Aus Gründen der Sicherheit verzichteten sie meist auf ein Lagerfeuer. Wenn denn mal ausnahmsweise eines brannte, rückte Rhapsody zum Schlafen möglichst nahe heran. Zwar hielt die hochsommerliche Hitze bis tief in die Nacht vor, doch war ihr der Rauch und das knisternde Holz eine tröstliche Erinnerung an ihr Zuhause, das sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
In der Nähe des Feuers veränderten sich die Stimmen, die sie im Traum hörte. Sie wiederholten nicht länger die höhnischen Worte Michaels und seiner Bande, sondern riefen glückliche Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten in die Gegenwart zurück, wenn auch nur für kurze Augenblicke. Dann schwand alle Furcht, und ihr wurde wohl ums Herz.
»Mama, erzähl mir von dem großen Wald.«
»Aber zuerst steigst du in den Waschzuber. Komm, halt dich an meiner Hand fest.« Seifenblasen schimmerten im Schein des Feuers, zogen schwebend bunte Schlieren und zerplatzten vor dem lächelnden Gesicht der Mutter.
Das Wasser war so warm wie die vom Herd geheizte Luft. »Was hast du mir diesmal ins Bad gegeben?«
»Setz dich ganz rein. Lavendel, Zitronenmelisse, Hagebutte, Schneefarn...«
»Schneefarn? Kann man den auch essen?«
»Natürlich. Was glaubst du, warum das Wasser wohl so heiß ist? Ich bade dich nicht, ich bereite eine leckere Suppe vor.«
»Ach Mama, zieh mich nicht auf. Erzähl mir doch bitte von dem Wald. Sind die Lirin, die darin leben, so wie wir?«
Die Mutter hockte sich auf die Fersen, verschränkte die bloßen Arme und lehnte sich rücklings an den Zuberrand. Ihre Miene wirkte heiter entspannt, doch um die Augen lag ein Schatten, wie immer, wenn sie mit den Gedanken in die Vergangenheit zurückkehrte.
»Im Großen und Ganzen, ja. Sie sehen uns ähnlich, ähnlicher jedenfalls als die Menschen. Allerdings haben sie eine etwas andere Hautfarbe.«
»Inwiefern?«
»Sie ist abgestimmt auf ihre Umgebung, den Wald, während unsere Hautfarbe besser zu unserem Himmel passt und den Feldern, die wir, die Liringlas, bestellen.« Mit sanftem Nachdruck löste sie der Tochter die Schleife aus dem Haar. »Wenn du im Wald leben würdest, wären zum Beispiel deine schönen goldenen Haare wahrscheinlich braun oder rostrot, so auch deine grünen Augen. Deine Haut wäre dunkler, weniger rosig. Kurzum, du würdest zwischen all den Sträuchern und Bäumen weniger schnell auffallen.« Ein Schwall warmen Wassers ergoss sich über den Kopf des Mädchens.
»Mama!«
»Entschuldige, aber was zappelst du auch so?«
»Gibt’s unter den Wald-Lirin auch kleine Mädchen?«
»Natürlich. Und kleine Jungs. Frauen und Männer, Häuser und Städte, die allerdings etwas anders sind als unsere.«
»Ob ich die wohl eines Tages zu sehen bekomme? Werde ich ein Blütejahr haben und wie du damals in den Wald gehen dürfen?«
Sie fühlte ein sanftes Streicheln über die Wange, und die Mutter blickte noch ein bisschen trauriger drein. »Wir werden sehen. Wir leben unter Menschen, Kind; hier ist unser Zuhause. Deinem Vater würde es nicht gefallen, wenn du den Gebräuchen meiner Familie folgtest und uns für so lange Zeit verließest. Und wer könnte ihm das nicht nachempfinden? Denn was sollten wir nur anfangen ohne unser Mädchen?«
»Unter den Lirin wäre ich doch sicher, oder? Sie würden mich doch nicht etwa dafür hassen, dass ich halb Mensch bin?«
Die Mutter schaute weg. »Niemand wird dich hassen. Niemand.« Sie breitete das große Badetuch aus.
»Komm, steh jetzt auf. Und Vorsicht beim Aussteigen.« Ein kühler Luftzug, das grobe Tuch auf nasser Haut. Dann das warme, weiche Nachthemd, das sie umhüllte, und die Arme der Mutter. »Setz dich auf meinen Schoß, ich will dir die Haare kämen.«
»Erzähl mir vom Wald, bitte.«
Ein tiefer, melodischer Seufzer. »Er ist weiter als das Auge reicht, unvorstellbar groß, voll von Düften und Geräuschen des Lebens. Du kannst dir im Traum nicht ausmalen, wie vielfältig allein die Farben der Bäume sind, die dort wachsen. In allen Lebewesen klingt ein Lied, das Lied des Waldes. Die Menschen nennen ihn den Zauberwald, weil ihnen vieles von dem, was darin wächst und lebt, fremd ist. Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt der heilige Ort. Falls du jemals nicht mehr weiter wissen solltest, wirst du im Wald willkommen sein, denn du bist ja von Lirinscher Abstammung.«
Das Knistern des Feuers, der flackernde Flammenschein auf dem Haar der Mutter. »Erzähl mir von Windershins Bach, vom Teich der Herzenssehnsucht und vom Graufluh. Und von dem Baum, Mutter, erzähl mir von der Sagia.«
»Du kennst die Geschichten doch besser als ich.«
»Bitte...«
Durchs Haar fahrende Finger, die kratzenden Zinken des Kamms. »Na schön, ich erzähl dir von der Sagia, und danach halten wir Andacht.
Der Große Baum wächst im Herzen des Waldes Yliessan, im nördlichen Bogen. Er ist so hoch, dass man die unteren Zweige kaum erkennen kann. Den Wipfel, der bis zum Himmel reicht, sieht nur ein Vogel.
In den Legenden heißt es, dass er genau an dem Ort steht, wo die Zeit einst ihren Anfang nahm und wo das Licht der Sterne zum ersten Mal auf die Erde traf. Die Sagia ist uralt, sie bezieht ihre Kraft aus der Zeit. Man nennt sie bisweilen auch ›Eiche der tiefen Wurzeln‹, denn ihre Wurzeln erstrecken sich bis zu den anderen Orten der Erde, an denen die Zeit ihren Anfang nahm.
Es heißt, dass die Stammwurzel die Erdachse bildet und dass sich die kleineren Wurzeln über das gesamte Inselreich ausgebreitet haben und alles, was auf ihr wächst, zusammenhalten. Zumindest trifft das auf den großen Wald zu, da bin ich mir ganz sicher. Es ist die Kraft der Sagia, die das Yliessan-Lied hervorbringt und den Wald schützt. Und nun komm, Kind, die Sonne geht schon unter.«
Kühler Abendwind, am Horizont ein Streifen tintenschwarzer Wolken; der blassblaue Himmel, darin der helle Stern, dessen Schein sich über Felder, Täler und das sanft geschwungene Hügelland legt. Dann die klare, liebliche Stimme der Mutter und der noch unbeholfene Versuch, den Klang zu imitieren. Eine einzelne Träne auf der zarten Wange der Mutter.
»Sehr schön, Kind; du lernst schnell. Kennst du den Namen des hellen Sterns?«
»Natürlich, Mama, das ist Seren. Nach ihm ist unser Land benannt.«
Der Mutter herzliche Umarmung. »Das ist auch dein Stern, Kind. Unter ihm hast du das Licht der Welt erblickt. Weißt du noch, was in unserer Sprache ›mein Leitstern‹ heißt?«
»Aria?«
»Richtig, sehr gut. Denk immer daran: Du lebst zwar in der Welt der Menschen und trägst einen Menschennamen, gehörst aber gleichzeitig auch einem stolzen, edlen Volk an, weshalb dein zweiter Name ein Lirin-Name ist. In dir klingt die Musik des Himmels, und du bist wie alle Lirin eines seiner Kinder. Seren steht am Südhimmel über dem Wald Yliessan. Sollte es dir einmal schlecht ergehen, bist du dort willkommen. Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein.«
Der Druck einer riesigen, Klauen bewehrten Hand, der scharfe Rauch eines Lagerfeuers. Kühle Morgenluft und eine tiefe Stimme, die den süßen Klang der Erinnerung übertönte.
»Herzchen? Bist du wach?«
Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein..
Rhapsody richtete sich benommen auf und griff in die Luft, als wollte sie die Erinnerung festhalten. Doch der Traum war verflogen. Tief betrübt über den Verlust, stand sie auf und klopfte den Umhang aus, der voller Grasspelzen war.
»Ja. Von mir aus kann’s weitergehen.«
Schon seit einigen Tagen lag der Lirin-Wald in Sichtweite, doch Rhapsody erkannte erst jetzt, worauf sie zuliefen.
Als er zum ersten Mal jenseits der Weiten Marschen am Horizont in Erscheinung getreten war, hatte sie gen Osten zu blicken geglaubt und den dunklen Streifen in der Ferne für die Küstenlinie gehalten. Wie das Meer breitete sich der Wald vor ihnen aus. Darüber flirrte heiße Sommerluft, die ihm eine mystische Aura verlieh. Trotz der vielen Geschichten, die sie von der Mutter her kannte, war sie auf den Anblick des mächtigen Waldes und auf den Zauber, der ihn umwehte, völlig unvorbereitet. Die drei hielten sich gerade im hohen Gras der endlosen Wiesenlandschaft versteckt, als ihr – es war um die Mittagszeit – plötzlich bewusst wurde, was es mit dem dunklen Panorama in der Ferne auf sich hatte. Unvermittelt richtete sie sich auf und starrte wie gebannt in Richtung Wald. Grunthor packte mit seiner Pranke zu und zog sie in den Schutz des Grases zurück.
»Runter mit dir! Was fällt dir ein?«
Wütend riss sie sich von ihm los. »Was fällt dir ein? Da ist doch niemand, der uns gefährlich werden könnte, und ich will den Wald sehen.«
»In Deckung«, flüsterte Achmed mit heiserer Stimme und erstickte Rhapsodys Protest im Keim. Er starrte über die Grasspitzen hinweg in westliche Richtung und hob die offene Hand, den Zeigefinger ausgestreckt. »Sie haben dich gesehen.«
In einiger Entfernung war ein leichtes Wogen im Wind auszumachen, sonst nichts. Nach einer Weile blickte Rhapsody zur Seite und sah, dass Achmed immer noch reglos auf der Stelle kauerte und mit geschlossenen Augen angestrengt in die Luft lauschte. Wieder schaute sie nach Westen, wo das Gras wogte, ansonsten aber nichts zu erkennen war, was sie hätte aufmerken lassen.
Doch dann, den Blick ein Stück weiter in südwestliche Richtung gelenkt, glaubte sie ihren Augen kaum zu trauen, als sie hinter dichtem Buschwerk gar nicht weit entfernt ein Gesicht auftauchen sah, das farblich von der Umgebung fast nicht zu unterscheiden war. Das braun-goldene Haar ging wellig und nahezu unmerklich ins hohe Gras über. Von fast gleicher Farbe war das schmale Gesicht, bei dessen Anblick Rhapsody wehmütige Erinnerungen überfielen und ihr die Kehle zuschnürten.
Die großen, mandelförmigen Augen, die hohen Jochknochen, die schimmernde, fast durchscheinende Haut, die schlanke, von Sträuchern halb verdeckte Gestalt, die langen, muskulösen Gliedmaßen – typisch Lirin. Allerdings war das Gesicht, das sie sah, deutlich dunkler als das ihrer Mutter oder der Liringlas, die ihr in der Gegend westlich von Ostend über den Weg gelaufen waren. Vielleicht gehörte dieses Wesen dem Volk der so genannten Lirinved an, einer nomadischen Zwischen-Art, die sowohl im Wald als auch auf den Feldern zu Hause war und sich nirgends auf Dauer niederlassen mochte. Nicht weit hinter der Vorhut entdeckte sie nun viele andere, die sich im hohen Gras nach Westen hinbargen. Eine Wolke rückte vor die Sonne und warf einen Schatten auf das Feld, und in dem kurzen Moment plötzlicher Dunkelheit sah sie das Funkeln einiger Dutzend Augenpaare.
Rhapsody konnte ihren Blick nicht abwenden, nahm aber am Rand des Gesichtsfeldes ein Aufblitzen von Metall wahr. Achmed hatte seine Cwellan gezogen, so lautlos, wie die Wolke sich vor die Sonne geschoben hatte. Kampfbereit hielt er die Waffe mit beiden Händen gepackt.
Grunthor hatte von ihr abgelassen und die Hand zurückgezogen, wohl, wie sie fürchtete, um seinerseits zur Waffe zu greifen. Dass ihre Wangen glühten, registrierte sie als Anzeichen aufkommender Panik, die ihr sonst nicht aufgefallen wäre, weil sie fieberhaft darüber nachdachte, wie die drohende Katastrophe abgewendet werden konnte.
Der verhüllte Mann hielt sich zurück, was sie hoffen ließ. Vielleicht hatte er ja gar nicht die Absicht zu kämpfen. Dass sich Achmed und der Firbolg, obwohl zahlenmäßig klar unterlegen, im Falle einer Konfrontation würden behaupten können, stand für Rhapsody außer Zweifel, zumal sie sich mit Entsetzen an das Blutbad erinnerte, das die beiden unter Michaels Männern angerichtet hatte. Allerdings befanden sie sich hier auf lirinschem Terrain, und ob oder wie die anderen dies zu nutzen wussten, war noch nicht abzusehen.
Offen war auch für sie die Frage, auf welche Seite sie sich schlagen sollte, wenn es hart auf hart käme. Obwohl die beiden Reisegefährten ihr das Leben gerettet und ihr nichts zuleide getan hatten, traute sie ihnen nicht recht über den Weg. Der Gedanke an das Gemetzel unter Michaels Soldaten erfüllte sie nach wie vor mit Schrecken und Argwohn gegen die beiden.
Zwar empfand sie den Lirin gegenüber eine tiefe Seelenverwandtschaft, doch war zu fürchten, dass sie in deren Augen womöglich einen Feind darstellte. Die Wälder sind schon zu sehen, hatte Achmed gesagt, nicht aber diejenigen, die sie verteidigen. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Diese Burschen gehen kein Risiko ein und fackeln nicht lange, wenn Fremde an ihren Außenposten vorbeikommen. Wie dem auch sein mochte, ihr war jedenfalls klar, dass die beiden Gefährten ohne Weiteres auf sie verzichten konnten. Ein leises Klicken im Hintergrund verriet ihr, dass Achmed die Cwellan scharf machte.
Der Wind wehte ihr das dürre Gestrüpp ins Gesicht. Sie machte die Augen zu, um sich vor den winzigen Samenkörnern zu schützen, die, wie sie wusste, jederzeit aus den getrockneten Kapseln herausplatzen mochten. Während ihrer Ausbildung als Benennerin hatte sie das Weidegras, die Futterpflanze der weiten Ebenen dieser Welt, zu botanisieren gelernt. Hymialacia war ihr wahrer Name.
Der wahre Name. Im Licht dieser Antwort verlor Rhapsody plötzlich alle Angst. Sie räusperte die Kehle, die ihr durch Hitze und Furcht ganz ausgetrocknet war, und fing zu flüstern an.
Hymialacia, sagte sie in der musikalischen Sprache ihrer Zunft. Hymialacia, Hymialacia, Hymialacia. Ihre Haut summte in Resonanz der gesungenen Töne, die auf natürliche Weise wechselnde Klangmuster und Rhythmen bildeten.
Achmed, der neben ihr kauerte, streckte seine Hand aus und legte sie ihr auf den Rücken. Die Zaghaftigkeit der Berührung ließ Rhapsody vermuten, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Sie hatte sich nämlich dem Weidegras ringsum so täuschend ähnlich angepasst wie die Lirin; mehr noch – sie war identisch mit dem Gras.
Rhapsody langte hinter sich und tastete nach Achmeds Hand.
Behutsam ließ sie ihre Finger in die behandschuhte Faust gleiten, ohne das geflüsterte Lied des Grases zu unterbrechen, das sich wie ein Refrain immer wieder aufs Neue wiederholte.
Ich bin Hymialacia. Achmed die Schlange ist Hymialacia. Ein ums andere Mal wiederholte sie ihren Namen, ließ auch den Windgesang, die Vorüberziehenden Wolken und den Namen der Stille in den Refrain mit einfließen. Achmeds Händedruck pulsierte wie ein Herz, und sie wusste, dass er sie verstand.
Wenig später flüsterte er Worte in einer ihr unbekannten Sprache, worauf sich Grunthor zu ihr umdrehte und ihr eine Aufgabe abverlangte, die ungleich schwerer war, denn sie kannte seinen wahren Namen nicht.
Nur wenige Schritte entfernt raschelte es im Gras. Die Lirin waren auf breiter Front herangeschlichen und schon fast zur Stelle. Rhapsody schloss die Augen und berührte die Schulter des Riesen.
Bühel, sang sie leise. Es war ein Wort, das sie seit ihrer Kindheit kannte, als sie mit dem Vater ausgedehnte Wanderungen über die offenen Felder und Hügel unternommen hatte. Das Wort war ihr dann wieder zu Anfang ihrer Studien der Kräuterlehre begegnet; es bezeichnete einen kleinen Hügel, einen Erdwulst.
Rhapsody sang das Namenslied unablässig weiter, auch als sie die Augen öffnete und feststellte, dass sich Grunthor in einen Grasbewachsenen Buckel verwandelt hatte, auf dem kleine Baumschösslinge wurzelten. Bühel, Hymialacia. Der Wind. Die Wolken. Hier ist nichts als das Gras der Weide. Durch die Sträucher, die vor ihr wucherten, konnte sie Beine erkennen, die in ledernen Stiefeln und Hosen steckten. Die Lirin waren so nahe, dass Rhapsody ihren Atem zu hören glaubte. Bühel, wisperte sie und kämpfte gegen das Zittern ihrer Stimme an, die zu kippen drohte. Hindernis. Tückischer Grund. Grube. Bühel.
Die näher kommenden Beine verlangsamten ihre Schritte, blieben aber nicht stehen, sondern wichen zur Seite hin aus und umgingen die Stelle, an der sich Achmed aufhielt, wie Rhapsody wusste. Von ihm selbst aber sah sie nichts, nur wogendes Gras, und sie hörte auch nichts außer ihren eigenen Gesang, das Summen von Insekten und das Rascheln unter den Füßen der Lirin. Alles, was sie spürte, war die sengende Hitze der Sonne und der Wind in ihren Haaren. Hymialacia.
Immer und immer wieder sang sie den Refrain, bis die Sonne ein ganzes Stück weiter gewandert war und ihr direkt ins Gesicht strahlte. Rhapsody zwinkerte mit den Augen. Es war Nachmittag geworden, und das Licht der Sonne fiel im stumpfen Winkel auf die goldenen Felder und das gelbbraune Gras. Das Namenlied verklang. Ihr Mund war ausgetrocknet, so verausgabt hatte sie sich, und die Stimme ließ sie im Stich.
Zur Linken teilte sich das Gras. Achmed ließ ihre Hand los und erhob sich.
»Sie sind weg, außer Reichweite«, sagte er.
Rhapsody schaute nach rechts. Vor ihren Augen reckte und streckte sich der kleine Hügel; er wuchs in die Höhe, und die Baumschösslinge verwandelten sich zurück in jene Waffen, die Grunthor in seinem Wehrgehänge auf dem Rücken trug. Was soeben noch ein begraster Erdwulst gewesen war, lächelte ihr nun breit entgegen.
»Also, das war wirklich beeindruckend, Herzchen.«
»Allerdings«, pflichtete ihm Achmed bei. »War das etwa auch ein ›erstes Mal‹ für dich?«
Rhapsody wollte gerade eine Antwort geben, als die Wolkendecke plötzlich zur Seite hin abzudriften schien. Achmeds Hand schnellte nach vorn, packte sie beim Ellbogen und half ihr, auf den Boden zu sinken. Auf dem Rücken liegend, starrte sie unter die Himmelskuppel und sah blaue Kreise darin schwimmen. »Wasser, bitte«, krächzte sie und fiel in Ohnmacht.
Wie grauer Nebel senkte sich der Abend über das Feld. Rhapsody war noch nicht wieder bei Besinnung. Still und reglos lag sie da. So tief hatten ihre Begleiter sie noch nicht schlafen sehen, denn allzu häufig wurde die junge Frau von üblen Albträumen heimgesucht, und dann warf sie sich stöhnend hin und her, gepeinigt von entsetzlichen Nachtmahren, bis sie schließlich zitternd und in Schweiß gebadet aus dem Schlaf aufschreckte. »Kein Wunder, dass sie ihr Gewerbe aufgeben musste«, hatte Grunthor einmal nach einer besonders nervenaufreibenden Nacht gesagt. »Ich schätze, ihre Freier sind auch nich zur Ruhe gekommen.«
Jetzt aber rührte sie sich nicht. Die Sonne verschwand am Rand der Welt und die Wache ging von Achmed auf Grunthor über, der zuvor damit beschäftigt gewesen war, den aus den Satteltaschen von Michaels Soldaten geplünderten Proviant neu zu verpacken.
Der Dhrakier reichte dem Bolg-Sergeanten den Wasserschlauch, nachdem er der Ohnmächtigen ein paar Tropfen daraus eingeflößt hatte, und streckte sich dann aus, um zu schlafen.
Es war schon fast dunkel geworden, als Grunthor auf eine Bewegung in der Ferne aufmerksam wurde. Angestrengt spähte er dorthin, konnte aber nichts erkennen. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück, doch der Verdacht ließ ihm keine Ruhe. Er richtete sich wieder auf und stieß den schlafenden Dhrakier an, der sofort die Augen aufschlug, sich aber sonst nicht regte.
»Ich glaub, ich hab was gesehn.«
Achmed hob den Kopf und folgte Grunthors Blick. Seine Sehkraft war der des Gefährten überlegen, vor allem unter freiem Himmel, doch er sah nichts. Er lauschte, konnte aber in der Ferne auch kein Herz schlagen hören, was ihm als sicheres Zeichen dafür gelten konnte, dass sie allein auf weiter Flur waren. Er schüttelte den Kopf.
Grunthor zuckte mit den Schultern. Achmed wollte sich gerade wieder hinlegen, als der Bolg plötzlich auffuhr.
»Da ist was, ganz bestimmt, weit weg zwar, aber es ist da.«
Achmed stand auf und stieg auf den Kamm der kleinen Bodenwelle am Rand des Lagerplatzes. Er spähte nach Norden in die Nacht, konnte aber noch immer nichts entdecken. Er wartete.
Wenige Augenblicke später sah auch er: zahllose flackernde Lichter, nur schwer auszumachen im trüben Dunkelgrau. Kaum aufgeleuchtet, waren sie auch schon wieder verloschen. Hunderte, vielleicht tausende von Lichtern, die sich in einer scheinbar endlos langen Reihe über das weite Feld nach Süden bewegten. Ein Suchtrupp?, fragte er sich. Aber wer oder was mochte so wichtig sein, dass so viele Leute danach auf die Suche gingen, nachts, im Licht der Laternen? Achmed schloss die Augen und zog die Kapuze zurück, um die Schwingungen der Herzschläge besser wahrnehmen zu können. Er hob einen ausgestreckten Finger in die Höhe, schmeckte den Windhauch mit geöffnetem Mund, um auch den schwächsten Vibrationen auf die Spur zu kommen. Doch da war nichts in der Luft, kein Herzschlag, kein Rhythmus, kein Geschmack. Nur Stille.
Er schlug wieder die Augen auf, starrte ins Dunkel und sah sie wieder: die vielen tausend Lichter, noch weit entfernt, aber unaufhaltsam in Bewegung, auf das Lager zu. Dann waren sie auch schon wieder verschwunden, abgetaucht in die Dunkelheit der Nacht.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und der Herzschlag, den er nun hörte, war sein eigener.
»Himmel«, hauchte er. Shing.
Hastig wie Krähen in Erwartung eines Sturms rafften sie ihr Gepäck zusammen, hoben die schlafende Sängerin vom Boden auf und flohen auf den großen Lirin-Wald zu.