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»Alles, was wir brauchen, um uns die Bolg Untertan zu machen, steckt da drin. Es ist jetzt nur noch eine Frage weniger Wochen, dass sie sich zu einem vereinigten Königreich zusammenschließen, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Und dann werden sie zur größten Macht aufsteigen, die es hier seit der cymrischen Invasion vor 1400 Jahren gegeben hat.«

Rhapsody sah den Freund schief von der Seite an. So überschwänglich hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie freute sich über seine gute Laune, verstand aber den Anlass nicht.

»Würdest du uns freundlicherweise in deine Pläne einweihen?«

Achmed zeigte auf den Tisch. »Ich habe ein solches Instrument schon früher einmal gesehen. In unserer alten Welt. Es gehörte dem Seren-König, der damit Truppenbewegungen und Migrationsströme lenken konnte. Es wundert mich nicht, dass auch Gwylliam Gebrauch davon gemacht hat. Ein sehr nützliches Instrument, findest du nicht auch?«, fragte er mit Blick auf Rhapsody, die ihn mit rätselnder Miene betrachtete.

»Tag für Tag lerne ich mehr von dir kennen, Achmed. Wir haben nun schon vierzehn Jahrhunderte miteinander verbracht, aber dass du in königlichen Kreisen verkehrt hast, ist mir neu. Wie kommt’s? Was hat dich in die Nähe des Hochadels geführt?«

»Er war immerhin ein Meuchelmörder«, schaltete sich Grun-thor ein. »Was glaubst du, von wem er die meisten Aufträge hatte?!«

Jo staunte nicht schlecht. »Du warst ein berufsmäßiger Mörder?«

Er achtete nicht auf das Mädchen und sagte, an Rhapsody gewandt: »Dieses Instrument wird uns zeigen, wo sich die größten Gruppen der Bolg aufhalten und auf welchen Wegen sie umherziehen. Für den Anfang nehmen wir einen kleinen nomadischen Stamm ins Visier, aus dem sich eine Eliteeinheit machen ließe. Wenn wir damit erst einmal ein paar Siege errungen haben, wird sich sehr schnell herumsprechen, dass es sich allen anderen empfiehlt, möglichst schnell auf unsere Seite überzuwechseln.«

»Siege? Das hört sich bei dir so einfach und sauber an. Es geht doch um Schlachten, oder?«

Achmed schnaubte. »Wohl kaum. Um kleine Scharmützel, wenn’s hochkommt. All diese kleinen Stämme, die seit Jahrhunderten isoliert sind, werden gar nicht imstande sein, ernst zu nehmende Gegenwehr zu leisten. Als ich mich in Bethe Corbair umgesehen habe, ist mir zu Ohren gekommen, dass die in Bethania stationierten Streitkräfte von Roland alljährlich unter der Parole ›Frühjahrsputz‹ zu brutalen Einsätzen ausrücken. Sie überfallen grenznahe Firbolg-Siedlungen, brennen ihre Hütten nieder und töten alle, die ihnen dabei in die Quere kommen, auch Frauen und Kinder.« Er ignorierte das Entsetzen in Rhapsodys Gesicht. »Was glaubst du, durch welche typische Eigenschaft der Bolg diese Überfälle begünstigt werden?«

»Durch ihre Dummheit?«

»Ganz und gar nicht. Die Bolg sind nämlich in Wirklichkeit ziemlich clever. Sie opfern einige wenige Schwache und Kranke aus ihren Reihen, um das orlandische Heer davon abzuhalten, tiefer in ihr Land vorzudringen – das die Bolg übrigens ›Ylorc‹ nennen. Jahr für Jahr bauen sie die verwüsteten Ortschaften wieder auf, in denen dann einige Unglückliche ihren Kopf hinhalten müssen. Die starken Männer von Roland kommen pünktlich jedes Jahr herbeigeritten, metzeln wehrlose Opfer nieder und reiten als tüchtige, siegreiche Krieger, für die sie sich halten, wieder heim.«

»Und dem willst du ein Ende setzen, wenn ich dich recht verstehe«, folgerte Rhapsody.

»Natürlich.«

»Diese Schweine«, murmelte Jo. »Ihr könnt mit mir rechnen. Es wird mir ein Vergnügen sein, diesen Miststücken das Fell über die Ohren zu ziehen.«

»Papperlapapp«, fuhr ihr Rhapsody in die Parade. »Achmed, wenn ich dich so reden höre, muss ich annehmen, dass du davon ausgehst, wir vier könnten uns hunderttausend Bolg Untertan machen.«

»Exakt.«

»Falsch, denn die Chancen stehen noch schlechter, nämlich drei zu hunderttausend, weil Jo dabei nicht mitmachen wird.«

»Wer hat dich denn gefragt?«, blaffte Jo. Ihr Gesicht war rot vor Wut. »Dieses verfluchte Bemuttern muss aufhören, Rhaps. Ich bin auf der Straße groß geworden und kein Kind mehr. Besten Dank auch, aber ich kann auf mich selbst aufpassen. Und jetzt hör mit dem Geglucke auf, sonst steck ich noch dein Haar in Brand.«

»Damit kannst du ihr nich dröhn«, erwiderte Grunthor. »Du weißt doch, mit Feuer kommt sie bestens klar. Aber ich könnte mir was Besseres für dich einfallen lassen, wenn sie keine Ruhe gibt.« Und mit verschmitztem Blick auf Rhapsody: »Lass gut sein, Euer Liebden. Sie hat verblüffend viel Ähnlichkeit mit ’nem anderen kleinen Mädchen, das ich mal kannte«, sagte er augenzwinkernd. Rhapsody konnte nicht anders und lachte.

»Na schön«, gab sie klein bei und nahm Jo in den Arm. »Du machst ja am Ende doch, was du willst. Wie soll’s jetzt weitergehen?«

»Zuerst einmal wird Jo die Krone rausrücken und alles andere, was sie sich heimlich in die Tasche gesteckt hat.«

»Was?« Rhapsody trat einen Schritt zurück und schaute ihr in die Augen, die trotzig und verlegen zugleich dreinblickten. Tatsächlich war die Krone, die soeben noch auf dem Tisch gelegen hatte, verschwunden, und auch der Leiche fehlte inzwischen alles, was irgendwie von Wert war.

Grunthor streckte die offene Riesenpranke aus und mimte auf ernst. Dass ihm das nicht recht gelingen wollte, fiel nur Rhapsody auf, nicht aber dem Mädchen, das mit zu Boden gesenktem Blick die Krone herausgab.

»Und jetzt noch den Rest, junge Frau«, sagte der Firbolg. Zögernd langte Jo in ihre Tasche und brachte eine Hand voll Schmuckstücke daraus zum Vorschein.

»Ist das wirklich alles?«

Das Mädchen nickte.

»Von wegen.« Achmeds Hand schnellte nach vorn und riss Jo die Tasche von der Weste, die Rhapsody ihr in Bethe Corbair gekauft hatte. Rhapsody wollte gerade wütenden Protest erheben, doch als sie einen Goldring aus der Tasche zu Boden fallen sah, wo er klirrend in immer kleiner werdenden Kreisen ausrollte, verschlug es ihr die Sprache.

Achmed bückte sich, um den Ring aufzuheben.

»Du kannst schlecht rechnen, Josephine«, sagte er und sprach den ihr verhassten Namen aus. »Dafür hättest du dir in Bethe Corbair ein gutes Pferd oder zwei Morgen Land kaufen können. Aber jetzt kostet es dich weit mehr. Denn du hast um den Preis meines Vertrauens gelogen. Niemand macht dir hier irgendetwas streitig, aber alle Sachen, die wir hier finden, sind erst einmal Indizien, aus denen wir schlau werden müssen, wenn wir denn überleben wollen. Schön, dass du für dich selbst sorgen kannst, aber es macht dich zu einer Gefahr für die Gruppe. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass ich riskieren könnte, ein ungezogenes Gör bei mir zu haben, das sich nicht an die Regeln halten will. Morgen wirst du eines der Pferde nehmen und nach Bethe Corbair zurückreiten.«

»Und ich werde dann mit ihr gehen«, sagte Rhapsody, um Fassung bemüht, was ihr noch schwerer fiel, als sie der Schwester ins Gesicht blickte und sah, wie ihr trotz der tapferen Miene, die sie aufgesetzt hatte, Tränen in den Augen standen. »Und bitte lass Jo so lange in Frieden. Ich möchte nicht, dass du weiter auf ihr herumhackst.«

Achmed zeigte sich ungerührt. »Du willst dich von uns trennen? Ihr zuliebe?«

»Wenn es denn sein muss.«

»Warum?«

Rhapsody blickte von dem zitternden Mädchen in Achmeds ausdrucksloses Gesicht. »Weil sie mich nötiger hat.«

»Nun mal halblang«, mischte sich Grunthor ein. »Es wird wohl noch ’n bisschen dauern, bis sie sich an unsere Gesellschaft gewöhnt hat und daran, dass sie nich mehr auf der Straße ist. Hab ich Recht, Herzchen? Ich verbürge mich für sie; sie wird das nich noch mal tun. Stimmt’s, Jo?«

»Und wir könnten sie außerdem von der Bibliothek fern halten. Sie wird dann so lange das Lager hüten müssen«, schlug Rhapsody vor.

»Es tut mir Leid«, flüsterte Jo und lenkte die erstaunten Blicke der anderen auf sich, die ihren Ohren kaum trauen mochten.

»Und? Geben wir ihr noch eine Chance, Achmed?«

»Ich bin wohl überstimmt. Also gut. Vielleicht ist es ein Fehler, aber diesmal will ich noch ein Auge zudrücken. Du bist mir allzu unbesonnen und ziemlich eigensinnig, Jo. Aber das liegt wohl in der Familie.« Er warf einen Blick auf Rhapsody, die schmunzelnd auf ihre Schuhspitzen blickte. »Und damit eines ganz klar ist: Noch mal lasse ich mich nicht rumkriegen. Wenn du nicht mit uns am selben Strang ziehen willst, bist du draußen. Ich habe keine Lust, deiner albernen Alleingänge wegen mein Leben aufs Spiel zu setzen – oder das von Grunthor oder Rhapsody. Das bist du nicht wert.«

»Jetzt reicht’s aber«, sagte Rhapsody. »Sie hat’s verstanden.«

Achmed sah die Sängerin an und sagte auf Bolgisch: »Denk an meine Worte. Wir werden’s noch bereuen.«

»Seltsame Worte von jemandem, der möchte, dass ich ihm helfe, vier Leute gegen ein ganzes Heer von Bergungeheuern ins Feld zu schicken«, entgegnete Rhapsody, legte dem Mädchen einen beschützenden Arm um die Schulter und führte sie zu einem Stuhl. »Alles in Ordnung mit dir?«

Jo nickte. Sie hatte die Zähne so fest aufeinander gebissen, dass die Kiefermuskeln bebten.

»Setz dich und halt dich für eine Weile zurück. Achmed kann sehr ruppig sein, aber er versucht nur, unser Überleben zu sichern.«

»Das sehe ich ja ein«, murmelte Jo. »Aber im Augenblick gehst du mir auf die Nerven. Bitte, lass mich allein.«

Gekränkt kehrte Rhapsody zu den beiden Firbolg zurück, die sich vor dem steinernen Tisch berieten.

»Die Gruft muss da drunter sein«, sagte Grunthor und zeigte auf die Mitte des Tisches.

»Aber wie verrücken wir den?«

»Darüber können wir uns später Gedanken machen. Aufgepasst!« Achmed legte seine Hand auf die gläserne Kuppel, und wieder fing der Kristall zu glühen an. Auf dem Tisch darunter flammten, mal hier, mal da, einzelne Lichtflecken auf. Was Rhapsody ein großes Rätsel war, schien Achmed und Grunthor bekannt zu sein, ja, sie fachsimpelten darüber.

Rhapsody warf einen Blick zurück auf Jo, die mit verschränkten Armen dahockte und vor sich auf den Boden starrte. Als sie sich wieder den beiden Bolg zuwandte, hatten diese allem Anschein nach eine Entscheidung getroffen.

»Wir müssen noch ein paar Untersuchungen anstellen«, sagte Achmed und zog seine Handschuhe über. »Ich schlage vor, ihr, du und Jo, wartet hier und seht euch in der Bibliothek ein bisschen um. Vielleicht findet ihr das eine oder andere Manuskript, das uns weiterhelfen könnte. Die Bolg haben diese Tür nie geöffnet; wenn wir sie nur anlehnen, wird wahrscheinlich niemand merken, dass sie offen ist.«

»Und wenn doch? Was, wenn sie kommen und wir hier in der Falle stecken?«

»Nun, du hast ein hübsches Schwert, und unser Backfisch brennt doch geradezu darauf, sich zu schlagen. Ihr werdet euch schon zu wehren wissen.«

»Du bist ja rührend um uns besorgt«, antwortete Rhapsody spöttisch und sah sich wieder nach dem Mädchen um.

»Wir werden nicht allzu lange weg sein. Grunthor hat sich schon davon überzeugt, dass die Tür auch von innen zu öffnen ist. Wenn wir aber in ein oder zwei Tagen immer noch nicht wieder...«

»In ein oder zwei Tagen?«

» ... da sein sollten, kehrt nach Bethe Corbair zurück. Es wird euch an nichts mangeln. Da gibt’s doch diesen großen Markt, wo ihr euch nach Herzenslust bedienen könnt.«

»Du bist ein Ekel«, entgegnete Rhapsody und sah aus den Augenwinkeln Grunthor schmunzeln. Der Riese ging auf das Mädchen zu, das immer noch starr und steif auf dem Stuhl hockte.

»Halt die Ohren steif, junge Frau, und sieh dich gründlich um. Vielleicht findest du was, das wir gebrauchen könnten.«

»Ja, ja«, antwortete Jo. Grunthor tätschelte ihr den Kopf und verabschiedete sich von Rhapsody mit herzlicher Umarmung.

»Bis bald, Gräfin«, sagte er und folgte dem Schatten, der schon lautlos durch die große Steintür nach draußen geschlüpft war.

Geflüster in uralten Gängen.

»Nachtmann. Hat Brax-Auge und Klauen-Grak mit Himmelsfeuer tot gemacht.«

»Und hat Frau von Grak ein Schlitzeisen gegeben. Jetzt trägt sie sein Kind.«

Die Bolg sahen sich hektisch um, ängstlich, auf das Schlimmste gefasst.

»Vielleicht ist er hier. Das Blut von Nachtmann ist Dunkelheit.« »Nachtmann kommt, um Bolg zu töten?« »Nein, Nachtmann ist Bolg. Vielleicht Bolg-Gott.« »Vielleicht will er Feuerauge stürzen. Und den Geist.« Es blieb eine Weile still. Dann wurde ein Gedanke ausgesprochen, dem alle beieinander kauernden Bolg kopfnickend beipflichteten. »Viel Blut wird fließen.«

Als die beiden fort waren, machten sich Rhapsody und schließlich auch Jo daran, die Bestände der Bibliothek zu sichten. Als Erstes sahen sie das Kartenmaterial und die Fahrtenbücher durch, die Gwylliam während seiner Reise von der Versunkenen Insel in die neue Welt angelegt hatte. Rhapsody las Auszüge daraus vor und übersetzte aus dem Alt-Cymrischen.

Beim Abschreiten der Regale wurde ihnen das Ordnungssystem deutlich, das dem Grundriss entsprach und der Überzeugung Gwylliams folgte, wonach das Sechseck die Stabilste aller architektonischen Formen sei. Außerdem fanden sie eine zweite Tür. Ihre Bedenken waren schnell zerstreut, und so beschlossen sie, nicht erst auf Achmed und Grunthor zu warten, sondern den Raum dahinter auf eigene Faust zu erkunden.

Unter Aufbietung aller Kräfte wuchteten sie die schwere Steinplatte auf und traten in einen Tunnel, der über eine Treppe hinab in eine Höhle führte, die voller rostiger Maschinen stand; Maschinen mit großen Schwung- und Getrieberädern, langem Gestänge und endlosen Rohrleitungen, und das in einer Menge und Vielfalt, dass der ganze Marktplatz von Bethe Corbair damit hätte gefüllt werden können.

»Wozu soll das wohl gut sein?«, flüsterte Jo. »Was meinst du?«

»Das weiß ich auch nicht genau«, antwortete Rhapsody und blätterte durch ein Manuskript, das sie aus der Bibliothek mitgenommen hatte. »Aber ich glaube, dies hier war die zentrale Belüftungsanlage.«

Jo war schon über ein paar Steinstufen vorausgegangen und bestaunte ein riesiges Zahnrad, dessen einzelne Zacken größer waren als ihre Hand. »Die was?«

»Wenn mich nicht alles täuscht, war das die Anlage, mit der die Atemluft im Berg umgewälzt wurde. Und es scheint, dass sie schon eine Weile außer Betrieb ist, denn sonst wär’s hier nicht so stickig.«

Ohne ihren staunenden Blick von dem imposanten Maschinenkomplex abzuwenden, fragte Jo: »Wie hat sie funktioniert?«

»Keine Ahnung. In seinen Schriften prahlt Gwylliam immer wieder damit, dass er es geschafft hat, den Berg mit Frischluft und Wärme versorgen zu können. Die Festung hier im Massiv der Zahnfelsen war sein Hauptquartier. Hier hatte er seine Große Halle, den Thronsaal und all die Verteidigungsanlagen, mit denen er die feindlichen Streitkräfte auf Abstand hielt. Ich muss schon sagen, das alles ist sehr beeindruckend. Das Belüftungssystem hat den Berg für diejenigen Cymrer, die es hierher zwischen die Zahnfelsen verschlagen hatte, erst bewohnbar gemacht.«

»Wie bitte? Ich dachte, dass sich alle Cymrer Gwylliams hier im Gebirge niedergelassen hätten.«

»Tatsächlich haben die meisten Cymrer von Canrif jenseits der Zähne gewohnt, nämlich auf der von Gwylliam so genannten Verdorrten Heide – was immer das heißen soll. Jedenfalls ist diese Landschaft so groß, dass man sie nicht einmal von den Gipfeln der Felsen aus überblicken kann. Ich zeig dir, wenn wir wieder in der Bibliothek sind, ein Buch, darin ist dieses Land beschrieben.«

»Das wird nichts nützen«, antwortete Jo mit Blick auf das still stehende Getriebe aus Stein und Metall, das im Dunkeln geradezu gespenstisch wirkte. »Ich kann nicht lesen.«

Rhapsody nickte. »Das habe ich mir gedacht. Ich würde mich freuen, dir Unterricht geben zu können. Auch Grunthor hat von mir lesen gelernt.«

»So, so.« Jo stieg über die in den Fels gehauenen Stufen weiter nach unten.

»Komm, wir sollten lieber wieder kehrtmachen«, drängte Rhapsody. »Warten wir mit der Erkundung dieser Höhle, bis die beiden zurück sind.«

Das Mädchen seufzte enttäuscht, folgte aber der Schwester ohne Widerworte in die Bibliothek zurück. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, als Achmed und Grunthor sichtlich erschöpft wieder aufkreuzten. Grunthor hatte sich eine kleinere Verletzung an der Hand zugezogen, die Rhapsody sofort verarztete, obwohl er eine solche Behandlung übertrieben fand. Ansonsten waren die beiden mit dem Ergebnis ihrer Erkundigungen sehr zufrieden.

»In der Ruinenstadt wohnen noch welche«, berichtete Achmed, während sie zu Abend aßen. »Die Cymrer heißen bei denen übrigens Willums.«

»Interessant«, sagte Rhapsody. »Dann scheint Gwylliam ja bei manchen noch in guter Erinnerung zu sein.«

»Dachte ich mir doch, dass dir das gefällt, Rhapsody. Wie dem auch sei, die Stämme sind über das ganze Bergland und bis tief in das alte Cymrerreich hinein verstreut. Wir haben nur ein paar kleinere Sippschaften vorgefunden.«

»Ja, wir sind auf etliche Klauen und Augen gestoßen; aber Beuschel warn keine dabei«, führte Grunthor mit vollem Mund aus.

»Klauen und Augen? Beuschel? Wovon redest du?«

»Das sind Beinamen der hiesigen Bolgstämme. Die so genannten Klauen zeichnen sich vor allem durch ihre Kämpfer, Jäger und Räuber aus. Auf die haben es die Truppen aus Roland ganz besonders abgesehen. Die Augen sind – der Name sagt es schon – die Späher. Sie halten sich meist auf Berggipfeln auf, die die Steppe im Westen oder die Heide im Osten überblicken. Sie sind schlanker und weniger muskulös als andere Bolg und leben vor allem von Aas. Die Beuschel schließlich wohnen tief im Berg oder an anderen versteckten Orten des Landes. Wir konnten kaum etwas über sie herausfinden, nur so viel: Sie zählen zu den am meisten gefürchteten Stämmen. Meist bleiben sie unter sich und zurückgezogen. Aber wehe, wenn sie rauskommen. Die einzelnen Oberhäupter verkörpern den jeweiligen Typ ihrer Sippe. Übrigens, wir haben jetzt selbst ein paar Klauen in unseren Reihen: eine kleine Meute mit dem Namen Nachtpiraten.«

»Wie bitte?«

Grunthor grinste und zeigte dabei seine gefährlich spitzen Hauer. »Ja, unser Kriegsherr hier – so wird er seit neuestem genannt – hat jetzt seine kleine Leibgarde.«

»Kriegsherr?«, hakte Rhapsody nach.

»Hört sich doch besser an als ›Nachtmann‹, oder? So hat man mich hier zuerst genannt«, erklärte Achmed, nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte.

»Hätte man mich gefragt, würdest du Obertort heißen«, warf Jo ein.

Rhapsody verkniff sich ein Schmunzeln. »Wo sind diese... diese Nachtpiraten jetzt?«

»Gefesselt in einem der unteren Gänge.«

Sie ließ vor Schreck ihr Brot aus der Hand fallen. »Gefesselt? Werden nicht andere Bolg über sie herfallen?«

»Möglich, aber die Nachtpiraten gelten weit und breit als die mit Abstand gefährlichste Bande. Ich glaube kaum, dass andere es wagen würden, den Zorn derer auf sich zu lenken, die die Piraten überwältigt und an die Kette gelegt haben.«

Achmed sollte Recht behalten. Zwar kamen andere Bolg an den gefangenen Piraten vorbei, doch niemand versuchte, sie zu attackieren, geschweige denn zu befreien. All das war auf dem großen Marmortisch unter der Halbkugel zu beobachten. Achmed machte die beiden Frauen auf jene Lichter aufmerksam, die für seine Gefangenen standen, und auf das Flackern, das die Bewegungen der fremden Besucher markierte.

Jo hatte eine Entdeckung gemacht, durch die sie in Achmeds Einschätzung einiges an Wert dazugewinnen konnte. Sie war es, die herausfand, welchem Zweck die anderen Geräte dienten. Der über dem Tisch von der Decke hängende Schlauch war ein Sprachrohr, das es dem Anwender möglich machte, alle oder wahlweise auch nur bestimmte Höhlentrakte akustisch zu erreichen. Was da neben dem Tisch aus dem Boden ragte, war das Gegenstück dazu, nämlich ein Hörrohr, mit dem Signale aus allen Ecken und Winkeln direkt in die Bibliothek geleitet wurden.

Beide Geräte waren mit dem Ventilationssystem verbunden, jenem weit verzweigten Netz aus Schächten und Kanälen, das die ganze Bergfestung durchzog und für frische Atemluft sorgte. Wenn in den kalten Monaten geheizt werden musste, wurde ein Teil der zugeführten Luft durch Gwylliams große Esse im tiefsten Innern des Gebirges umgeleitet.

In dieser längst stillgelegten Schmiede waren früher enorme Mengen an Stahl, Bronze und anderen wertvollen Metallen gegossen und zu den edelsten Waffen und Rüstungsteilen weiterverarbeitet worden, die die Welt damals gekannt hatte.

Achmed hatte aus verschiedenen Vitrinen eine Auswahl an Waffen gesammelt und diese nun auf einem der langen Arbeitstische nebeneinander gelegt. Rhapsody kam dazu, als Grunthor liebevoll mit der Hand über eines der Schwerter fuhr, und weil er so traurig dreinblickte, legte sie ihm zum Trost eine Hand auf den Arm.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

Grunthor schaute auf sie herab und lächelte matt. »Ach, nichts Besonderes, Herzchen.«

»Fehlt dir die Truppe?«

»Nein, wir werden wohl bald wieder eine neue zusammengestellt ham. Ich dachte nur: Mann, was für ’ne Verschwendung das alles ...«

Rhapsody seufzte. Ihr war etwas ganz Ähnliches durch den Kopf gegangen, und es schmerzte sie zu sehen, wie weit es die Cymrer, ihre einstigen Landsleute, ja vielleicht die Nachkommen der eigenen Familie gebracht hatten.

In den zurückgebliebenen Anlagen und Erzeugnissen sah sie das Lebenswerk von Handwerkern, Ingenieuren, Architekten, Zeichnern und Bauarbeitern, die Überragendes geleistet hatten, Männern und Frauen mit großen Visionen und Fähigkeiten. Doch was von ihnen aufgebaut worden war, war schließlich törichten Machtgelüsten geopfert worden.

»Nimm’s nicht so schwer, Grunthor«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Stell dir vor, was Gwylliam für Augen machen würde, wenn er erführe, dass all seine ausgeklügelten Installationen und Waffen bald in den Händen der Bolg sein und dem Aufbau ihrer Zivilisation dienstbar gemacht werden. Gwylliam würde sich sicher im Grab umdrehen.«

Der Sergeant schmunzelte. »Wenn das da drüben seine Leiche ist, können wir ja nachhelfen, bis er eine so hohe Umdrehungszahl erreicht, dass die ganze Maschinerie wieder zu laufen anfängt.«

Achmed hatte schon eine weitere Bolg-Gruppe ins Visier genommen, die er für sich zu rekrutieren gedachte. Die zur Augen-Sippschaft zählenden Dunkeltrinker waren flinke Räuber, die im Schatten der Berge einsamen Wanderern oder kranken, schwachen Bolgbrüdern auflauerten.

Diesmal machten sich alle vier auf den Weg durch die Tunnel. Sie stöberten die Gesuchten auf und schlugen entschlossen zu mit dem Ergebnis, dass Achmed schon nach einer Stunde eine Gruppe gefügiger Späher um sich scharen konnte.

»Ich will, dass ihr folgende Nachricht verbreitet«, befahl der neue Kriegsherr denen, die den Kampf überlebt hatten. »Der König der Ylorc ist zum Berg gekommen. Wer ihm dienen möchte, soll sich bei Vollmond, heute in zehn Tagen, in der Schlucht jenseits der Zahnfelsen einfinden. In drei Tagen werdet ihr mich einatmen spüren, kalt wie Winterwind. So lade ich euch vor. Am Tag darauf werde ich ausatmen, und wieder werdet ihr es spüren, diesmal als einen warmen Wind. Kommt zur Vollmondnacht in die Schlucht. Wer der Vorladung nicht Folge leistet, wird am elften Tag von den Flammen in meinem Bauch verzehrt werden.« Als sie diese Worte hörten, blinzelten die zerlumpten Höhlenbewohner nervös mit den Nachtaugen.

Tief im Verborgenen Reich erwachte der Bolg-Schamane in der Dunkelheit seiner Höhle. Die aufspringenden Augen schmerzten an den Rändern, ja, bluteten sogar ein wenig, als er langsam zur Besinnung kam.

Seine Vision nahm Formen an. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, sich aufzurichten und die Hände vor den Kopf zu schlagen, ehe sie über ihn kam wie ein Sturmwind.

Da war etwas ins Gebirge gekommen. Wie ein dumpfes Summen tönten Stimmen, die unter den Augen-Klans laut wurden und von einem Mann berichteten, der sich in Finsternis hüllte. Doch es waren nur bruchstückhafte Informationen, die den Weg bis in das Land weit hinter den Zahnfelsen fanden.

Saltar, den die Bolg Feuerauge nannten, legte seine Hände auf die Brust und konzentrierte sich auf seine Vision, doch sie blieb unklar. Die Bilder waren ihm zwar auf seltsame Weise vertraut, ergaben aber keinen Sinn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten und wachsam zu sein.

»Clever von dir, mit deinem mächtigen Atemzug zu drohen, bevor nicht klar ist, ob diese Kiste auch tatsächlich wieder in Gang gebracht werden kann«, murmelte Rhapsody. Sie saß auf Grun-thors Schultern und versuchte, einen der Getriebehebel zu bewegen.

Sie befanden sich tief im Innern von Gwylliams Belüftungsanlage. Dank der gefundenen Pläne und Skizzen war es ihnen nach mühevoller Suche gelungen, die Einzelteile der Anlage und deren Funktionsweise zu unterscheiden. Dann hatten die Männer draußen im schroffen Fels gefährliche Kletterpartien unternehmen müssen, um die in Jahrhunderten der Vernachlässigung mit Geröll verstopften Ausgänge der Belüftungsschächte frei zu bekommen. Böiger Wind heulte über sie hinweg, zerrte an ihren Kleidern, und immer wieder drohten sie in den Abgrund zu stürzen.

Die Belüftungsanlage war aus dem gleichen sonderbaren Material gebaut worden, das Achmed und Grunthor auch schon in der Kathedrale von Avonderre bestaunt hatten, einem Metall, das einfach keinen Rost ansetzte, auch nach Jahrhunderten nicht. Die Maschinerie schien darum im Großen und Ganzen noch betriebsbereit zu sein, abgesehen davon, dass manche Getriebeteile blockiert und einige Passstücke undicht geworden waren.

»Selbst wenn wir diese Hebel wieder gängig gemacht haben, heißt das noch lange nicht, dass die Maschine auch läuft, wenn wir sie brauchen«, warnte Rhapsody von ihrem Hochsitz auf den Schultern des riesigen Firbolg herab. »Es könnte jederzeit an irgendeiner anderen Stelle haken.« Tatsächlich waren Teile, die auf Anhieb funktioniert hatten, bei einem zweiten Probedurchgang festgefahren.

»Das ist das letzte Ventil. Wenn du den Hebel umlegen kannst, wird das gesamte System offen sein. Und das nach nur zwei Tagen Arbeit. Nicht schlecht, oder?«, sagte Achmed, der, von Jo unterstützt, die Lager einer riesigen Kurbelwelle schmierte und dann ein letztes Mal die Sicherheitskette prüfte.

»Wie sieht’s bei euch aus?«

»Versuchen wir’s«, sagte Rhapsody zu Grunthor. Der Riese nickte, hob sie von den Schultern und zog dann mit einem kräftigen Ruck am Hebel. Die damit verbundene Klappe ging knirschend auf.

»Prima. Und jetzt schnell wieder zumachen«, sagte Achmed. »Wir wollen unseren ›Atem‹ noch ein bisschen anhalten.«

Am nächsten Morgen stieg aus dichtem Nebel die Sonne über den Zahnfelsen auf. Gerade als sie hinter der Gipfelkette zum Vorschein kam, wurde im Berg ein gewaltiges Kreischen laut. Es klang, als wäre ein Riesenschwert an einen gigantischen Schleifstein gelegt worden. Wenige Augenblicke später zog ein eisiger Wind durch die Tunnel von Canrif. Heulend drang er bis in die letzten Winkel vor und stürmte mit der Kraft eines Orkans über die Bolg hinweg, die in den Höhlen hausten.

Deren Schreckensschreie gellten durch den ganzen Berg und waren sogar noch in der tiefen Schaltzentrale zu hören.

»Es reicht, Achmed«, sagte Rhapsody mit besorgter Miene. »Wir wollen schließlich nicht, dass sie erfrieren.«

Achmed nickte, worauf Grunthor und Jo die Außenventile wieder zusperrten. Dann verschlossen sie auch noch die anderen Teile der Anlage, während Achmed und Rhapsody über die Treppe nach oben zum Sprachrohr eilten.

»Das mit der Lüftung wird doch so nicht bleiben, oder?«, fragte Rhapsody unterwegs. »Denn dann hätten wir Canrif in kürzester Zeit leer gefegt.«

»Nein. Die Luftverhältnisse zwischen innen und außen müssen sich nur erst richtig einpendeln. Übrigens, ab sofort heißt Canrif nicht mehr Canrif, sondern Ylorc. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Gwylliams Zeitalter liegt über tausend Jahre zurück.«

Als sie den steinernen Tisch erreicht hatten, zog Rhapsody ihre Lerchenflöte aus der Tasche. Sie hatten sich am Vorabend darauf verständigt, dass es besser sein würde, Achmeds rauer Flüsterstimme einen schrilleren Ton zu unterlegen, damit seine erste Ansprache den Zuhörern im Berg noch mehr Furcht einflößte.

Sie begann mit einer schaurigen Melodie, die den Ton in der Stimme des Dhrakiers vorwegnahm und verzerrte. Auch die heulenden Winde, das Geschrei und Jammern der Bolg fand darin Ausdruck. Achmed führte das Rohr an den Mund und hob zu sprechen an:

»Morgen atme ich aus. Es wird ein einziger Luftschwall sein, der euch mein Herz spüren lässt, einen kurzen Moment nur, denn ihr sollt nicht verbrennen. Wer, wenn Vollmond ist, zu mir in die Schlucht kommt, wird an der neuen Macht von Ylorc Anteil haben. Alle anderen sind des Todes.« Seine Stimme hallte in einem monströsen Echo nach. Achmed verschloss das Sprachrohr.

»Das war ja wirklich schrecklich«, meinte Rhapsody und steckte die Flöte weg. »Ob wir sie denn auch überzeugt haben?«

»Zumindest einen Teil. Andere werden sich morgen überzeugen lassen. Und dann wird’s bestimmt auch ein paar Trotzköpfe geben, die dem neuen Kriegsherrn lieber die Stirn bieten, als dass sie sich mit geborgter Macht zufrieden geben würden.«

»Und womit willst du die überzeugen?«

»Sie werden keine Zeit mehr haben, ihren Argwohn zu bereuen.«

Er hat seinen Atem über uns kommen lassen, sagten die Späher vom Frost-und-Feuer-Klan. Ein eiskaltes Sturmgebrüll.

Saltar rieb sich die Augen, um seinen visionären Blick zu schärfen, der ihm zwar nicht die Zukunft offenbarte, wohl aber das, was sich anderenorts schon als Wirklichkeit abzeichnete und unausweichlich näher kam.

Sturmgebrüll. Das Wort dröhnte in seinem Schädel.

Der Geist schaute immer in den Wind. Was da nun mit dem Wind aufzog, war vielleicht genau das, was er suchte.

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