49

»Ich muss mit dir reden, sofort.«

Am großen runden Tisch im Sitzungssaal hinter der Großen Halle blickten ein Dutzend Frauengesichter verwundert auf. Bis auf eine waren alle Frauen dunkelhäutig und stark behaart. Sie, die Ausnahme, erhob sich von ihrem Platz.

»Entschuldigt mich«, sagte Rhapsody und eilte zur Tür, die einen Augenblick zuvor wuchtig aufgestoßen worden war. Achmed unterdrückte ein Lachen. Ihr Gebrauch der bolgischen Sprache ließ noch einiges zu wünschen übrig. Sinngemäß hatte Rhapsody gerade darum gebeten, dass man sie leben lassen möge.

»Was ist?«, fragte sie und kam ihm mit besorgter Miene entgegen.

»Ich brauche den Messingschlüssel, den wir im Haus der Erinnerung gefunden haben. Wenn ich mich recht entsinne, hattest du ihn zuletzt in der Hand.«

»Wozu die Eile? Was ist geschehen?«

»Wir haben soeben in der Bibliothek eine versteckte Tür gefunden«, berichtete Achmed sichtlich erregt. »Ich glaube, dass es die sein könnte, zu der der Schlüssel passt.«

Rhapsody schien ihren Ohren nicht trauen zu wollen. »Und deswegen platzt du in meine Unterredung mit den Hebammen?«

Achmed warf einen Blick auf die Runde. Die Frauen waren fast durchweg dünn und drahtig, hatten breite, männliche Schultern. Sie starrten ihm entgegen, gleichgültig und ohne jene Ehrfurcht, die die anderen Bolg ihrem neuen König bezeugten.

Es hatte Rhapsody freudig überrascht zu entdecken, dass es diese Berufsgruppe überhaupt gab. Ihr Vorhandensein ließ einige Rückschlüsse auf den Charakter der Bolg zu, Rückschlüsse, die Rhapsody das Beste hoffen ließen. Krieger, selbst die tüchtigsten unter ihnen, waren ersetzbar und erfuhren nur wenig Pflege, nicht einmal wenn sie im Sterben lagen. Kleinkinder aber und ihre Mütter erfreuten sich der besten Fürsorge, die unter den gegebenen Umständen aufgeboten werden konnte. Hebammen waren noch höher angesehen als Stammesführer und entsprechend einflussreich. Insofern hatte Rhapsody mit ihrer Entschuldigung vielleicht gar nicht einmal so falsch gelegen.

»Ich brauche den Schlüssel«, wiederholte er ungeduldig.

Rhapsody packte ihn beim Hemdkragen, zog ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr.

»Hör zu«, zischte sie. »Sprich nie wieder in diesem Ton mit mir. Schon gar nicht vor den Hebammen. Du vergibst dir nichts, wenn du mir Respekt erweist, schließlich bist du der König. Mich aber bringt deine Unhöflichkeit in eine unangenehme Situation – aus der ich mich allerdings leicht befreien könnte. Auf deine Kosten. Also sieh dich vor. Versuch’s noch mal, und zwar ein bisschen respektvoller, oder verschwinde.« Sie stieß ihn zurück, und ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen.

Achmed lächelte. Die Sängerin schien sich in ihre neue kulturelle Umgebung einzufinden. Sie hatte seit der Ankunft der ersten Rekruten nur wenige Wochen Zeit gehabt, verstand es aber schon, die wichtigsten firbolgschen Verhaltensregeln anzuwenden und einzufordern. Achmed verbeugte sich leicht.

»Würdest du mir bitte, wenn es dir nicht allzu viel ausmacht, diesen einen Gefallen erweisen?«, fragte er laut und deutlich.

Rhapsody zeigte sich sogleich etwas milder gestimmt. »Er ist in meinen Zimmer.«

»Nein, das ist er nicht.«

Sie blinzelte mit den Augen. »Woher weißt du das?«

»Weil ich da schon nachgesehen habe.«

Wieder umwölkte sich ihre Stirn. »Wie bitte? Du hast in meinem Zimmer herumgestöbert?«

»Ich wollte dich in deinem Gespräch mit den Hebammen nicht stören«, beeilte er sich zu sagen.

»Und auf den Gedanken, ein Weilchen zu warten, bist du gar nicht erst gekommen, oder? Gwylliams Grotte ist seit vierhundert Jahren verschlossen. Hättest du nicht eine halbe Stunde warten können?«

Sie schnaubte empört. »Der Schlüssel liegt im Nachttopf unterm Bett.«

Achmed vorzog das Gesicht, was einen eher komischen als angewiderten Eindruck hinterließ. »Du lebst wirklich schon zu lange in der Barbarei. Darauf wären nicht einmal Grunthor oder ich gekommen.«

»Der Topf ist natürlich unbenutzt, du Narr. Die Latrine grenzt gleich an meine Kammer an. Bevor du das nächste Mal in meinen Schubladen kramst, frag gefälligst bei mir an.«

»Gönnst du mir und Grunthor denn kein bisschen Spaß, du herzloses Ding?« Achmed wandte sich den Hebammen zu. »Es tut mir Leid, dass ich das Gespräch stören musste. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Vielen Dank, dass ihr mir gestattet habt, meine kluge Beraterin zu konsultieren.« Er drehte sich um, verdrehte die Augen und ging.

»Hast du etwas von Grunthor gehört?«, fragte Rhapsody beim Abendessen am selben Tisch, um den sie auch mit den Hebammen zusammengesessen hatten.

Achmed schüttelte den Kopf und brach ein trockenes Brötchen in zwei Stücke. »Er hält im Hochland jenseits der Heide ein Manöver ab, eben da, wo wir das verlassene Weinbaugebiet vermuten. Vermutlich wird er sich frühestens in vier Tagen zurückmelden.«

»Und wer sind diesmal die Glücklichen, denen er seine besondere Aufmerksamkeit schenkt?«

»Die Schlitzer. Das ist ein Klauen-Klan, deren Angehörige behaupten, dass Gwylliam nie gestorben ist und unter ihnen lebt.«

»Vielleicht tut er das. Und vor kurzem ist er dann, um ein Buch zurückzugeben, in die Bibliothek gegangen, wo wir ihn gefunden haben«, witzelte Jo und pulte mit ihrem Messer zwischen den Zähnen.

»Übrigens, Grunthor meint, ich könnte das nächste Mal mit ihm gehen, wenn du nichts dagegen hast, Rhaps. Und das hast du doch nicht, oder?«

»Nein«, lachte Rhapsody. »Aber vertu dich nur nicht. Grunthor ist sehr viel gluckenhafter als ich. Wenn er glaubt, dass es sicher ist, dich mitzunehmen, werde ich dir nicht im Weg stehen.«

»Was ist bei eurem Gepräch herausgekommen?«, fragte Achmed, füllte sein und ihr Glas und reichte den Krug an Jo weiter.

»Sehr viel.« Mit strahlendem Gesicht erhob sich die Sängerin von ihrem Platz. »Augenblick, ich hole schnell meine Notizen.« Sie trat vor die Anrichte unter dem uralten Wandbehang, blätterte einen Stoß von Papieren durch und fand schließlich, wonach sie suchte. Mit gerümpfter Nase kehrte sie an den Tisch zurück.

»Achmed, das ist so nicht auszuhalten. Wie wär’s, wenn du hier ein bisschen aufräumen und renovieren würdest? Die Wandteppiche stinken.«

»Kein Wunder. Dahinter hatten unsere Vorgänger ihren Abtritt«, antwortete der Dhrakier, nahm einen Schluck aus seinem Becher und lachte laut auf, als er die Grimasse von Rhapsody sah, die sich ekelte.

»Bolg und Cymrer gleichermaßen. Auf den nahe liegenden Gedanken, Latrinen einzubauen, sind sie erst sehr viel später gekommen. Llauron mag die Cymrer für Halbgötter halten, aber du wirst dich wundern zu hören, was ich über sie herausgefunden habe.«

»Bitte, verschone mich damit, wenn es denn eben geht«, entgegnete Rhapsody und breitete das Pergament vor sich aus. »Hier also die Ergebnisse unserer Sitzung: Die Hebammen haben sich bereit erklärt, das, was ich ihnen in Sachen Heilkunst beigebracht habe, an die Klans der Region Weiterzutragen und geeignete Kandidatinnen für ihre Nachfolge auszubilden, von denen dann einige zu uns kommen, um in der Krankenstation und dem Hospiz arbeiten zu können.«

Achmed nickte. »Gut.«

»Außerdem haben wir einen Gesetzesvorschlag zum Schutz von Kindern ausgearbeitet, den du hoffentlich so übernehmen wirst und wonach der Missbrauch oder die Misshandlung von Kindern als Verbrechen zu ahnden wäre. Ich bin mir sicher, dass ein solches Gesetz von den Bolg ohne weiteres angenommen wird. Ihr Verhältnis Kindern gegenüber ist nämlich sehr viel aufgeklärter als das der ›menschlichen‹ Bürger von Roland, von denen so manche ihre Kinder mit Fußabtretern verwechseln.«

Achmed schmunzelte, sagte aber nichts. Er dachte zurück an die Szene in Bethania, als sie einen kleinen Jungen gegen seinen gewalttätigen Vater tatkräftig in Schutz genommen hatte. Als sie dem Vater auf offener Straße in die Parade gefahren war, hatte sich die Menge über sie hergemacht, aber nicht etwa, um ihr Einheit zu gebieten, sondern um sie zu berühren, gerade so, wie es die Bauern von Gwynwald getan hatten. Über ihre starke anziehende Wirkung auf andere war sie sich allerdings damals wie heute im Unklaren.

In Erinnerung an diesen Vorfall fragte sich Achmed nun zum wiederholten Mal, ob es ihm nicht auch ganz allein gelungen wäre, sie vor der zudringlichen Menge zu retten, oder ob sie die gemeinsame Flucht dem Angst erregenden Gebrüll von Grunthor zu verdanken hatten. Wie dem auch sei, bald würde Rhapsody auf seinen Wunsch hin ausgerechnet dorthin, nach Bethania, zurückkehren. Achmed schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu verdrängen.

»Habt ihr euch auch überlegt, womit sich unsere Wirtschaft beleben ließe?«, fragte er.

»Augenblick, dazu komme ich später. Zusätzlich zu dem Kinderschutzgesetz verlangen wir, dass du dich für eine faire Behandlung von Kriegsgefangenen einsetzt, für die medizinische Versorgung von Verwundeten und eine würdige Bestattung der Gefallenen.«

Der Firbolg-König verdrehte die Augen. »Mit Gesetzen und Vorschriften werden wir uns befassen, sobald Roland und Sorbold von der Gründung unseres neuen Staates in Kenntnis gesetzt worden sind. Ich möchte mit Vertretern der jeweiligen Regierung verhandelt haben, und die werden sich, wenn überhaupt, wohl erst nach deinem Besuch in Roland bei uns melden. Können wir die Sache bis dahin vertagen?«

»Ja, ich habe sie nur jetzt schon erwähnt, weil du über die Ergebnisse unserer Sitzung informiert sein wolltest. Wir haben auch mit den Planungen für eine Schule begonnen. Die Kinder, die du hast kommen lassen, werden die erste Klasse bilden. Am Ende soll für alle Schulpflicht gelten. Übrigens, du schuldest deren Eltern ein Geschenk in Form von Waffen und Lebensmitteln. So viel zur neuen Schule ... oh, und noch etwas, ich habe zwölf neue Enkelkinder.«

»Ach, du Schande«, sagte Jo, die an einem Schinkenknochen nagte und ebenso viel Appetit wie Grunthor an den Tag legte.

»Hast du was an dem Fleisch auszusetzen?«, fragte Rhapsody launig.

Laut schmachtend antwortete Jo: »Das Fleisch ist in Ordnung. Auf Kinder bin ich allerdings weniger scharf. Vielleicht erinnerst du dich, dass mir früher immer ein ganzer Schwärm um die Füße gesprungen ist.«

»Das hält wohl niemand auf Dauer aus«, stimmte Rhapsody zu.

»Firbolg-Kinder?«, fragte Achmed und biss in die andere Hälfte des Brötchens.

Rhapsody nickte. »Waisen. Sehr nett, die Kleinen. Sie sind zwar ein bisschen wild und laut, doch als Kind war ich nicht anders.«

»Aber du hast dir damals bestimmt keinen Spaß daraus gemacht, Ratten zu jagen und bei lebendigem Leib aufzuessen.«

»Zugegeben.« Rhapsody schmunzelte und schüttelte sich. »Ich hab sie trotzdem gern.«

»Wenn du dich über deine neuen Gören endlich eingekriegt hast, könnten wir uns vielleicht der Frage unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten zuwenden?«

»Aber sicher doch.« Rhapsody nahm ein zweites großes Pergamentblatt zur Hand. »Neben den Waffen und Rüstungsteilen, die unsere Schmiede produzieren, sollten wir Wein anbauen und keltern. Was dazu nötig wäre, habe ich von Llaurons Gärtnerin Ilyana gelernt. Sobald Grunthor die Gebiete jenseits der Heide unter Kontrolle gebracht hat, werde ich – wie schon nach den Kämpfen in der Schlucht – losziehen, um mich um die Kinder der Gefallenen zu kümmern. Und während ich dort bin, werde ich den filidischen Landsegen sprechen und mit meinem Gesang die Pflanzen beschwören. Das sollte helfen. Die Weinstöcke sind, soweit ich weiß, im Großen und Ganzen gesund und ertragreich. Mit der nötigen Pflege werden sie gute, süße Früchte hervorbringen.«

Achmed nickte und machte sich eifrig Notizen. »Was sonst noch?«

Rhapsody und Jo tauschten Blicke. »Wir haben etwas Interessantes über das Holz herausgefunden, das du aus dem dunklen Wald hinter der Heide mitgebracht hast.«

»Nämlich?«

Rhapsody nickte, worauf Jo vom Tisch aufstand und im Nebenraum verschwand. »Es scheint sich gut für den Möbelbau zu eignen.«

Kurze Zeit später kehrte das Mädchen zurück und reichte Achmed ein kegelförmiges Stück Holz. Seine gehobelte und polierte Oberfläche war von dunkler Tönung und hatte einen auffällig bläulichen Schimmer, gerade so wie die prächtigen Tische in der Großen Halle oder andere Möbelstücke aus der Hinterlassenschaft von Gwylliam und Anwyn.

»Aha, wirklich interessant«, murmelte Achmed und drehte den Kegel in der Hand.

»Das hat Jo herausgefunden«, verriet Rhapsody.

»Kompliment«, sagte Achmed. Das Mädchen lief bis unter die Wurzeln ihrer blonden Haare rot an und kehrte an seinen Platz zurück.

»Und nun zu meinem bescheidenen Beitrag. Erinnerst du dich an diese ekligen Spinnen, die mit ihren Fäden nicht weniger als sechs Gänge verstopft hatten?«

»Wie könnte ich das vergessen? Dein Geschrei hallt mir immer noch in den Ohren nach.«

Rhapsody schlug mit der Serviette nach ihm aus, einem Leinentuch, das sie zusammen mit anderer aufwändig bestickter Tischwäsche in einer Kupfertruhe in Gwylliams Kammer gefunden hatte.

»Lügner, ich habe nicht geschrien. Wie auch immer, wenn man deren Fäden mit Baumwolle oder Schafwolle verspinnt, entsteht daraus ein fester, dehnbarer Faden, der sich auf vielfältige Weise weiterverarbeiten lässt. Zum Beispiel eignet er sich zur Herstellung von Seilen, die nicht nur enorm strapazierfähig wären, sondern auch verblüffend leicht.« Sie holte aus ihrer Tasche ein geflochtenes Band und warf es Achmed zu, der kräftig daran zerrte.

»Hervorragend«, sagte er.

»Und mit seiner glänzenden Oberfläche ist es auch schön anzusehen. Nun, das war, was ich zu berichten hatte. Hast du mit dem Schlüssel das innere Gelass öffnen können?«

Achmed leerte seinen Becher. »Nein«, sagte er, kurz angebunden.

Rhapsody schmunzelte. »Siehst du, das hat man davon, wenn man unerlaubter Weise in meinen Schubläden herumstöbert.«

»Es ist spät geworden«, sagte Achmed mit einem Seitenblick auf Jo.

»Schon verstanden. Gute Nacht allerseits.« Das Mädchen stand auf und ging nach draußen. Die Sängerin schaute ihr nach.

»Was soll das?«, wunderte sich Rhapsody.

»Sie wird müde sein«, antwortete Achmed. Er trat vor den stinkenden Wandbehang, langte dahinter und holte eine kleine, schmuckvolle Kassette sowie ein in Leder gebundenes und mit Samt umwickeltes Manuskript zum Vorschein.

Rhapsody vorzog das Gesicht. »Igitt, ist dir kein besseres Versteck eingefallen?«

Achmed kam an den Tisch zurück. »Ausgerechnet du fragst das, die du den Schlüssel zu Gwylliams Schätzen im Nachttopf aufbewahrt hast.«

Sie holte Luft, um zu protestieren, besann sich aber eines anderen und sagte nur: »Ich dachte, der Schlüssel hätte nicht gepasst.«

»Ich wollte nicht im Beisein von Jo darüber reden.«

»Das hat sie sehr wohl registriert.« Rhapsody schluckte. »Ich kann nicht glauben, dass du ihr so wenig vertraust. Warum kannst du sie nicht leiden?«

»Ich mag sie sehr gern«, antwortete der Firbolg-König. »Aber du hast Recht, ich traue ihr nicht über den Weg. Ich vertraue den wenigsten, genauer gesagt nur zweien.«

»Gehen Gernhaben und Vertrauen nicht Hand in Hand?«

»Nein.« Achmed packte das Buch aus. »Darüber können wir uns gleich unterhalten. Ich glaube, dass dich das hier interessieren wird.« Er schlug das alte Buch auf und schob es vorsichtig über die Tischplatte zu ihr hin.

»Was ist das?«, fragte Rhapsody und blickte auf die aufgeschlagenen Seiten, die trotz sorgfältiger Aufbewahrung im Lauf der Zeit ganz ausgetrocknet, spröde und rissig geworden waren.

»Das ist eins der Dokumente, die Gwylliam geradezu heilig waren«, antwortete Achmed und lächelte leicht. »Du solltest sehen, was in der Geheimkammer sonst noch alles an Büchern und Manuskripten zu finden ist. Auch Pläne für weitere Bauvorhaben und Karten von Teilen von Canrif, die wir noch gar nicht entdeckt haben. Bücher, von Serendair mitgebracht, die gesamte Geschichte der Cymrer. Das hier scheint ein Familienregister zu sein, der königliche Stammbaum, komplett mit allen Namen, Geburts- und Todesdaten. Geschrieben übrigens in derselben Sprache, in der auch der Vertrag abgefasst worden ist.«

Rhapsody musterte die Handschrift. »Das ist wirklich Alt-Serenne, und zwar in der ursprünglichen Schreibweise, also nicht nur nachgemacht wie in dem Vertrag.«

»Wirst du daraus schlau?«

Vorsichtig blätterte sie durch die Seiten, die zwischen ihren Fingern zu zerfallen drohten. Sie las vertraute Namen der königlichen Familie, zum Beispiel den von Trinian, der vier Generationen vor Gwylliam, nämlich zu der Zeit, da sie Serendair verlassen hatte, Kronprinz gewesen war. Sie hatte die nächste Seite aufgeblättert und war den Spuren der verblassten Tinte weiter gefolgt, als ihr Gesicht mit einem Male schreckensbleich wurde.

»Was ist los?«, fragte Achmed, der auf ihre Miene aufmerksam wurde, weil das Feuer im Kamin plötzlich wie in Panik aufloderte und ihr Gesicht erhellte.

»Sieh nur, wo die Linie endet«, sagte sie und zeigte auf den letzten Eintrag. »Gwylliam und Anwyn hatten zwei Söhne. Der ältere und Erbe ist hier mit dem Namen Edwyn Griffyth vermerkt.«

»Und der jüngere?«

Sie blickte zu ihm auf, und ihre smaragdgrünen Augen funkelten im Widerschein der Flammen.

»Llauron.«

»Vielleicht sind es zwei unterschiedliche Personen, die nur denselben Namen tragen«, meinte Achmed, an Rhapsody gewandt, die an ihrem Kelch nippte und ins Feuer starrte. »Wie wahrscheinlich ist es, dass einer der beiden Söhne den Krieg überlebt hat, dem der angeblich unsterbliche Vater zum Opfer fiel?«

»Wer weiß?«, antwortete Rhapsody leise. »Ich vermute, es ist der Llauron, den wir kennen.«

»Was führt dich zu der Annahme?«

»Nicht viel. Aber er hat in seinem Gewächshaus eine faszinierende Einrichtung, die selbst im Winter dafür sorgt, dass es darin regnet wie im Sommer. Und er erzählte, dass sein Vater sie für seine Mutter gebaut habe.«

»Aber das widerspräche doch deiner Vermutung. Gwylliam hat Anwyn gehasst.«

Rhapsody warf wieder einen Blick in das Buch. »Nicht immer. Und tu nicht so; du glaubst doch auch, dass es derselbe Llauron ist.«

»Stimmt. Unabhängig davon, was man sonst noch alles über Gwylliam sagen könnte, fest steht: Er war ein Visionär und Erfinder. Davon zeugt Ylorc an allen Ecken und Enden.«

»Und Llauron ist sehr daran interessiert, dass sich die Cymrer wieder vereinen. Es hat zwar gesagt, dass er eine solche Wiedervereinigung um des lieben Friedens willen wünsche, aber jetzt frage ich mich, ob er nicht womöglich einfach nur auf Macht aus ist.«

Der Kriegsherr setzte sich auf den Rand des Tisches. »Er steht als religiöser Führer einer halben Million Gläubigen voran und lebt wie ein gut bezahlter Gärtner. Warum sollte er an die Macht drängen? Die hätte er als rechtmäßiger Erbe doch längst an sich reißen können.«

»Keine Ahnung.« Sie blätterte durch das Buch, fand aber keine weiteren Einträge. »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dieser freundliche Mann niederträchtige Absichten hegt. Als man mich zu ihm brachte, war ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, doch hat er sich mir gegenüber immer nur gütig und großzügig gezeigt. Er erinnert mich an meinen Großvater. Und jetzt stellt sich heraus, dass er der Sohn des weltgrößten Mist-Stücks ist und obendrein noch Drachenblut in seinen Adern hat. Tja, das erklärt wohl, warum er so vieles über mich wusste, ohne danach gefragt zu haben. Der Spürsinn von Drachen ist ja sprichwörtlich. Ich frage mich, was er sonst noch alles über uns weiß.«

Seufzend klappte Achmed das vor ihr liegende Buch zu. »Das knüpft übrigens sehr gut an unser Gespräch über Jo an. Du weißt ja inzwischen, dass Grunthor und ich in der alten Welt Kontakt zu dämonischen Wesen hatten.«

Rhapsody kullerte mit den Augen. »Ja.«

»Benimm dich, dein König spricht zu dir. Und ich meine es ernst. Es gibt etliche Dämonen – dazu zählen nicht nur die alten, über die wir sprechen –, die Personen an sich binden können, ohne dass diese etwas davon merken. Deshalb könnte jeder, dem wir hier begegnen, in Kontakt mit einem solchen bösen Wesen stehen und ihm dienen, wissentlich oder nicht. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Er starrte ihr so intensiv in die Augen, dass sie unwillkürlich den Blick senkte.

»Und du hast Jo im Verdacht, einem Dämon zu dienen?«

Achmed seufzte. »Nein, nicht direkt. Aber ich kann es auch nicht ausschließen. Rhapsody, du bist allzu vertrauensselig, und das ist gerade in unserer Situation bedenklich. Du adoptierst die halbe Welt, in der Hoffnung, das Zurückzugewinnen, was du verloren hast.«

Sie sah ihn wieder an und lächelte, obwohl ihr Kinn bebte. »Mag sein. Aber immerhin hat mir die Adoption eines Bruders das Leben gerettet.«

Jetzt schaute Achmed zur Seite, um ihr sein Schmunzeln zu verbergen. »Ich weiß. Nur, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Glücksfälle wiederholen? Versteh mich recht, ich habe nichts gegen Jo. Auch Grunthor scheint sie gern zu haben. Trotzdem, es wäre besser, wenn wir uns mit Vertraulichkeiten zurückhielten.«

»Besser oder sicherer?«

»Das ist dasselbe.«

»Nicht für mich«, widersprach sie energisch. »Unter solchen Umständen würde ich nicht leben wollen.«

Der Kriegsherr zuckte mit den Achseln. »Wie du meinst. Mach was du willst; es könnte nur sein, dass du so nicht lange lebst. Aber es gibt ja wahrhaftig Schlimmeres, als zu sterben. Falls ein dämonischer Geist von dir Besitz ergreifen sollte, zumal einer aus der alten Zeit, werden dir die Wochen mit Michael, dem Wind des Todes, im Nachhinein geradezu paradiesisch vorkommen.«

Rhapsody schob das Buch beiseite und stand vom Tisch auf. »Es reicht mir. Ich werde jetzt nach meinen Patienten sehen.«

Achmed biss die Zähne zusammen. Dass sich Rhapsody um verletzte Firbolg kümmerte, deren Wunden versorgte und ihnen mit ihren Gesängen Trost spendete und Mut machte, war seiner Meinung nach reine Zeitverschwendung.

»So kann man auch den Abend verbringen«, sagte er mit unverhohlenem Zynismus. »Ich bin sicher, die Firbolg wissen deine Güte zu würdigen und werden sich, wenn du einmal in Not bist, bestimmt revanchieren.«

Rhapsody furchte die Stirn. »Was soll das heißen?« Der Flammenschein schimmerte in ihren Augen und Haaren, was sich im Dunkeln fast unwirklich ausnahm.

Achmed seufzte. »Deine Mühen werden dir nicht gedankt werden. Wer sollte dir ein Lied singen, wenn du verletzt bist oder Schmerzen leidest?«

Sie lächelte. »Nun, ich bin mir sicher, das wirst du dann sein.«

Der Firbolg-König schnaubte. »Willst du nicht sehen, was in der Kassette ist?«

Sie blieb vor der Tür stehen und drehte sich um. »Nicht unbedingt. Und ganz bestimmt nicht, falls ich damit herausfinden sollte, dass Herzog Stephen für den Untergang von Serendair und die große Plage verantwortlich wäre. Noch ein paar Tage wie heute, und ich werde womöglich genauso paranoid, wie du es bist.«

Ohne auf ihre Worte einzugehen, öffnete Achmed die Kassette und holte einen in Samt gepackten Gegenstand daraus hervor: ein Hörn.

Rhapsody merkte auf. »Ist das etwa das Ratshorn? Das Instrument, mit dem die Cymrer zur Ratssitzung gerufen wurden?«

»Genau das.«

Einen Augenblick lang stand sie wie benommen da. Obwohl es Jahrhunderte nicht angerührt worden war, glänzte das Hörn wie an einem klaren Frühlingsmorgen. Die Luft ringsum schien zu vibrieren und neue, schon verloren geglaubte Hoffnung zu verbreiten.

»Und was hast du damit vor?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.

Achmed zuckte mit den Achseln. »Vorläufig nichts. Vielleicht füllen wir es mit Wein und feiern deine erfolgreiche Reise nach Roland, wenn du nächste Woche zurückkehrst. Oder wir dekorieren deinen Geburtstagskuchen damit. Wenn Grunthor und ich betrunken genug sind, werden wir damit vielleicht auch die noch lebenden Ratsmitglieder in das Amphitheater rufen und sie dann nass machen. Wer weiß? Ich wollte dir nur sagen, dass wir es gefunden haben.«

Rhapsody lachte. »Vielen Dank auch. Wie wär’s, du lernst darauf zu blasen und begleitest mich bei meinen Schlummerliedern für die Firbolg-Patienten?«

Achmed legte das Hörn in die Kassette zurück. »Bevor es dazu kommt, wird all das Wirklichkeit, was ich soeben aufgezählt habe, und noch viel mehr.«

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