich Recht, Grunthor?«

Grunthor lachte auf und nickte dann. »Ja, leben und leben lassen, so halten wir’s. Oder besser noch: töten und aufessen. Denn vergessen wir nich, ich bin Sergeant von Beruf. Töten und aufessen gehört zu meinem Handwerk; nun, genau genommen ist es nur das Töten. Darauf folgt dann die Mahlzeit gewissermaßen als Belohnung.«

Nachdem sie auch die eigene Wunde versorgt hatte, faltete Rhapsody das Taschentuch zusammen.

»Wenn’s kein Zauberbann war, wie hast du ihm dann die Stimme genommen?«, wollte Achmed wissen.

»Ich habe das Schweigen bei seinem Namen aufgerufen«, sagte sie. »Und es hat sich dann für eine Weile eingestellt. Was macht dein Unterarm?«

»Der scheint wieder in Ordnung zu sein. Vielen Dank.«

»Gern geschehen.«

»Ich störe den artigen Wortwechsel nur ungern, aber ich finde, wir sollten uns langsam wieder in Bewegung setzen«, sagte Grunthor.

»Allerdings.« Achmed stand auf und bugsierte, was noch an toten Würmern auf dem Vorsprung lag, mit dem Fuß über den Rand. »Mir geht allmählich die Munition aus.«

Rhapsody zog den Kopf ein, um den herabfallenden Kadavern auszuweichen. Dann packte sie Blume und Kräuter zusammen und machte sich, Achmed und dem Riesen folgend, wieder an den Aufstieg, der immer noch kein Ende nehmen wollte.

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