15

Das Glücksgefühl nach dem Gang durchs Feuer ließ schnell nach, als die drei ihren Weg fortsetzten und wieder an der Wurzel entlang krochen, die sich in die Zeit selbst hin zu erstrecken schien, endlos und ohne Ziel. In einer Hinsicht aber fiel ihnen die Reise ein wenig leichter: Sie wussten nun, dass der Mittelpunkt überschritten und mehr als die Hälfte des Weges geschafft war.

Vielleicht war es die an Wahnsinn grenzende Verzweiflung gewesen, die sie zu Anfang der Reise dazu bewogen hatte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Jetzt war die treibende Kraft, die ihnen über die Strapazen ihres Trecks hinweghalf, die Hoffnung auf das Ende des Tunnels. Mit dem Feuer, das sie immer weiter hinter sich ließen, schwand auch das Licht, und bald herrschte wieder undurchdringliche Dunkelheit. Gesprochen wurde nur selten und dann meist nur, um den drohenden Wahnsinn abzuwehren.

Die Kleider waren zerlumpt, die Stiefel abgelaufen. Auf Kniehöhe klafften in den Hosen große Löcher. Grunthor hatte seine Kapuze geopfert und Rhapsody die Ersatzsaiten ihrer Harfe, um provisorisches Schuhwerk daraus zu fabrizieren. Mit den Lederresten der Stiefel als Sohle und dem um die Füße gewickelten festen Stoff versuchten sie, sich vor den scharfen Steinen zu schützen, und dennoch waren am Ende einer jeden Etappe die Füße wund und blutig gelaufen.

Rhapsody hatte wieder damit angefangen, ihre Sterngebete zu singen, obwohl sie vom Sonnenaufgang und dem Nachthimmel denkbar weit entfernt war.

Sie verlegte sich darauf, die Morgendämmerung mit der Zeit gleichzusetzen, zu der sie sich vom Schlaf erhoben, und sie sang die Aubade, das morgendliche Liebeslied, wenn sie sich angekleidet hatte und die goldenen Locken mit dem Kamm zu entwirren versuchte.

Grunthor und Achmed hörten ihr immer zu und sagten kein Wort, bis sie geendet hatte. Anschließend zogen sie sich häufig für eine Weile zurück, um sich über Dinge zu besprechen, die Rhapsody nur beunruhigt hätten.

Seltsam, bei keinem der dreien zeigten sich Spuren der Zeit. Im Gegenteil, das Feuer hatte alle Narben, viele Fältchen und Furchen verschwinden lassen, sodass die drei jetzt sogar jünger aussahen als am Tag ihres Einstiegs in die Sagia, der inzwischen eine Ewigkeit zurücklag.

Rhapsody schien von Tag zu Tag schöner zu werden und eine Aura auszubilden, die wie ein Magnetfeld wirkte und im Dunkeln schimmerte, wenngleich ihr Gesicht unsichtbar blieb. Die Fortdauer ihrer Jugend stand im Widerspruch zur Endlosigkeit ihrer Reise. Doch das jeweilige Alter der drei Gefährten richtig einzuschätzen war auch deshalb schon kaum möglich, weil sich auf ihren Gesichtern eine dicke Schmutzschicht abgesetzt hatte.

Allmählich mehrten sich die Hinweise darauf, dass sie der Erdoberfläche näher kamen. Immer häufiger führte ihr Weg steil bergan, und oft mussten sie senkrechte Wurzelwände erklimmen von der Art jener Pfahlwurzel, über die sie zu Beginn ihrer Reise abgestiegen waren.

Der Tunnel wurde wieder unangenehm feucht und glitschig. Die Kälte kroch zurück in Rhapsodys Knochen, womit sich auch wieder die Schmerzen in den Gelenken einstellten. Nicht selten mussten sie bis zu den Hüften durch Schlamm oder Wasser waten. Einmal wurden sie von einer Springflut überrascht, der sie nur um Haaresbreite entkommen konnten.

Schließlich gelangten sie in einen horizontal verlaufenden Höhlengang, der trockener war als die vorherigen Tunnel. Die Decke war so hoch, dass sie aufrecht stehen konnten. Allerdings wucherten Tropfsteine von oben herab und von unten in die Höhe, was ihnen den Eindruck vermittelte, als wanderten sie durch das Zahnbewehrte Maul einer riesigen Bestie.

Vorsichtig tasteten sie sich an den felsigen Spitzen entlang. Grunthor hatte seiner massigen Gestalt wegen die größten Schwierigkeiten; er eckte immer wieder an und zog sich etliche Verletzungen zu. In einem Abschnitt der Höhle trafen sie auf einen langen, dünnen Tropfstein, der in einem verblüffenden Winkel vom Seitenrand des Deckengewölbes aus schräg in den Raum hineinragte und bei der kleinsten Erschütterung abzubrechen drohte. Entsprechend vorsichtig schlich Achmed auf Zehenspitzen darunter hindurch.

Als Rhapsody den Stein passierte, ging plötzlich ein Leuchten durch den Tunnel, das, obwohl in seiner Wirkung gedämpft, den dreien die Sicht benahm, waren ihre Augen doch schon allzu lange an die Dunkelheit gewöhnt. Grunthor stieß einen deftigen Fluch aus, als er, vom Licht geblendet, vor eine Auswucherung in der Felswand prallte.

Mit ausgestreckter Hand langte Rhapsody nach dem schimmernden Stein, aus dem, kaum dass sie ihn mit den Fingerspitzen berührte, kleine Splitter herausbrachen und zu Boden fielen. Ein Flammenstrahl schoss aus dem Steinzack hervor, so grell, dass alle drei unwillkürlich die Hände vors Gesicht schlugen und vor Schmerz aufschrien.

»Was ist das?«, zischte Achmed.

Rhapsody spähte durch einen Spalt in der schirmenden Hand und sah, dass von der Spitze des sonderbaren Stalaktits kleine Flammen ausgingen und über das Steingebilde züngelten. Staunend streckte sie abermals die Hand danach aus. Je näher sie den Flammen kam, desto heller leuchteten sie auf. Zog sie die Hand zurück, nahm das Licht wieder ab.

Mit derselben Sicherheit, die ihr auch schon durch den Feuerkern geholfen hatte, machte sie sich daran, mit der Hand über den langen Stein zu streichen, worauf eine brüchige Kruste von ihm abbröckelte und einen glühenden, flammenden Lichtschaft darunter zum Vorschein brachte.

»Ein Schwert«, flüsterte sie ehrfürchtig.

Die beiden Firbolg tauschten verwunderte Blicke. Es war tatsächlich so: Aus der feuchten Höhlenwand stakte ein flammendes Schwert, das auf der blauweiß glühenden Klinge fein ziselierte Gravuren erkennen ließ.

»Kannst du’s auch aus dem Fels ziehen, Herzchen?«, fragte Grunthor.

»Ob sie das überhaupt versuchen soll?«, gab Achmed zu bedenken.

»Es ist zu hoch für mich«, sagte Rhapsody und suchte auf dem Boden nach einer Stufe. Grunthor kniete nieder und klopfte sich auf den Oberschenkel.

»Steig da drauf«, sagte er und grinste.

Rhapsody zögerte nicht lange. Sie hielt sich mit einer Hand an der breiten Schulter fest und trat auf das Podest, das er ihr mit seinem Oberschenkel zur Verfügung stellte.

Jetzt reichte sie bis an die Wurzel des Tropfsteins heran. Sie langte mit beiden Händen zu und zog. Das Schwert löste sich so leicht, als hätte es nur an einem dünnen Faden gehangen. Hätte Grunthor sie nicht mit seiner Pranke abgestützt, wäre sie aus dem Gleichgewicht geraten und zu Boden gestürzt. Das Schwert bei der glühenden Klinge gepackt, stieg sie von Grunthors Knie herunter und zeigte den Gefährten die wundersame Waffe. Sie schien aus einem Material gefertigt zu sein, das auf den ersten Blick wie Silber aussah, aber sehr viel leichter war. Auf der schlanken Klinge waren schmuckvolle Runen eingraviert.

Das Heft war aus demselben weißsilbrigen Metall geschmiedet und mit einer prächtigen Querstange ausgestattet, die zusammen mit dem Knauf in der Mitte die Form eines Sterns bildete. In den Griff war die Fassung für einen Edelstein oder dergleichen eingelassen, den aber anscheinend jemand herausgebrochen hatte; sie war leer und an den Rändern eingedellt. Obwohl das Heft hell glühte, tat es ihrer Hand, die es hielt, keinen Schaden an. Achmed zog den rechten Handschuh aus und führte einen Finger an die Klinge heran, wich aber schnell wieder zurück.

»Es scheint sich wohl in ihrer Hand zu fühlen«, bemerkte Grunthor.

»Über Gefühle lässt sich nicht streiten«, murmelte Achmed.

Rhapsody lachte. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der dem Versuch eines Schmunzelns ähnlich kam.

»Hätte nich schlecht Lust, ein paar weitere Zapfen aufzuschlagen, bloß um zu sehen, ob auch was drinsteckt«, meinte Grunthor. »Da hast du jetzt aber ’n wirklich hübsches Schwert, Gräfin. Ich hoffe nur, du machst deinem Lehrer keine Schande damit.«

»Ich werde mit dem Training fortfahren, sobald sich der Tunnel weitet«, versprach Rhapsody und reichte Grunthor die Waffe zurück, die er ihr geborgt hatte. »Danke für die Leihgabe.«

»Ich glaube, wir nähern uns dem Ende der Wurzel«, sagte Achmed. »Oder was meinst du, Grunthor?«

»Jedenfalls waren wir schon lange nich mehr so dicht unter der Oberfläche«, antwortete der Riese und sah sich nach allen Seiten um. »Wer weiß, vielleicht sind’s nur noch wenige Meilen, bis wir wieder frische Luft atmen können.«

»Tröstlich«, sagte Rhapsody, die immer noch auf das Schwert starrte. Am Rande ihres Bewusstseins machten sich Bruchstücke vager bildlicher Vorstellungen bemerkbar, auf die sie sich aber keinen Reim machen konnte. Sie zwinkerte mit den Augen, und die Bilder verschwanden.

Achmed sah sich um und hob die steinerne Hülle auf, in der das Schwert gesteckt hatte.

»Das wird vorläufig als Scheide dienen können, bis wir etwas Besseres finden. Ich vermute, dass Leder oder ähnliche Materialien für diese Klinge nicht in Frage kommen.« Mit einem kleinen Stein verstopfte er die untere Öffnung der provisorischen Scheide.

Als Rhapsody das Schwert in den hohlen Tropfstein zurücksteckte, wurde es wieder dunkel um sie herum. »Soll ich es lieber draußen lassen, damit wir besser sehen können?«

»Nicht nötig«, antwortete Achmed. »Kommt, beeilen wir uns. Ich bin gespannt, wohin uns diese Wurzel führt.«

Rhapsody und Grunthor klopften den Staub aus ihren Kleidern und warteten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ehe sie Achmed folgten.

»Ja, wir sind ganz dicht unter der Oberfläche. Ich spüre es genau.«

Sie hatten sich über eine quälend lange Zeitspanne weiter geschleppt, durch einen Stollen, der immer enger wurde, bis sie am Ende nur noch kriechend vorangekommen waren. Grunthor war immer wieder stecken geblieben und auf die Hilfe der anderen angewiesen gewesen, die ihn dann hatten frei graben müssen.

Achmeds Worte machten Rhapsody neuen Mut. Seit langem plagte sie die Angst zu ersticken, eine Angst, in die sie sich so tief hineingesteigert hatte, dass sie darüber noch wahnsinnig zu werden fürchtete.

Sie schloss nun zu Achmed auf, der angehalten, sich auf den Rücken gewälzt und einen seiner dünnen Handschuhe ausgezogen hatte. Mit der bloßen Hand tastete er die Hälfte der Wand ringsum ab und spürte uralte Erinnerungen auf.

Der Stoff, aus dem die Erde besteht, ist hier sehr dünn...

Er hob den Kopf an und wandte sich an Rhapsody. »Zieh das Ding. Ich brauche Licht.«

Auch sie drehte sich auf den Rücken, zog das Schwert aus der behelfsmäßigen Scheide und reichte es an ihn weiter.

Achmed hob die Klinge wie eine brennende Fackel an die Stollendecke und kroch, indem er sich mit den Füßen abstemmte, weiter voran. Als sein Blick zufällig auf das dicht über seinen Augen schwebende Heft fiel, hielt er plötzlich inne und musterte den Griff.

»Gütiger Himmel«, flüsterte er.

»Was ist los?«, fragte Rhapsody alarmiert. Sie spürte Grunthor im Liegestütz weiterdrängen und sah dann seinen Kopf über ihren Knien auftauchen.

»Die Tagessternfanfare«, hauchte Achmed ehrfurchtsvoll, was Grunthor mit einem ungläubigen Schnauben quittierte.

»Was?«, fragte Rhapsody mit Panik in der Stimme. »Was soll das heißen?«

»Bist du sicher?«, fragte Grunthor nach.

»Absolut.«

»Wovon redet ihr?«, rief Rhapsody und erschrak selbst am meisten über den schrillen Klang ihrer Stimme.

Achmed ließ das Schwert fallen, schlug beide Hände vors Gesicht und murmelte Obszönitäten auf Bolgisch vor sich hin. Merklich betroffen, zog sich Grunthor wieder ein Stück zurück, tätschelte ihr Bein und sagte: »Es ist das berühmte Schwert von der Insel, Gräfin.«

»Von der Insel? Von Serendair? Bist du sicher?«

»Ja«, antwortete Achmed ungehalten. »Irrtum ausgeschlossen. Allerdings kann ich mir nicht erklären, warum es brennt. Aber der Sternenglanz ist noch da, so auch die Runen auf dem Schaft. Kein Zweifel, es ist die Tagessternfanfare.«

»Und was hat das zu bedeuten ...«

»Wir sind wieder da, wo wir zu Anfang waren.

Rhapsody versuchte, das lähmende Gefühl der Verzweiflung aufzufangen, das sich im Stollen breit machte. Im Unterschied zu den Gefährten reagierte sie überglücklich; ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie waren zu Hause. Das ergab zwar keinen erkennbaren Sinn, doch irgendwie schienen sie von der ursprünglich eingeschlagenen Richtung abgekommen und an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückgekehrt zu sein. Ihre Freude darüber war größer als der Ärger, der sich in Anbetracht der nutzlos vergeudeten Zeit und all der erlittenen Strapazen einstellen mochte. Sie war wieder daheim.

»Wir müssen hier raus«, sagte sie. »So schnell wie möglich.«

Achmed seufzte. »Wir kommen nicht weiter. Der Stollen ist zu eng.«

»Wie kommen wir denn dann raus?«, fragte Rhapsody entsetzt.

»Mit dem Schlüssel, vermute ich.«

Ihr wurde kalt vor Angst. »Den haben wir nicht mehr, erinnere dich. Er ist verloren gegangen, als sich die Luke geschlossen hat.«

»Du lässt dich ziemlich schnell ins Bockshorn jagen, nicht wahr?« Achmed hob die Hand, bewegte sie wie ein Taschenspieler und zauberte einen aus schwarzem Bein geschnitzten Schlüssel zum Vorschein.

Rhapsody wurde aschfahl im Gesicht.

»Du Miststück.«

Grunthor griff reaktionsschnell ein, um zu verhindern, dass sie mit der Faust über den Partner herfiel. Mit ungestümer Wut versuchte sie sich aus dem Griff des Riesen loszureißen.

»Miststück, du. Lügenmaul, Dreckskerl, Bankert!«

»Du hast ja Recht, aber es gibt eigentlich keinen Grund, meine Mutter zu beleidigen.« Unbeeindruckt fuhr Achmed wieder mit der Hand über die Decke und ließ sich nicht stören von der Hitze, die von der hinter ihm im Tunnel wütenden Weißglut ausstrahlte. Mit den Fingerkuppen ertastete er den Riss im Stoff des Universums, eine dünne metaphysische Öffnung, die sich unmittelbar über ihm auftat. Er steckte den Schlüssel in die Öffnung, stieß aber auf festen Fels, worauf ein Klicken laut wurde, das durch den ganzen Tunnel hallte. Ansonsten tat sich nichts. Er versuchte es ein zweites Mal, wiederum ohne Erfolg. Verärgert ließ er sich auf den Boden zurückfallen und fluchte.

Rhapsodys Wut hatte sich gelegt. »Stimmt was nicht?«

»Es klappt nicht.«

»Wie bitte?«

»Es klappt nicht«, wiederholte er leise. »Ich fürchte, wir waren nicht die Einzigen, die im Feuer neu entstanden sind.«

Wieder führte er seine Hand an der Decke entlang. Gleichzeitig entwickelte sich in seinem Kopf die Vorstellung, dass er durch den Fels flöge, durch Schicht um Schicht aus Erde, Ton, getrocknetem Gras und Schnee, bis es ihn schließlich unter den freien, taghellen Himmel hinauskatapultierte. Er schnappte nach Luft und drückte die noch wunden Augen zu.

Rhapsody langte mit der Hand nach ihm. »Ist was nicht in Ordnung?«

Er schüttelte die Hand von sich ab. »Lass mich in Ruhe. Mir geht’s bestens – wenn man mal davon absieht, dass wir wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt sind und vor dem einzigen Ausgang, den es hier gibt, in der Falle stecken. Die Götter werden sich wahrscheinlich kringelig über uns lachen.«

»Wie weit isses noch bis zur Oberfläche?«, wollte Grunthor wissen.

»Ich weiß nicht. Aber es sind bestimmt noch mehrere hundert Fuß.«

Um seinen verkrampften Muskeln Erleichterung zu verschaffen, reckte der Riese seine massige Gestalt und seufzte. »Wenn’s mehr nich ist. Platz da, bitte. Ich fang mal zu graben an.«

Rhapsody zog die Knie ein und warf einen Blick auf den Riesen zurück. »Hast du nicht gehört? Es sind noch mehrere hundert Fuß.«

»Ja, dann isses doch besser, wir machen uns sofort an die Arbeit. Oder hat die Gnädigste was Besseres zu tun? Komm, lass mich mal nach vorne durch.« Rhapsody staunte nicht schlecht, als sie ihn einen kleinen Spaten zum Vorschein bringen sah. Sie nahm ihr Schwert und rückte zur Seite.

»Weißt du, was du tust, Grunthor?«, fragte sie nervös, als er an ihr vorbeikroch.

»Nein.«

Sie zwinkerte mit den Augen und warf einen Blick auf Achmed, der mit den Achseln zuckte.

»Verstehe«, sagte sie schließlich. »Man muss sich was einfallen lassen.«

Am Ende des Tunnels angekommen, packte Grunthor den kleinen Spaten mit beiden Händen und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Es flogen Funken, doch ansonsten zeigte das Felsgestein kaum Wirkung. Als er ein zweites Mal zuhieb, flogen ein paar Steinsplitter.

Immer wieder hackte er auf den Fels ein und hatte schnell zu seinem Rhythmus gefunden, den er unermüdlich beibehielt. Der Spaten wurde schartig, doch Grunthor ließ nicht nach. Rhapsody und Achmed hatten sich hinter ihm aufgereiht und räumten den Schutt beiseite.

»Legen wir’s eigentlich darauf an, dass die Decke über uns zusammenbricht?«, fragte sie den Dhrakier, als der wieder einmal einen schweren Felsbrocken an sie weiter reichte. Sie musste ihre Stimme heben, um sich bei dem Lärm, den Grunthor veranstaltete, bemerkbar zu machen.

»Wohl kaum«, antwortete er. »Es sei denn, Grunthor stößt direkt nach oben vor. Möchtest du, dass ich ihn darum bitte?«

»Nein danke«, beeilte sie sich zu sagen. Achmeds Blick verhieß nichts Gutes, und sie war sich nicht schlüssig, ob er seine Antwort spöttisch oder womöglich gar ernst gemeint hatte.

Im Laufe der Stunden wurde den beiden Gefährten, die dem Fels brechenden Riesen Stück für Stück durch den Stollen folgten, einiges klar, so zum Beispiel die Tatsache, dass sich der Bolg durch nichts in der Welt würde aufhalten lassen. Ihre Bitten, dass er es doch zumindest ein bisschen langsamer angehen lassen möge, blieben ungehört. Es war, als hätte er die Erde selbst zu einem Kampf auf Leben oder Tod herausgefordert, und es sah nicht danach aus, dass er sich ihr jemals geschlagen geben würde.

Zum anderen drängte sich der Eindruck auf, dass Grunthor nicht etwa besessen war, sondern über die Arbeit, die er leistete, selbst Teil der Erde wurde.

Er zielte unfehlbar auf die winzigen Risse und Fehler im Granit und ließ mit jedem Hieb große Teile absplittern. Da war nicht eine Schwachstelle im Fels, die er nicht erspürt und wirkungsvoll ausgenutzt hätte.

Rhapsody sah ihm mit bewunderndem Lächeln bei der Arbeit zu. Grunthor, stark und zuverlässig wie die Erde selbst, so hatte sie ihn in dem auf ihn gemünzten Namenslied unter anderem genannt. Die Bestätigung ihrer Worte sah sie nun vor sich.

Und noch etwas wurde den beiden unmissverständlich klar: Sie waren hier auf Gedeih und Verderb von Grunthors Kraft und Ausdauer abhängig. Hinter ihnen füllte sich der Tunnel mit abgetragenen Gesteinsbrocken, der einen Rückzug unmöglich machte.

Zu dieser Einsicht kamen sie auch ohne ausdrücklichen Hinweis. Rhapsody warf einen Blick zurück und sah, dass Achmed in dieselbe Richtung starrte. Als sich ihre Blicke trafen, verzogen sich beider Mienen zu einem Lächeln, wie es wohl auch in den Gesichtern von Schiffbrüchigen geschrieben stand, die, an irgendeinem Schwimmkörper festgeklammert, im Wasser trieben.

Nur einmal hielt Grunthor kurz inne, um seinen Griff am Spaten zu wechseln. Dann hackte er wieder drauf los und setzte dem Felsgestein mit unverminderter Wucht zu, dass die Brocken nur so flogen. Wie ein erfahrener Diamantenschleifer sah er auf den ersten Blick, auf welche Weise er den Fels zu bearbeiten hatte. Und er lernte noch dazu, bildete seine naturgegebenen Fähigkeiten weiter aus. Er sah anscheinend nicht nur die Risse in der Wand vor seinen Augen, sondern auch die Verwerfungen dahinter. Mittlerweile waren die Brocken, die er aus dem Fels brach, so groß, dass er sie in handlichere Stücke zertrümmern musste, ansonsten hätten Achmed und Rhapsody sie nicht mehr wegzuräumen vermocht.

Grunthor hatte alles bewusste Denken eingestellt und ging vollständig in dem auf, was er tat. Er verlor allen Sinn für seine Umgebung, alle Hoffnung auf die Zukunft und alle Erinnerungen an die Vergangenheit. Es gab für ihn nur noch den Spaten und die Erdkruste, am Ende nur noch diese. Er fühlte sie wie seinen eigenen Körper. Vom ganzen Universum waren nur noch Fels und Lehm und Erde übrig geblieben, und er empfand sich als Teil davon.

Und plötzlich stieß er ins Leere.

Grunthor taumelte hinaus und konnte es selbst kaum fassen, unter freiem Himmel aufzutauchen. Frischer Wind schlug ihm ins Gesicht, brachte die Augen zum Tränen und machte ihn auf sonderbare Weise benommen. Ihm wurde ganz flau, zumal jetzt, da er abrupt zu arbeiten aufgehört hatte und der Puls rapide abnahm. Er stolperte und stürzte der Länge nach zu Boden. Die Erde, mit der er soeben noch eins gewesen war, trat ihm wieder als kaltes, feindliches Element gegenüber.

Auch Rhapsody und Achmed stiegen nun in die kalte Nacht auf. Die Sängerin eilte herbei, schüttelte den Riesen bei den Schultern und rief: »Grunthor! Hast du was?«

Er schüttelte den Kopf, was immer das bedeuten mochte. Jählings aus der warmen, umhüllenden Erde gerissen und dem eisigen Wind an der Oberfläche ausgesetzt zu sein war schlimmer als das Trauma der Geburt, schlimmer sogar als Todesschmerz. Grunthor raffte sich auf. Finger und Handflächen brannten im Schnee.

Erleichtert stieß Rhapsody einen Schwall Luft aus, als sie ihn aufstehen sah. Von der Sorge um den Freund entlastet, schaute sie sich nun um und traute ihren Augen kaum.

Ihr war, als wäre sie aus der Unterwelt ins Paradies aufgestiegen. Der abnehmende Mond leuchtete auf eine märchenhafte Waldlichtung in winterlicher Nacht. Lachend wandte sie sich Achmed zu, der nach ihr aus dem Loch gekrochen war, sank dann schluchzend auf den Boden und wälzte sich kichernd und weinend im Schnee.

Achmed half Grunthor aufzustehen. Anschließend ging er an den Rand der Lichtung und sah sich um. Sein Partner starrte aus seinen bernsteinfarbenen Augen und mit ungerührter Miene vor sich hin; es dauerte eine Weile, bis er wieder zu sich kam.

Die junge Frau, die sie als Geisel mitgeführt und die sich schließlich als überaus hilfreich erwiesen hatte, lachte wie eine Wahnsinnige und wühlte sich ausgelassen durch den Schnee.

Saurer Magensaft stieg in ihm auf. Wenn sie zurückgekehrt und sich nun wieder in Serendair befanden, hatte er sein Geburtsrecht eingebüßt. Anstatt Millionen Herzschläge im Wind zu hören, das, woran er sein ganzes bisheriges Leben gewöhnt war, blieb es sonderbar still um ihn herum. Wahrnehmen konnte er nur Grunthors langsamen Puls und den beschleunigten von Rhapsody. Es schien, als lebten nur noch sie, die drei, auf der Welt und sonst niemand.

Rhapsody, die immer noch von anfallartigem Gelächter unter Tränen geschüttelt wurde, schnappte keuchend nach Luft. Achmed schaute sich um, ging dann auf die überdrehte Sängerin zu und zerrte sie gewaltsam auf die Beine. Der Ausdruck der Ekstase verschwand von ihrem Gesicht und machte benommener Verwunderung Platz.

»Es wäre schön, wenn du dich langsam wieder einkriegen würdest«, fauchte er sie an.

Sie riss sich von seiner harten Hand los, bedachte ihn mit wütender Miene und hob den Blick unters Laubdach des Waldes. Ihr Zorn war schnell verflogen, als sie durch eine Lücke in den Wipfeln zu den Sternen aufblickte. Sie wollte gerade auf den Rand der Lichtung zugehen, doch Achmed hielt sie mit grober Hand zurück.

»Hier geblieben.«

»Rühr mich nicht an!«, zischte sie und versuchte, sich loszureißen.

Er aber hielt sie fest. »Nicht, dass du wegläufst, ehe wir geklärt haben, wie’s weitergehen soll. Wir wissen noch nicht, wo genau wir sind und wer hier lebt.«

Rhapsody musste ihm im Stillen Recht geben und beruhigte sich. »Keine Sorge, ich lauf nicht weg«, sagte sie. »Ich will nur die Sterne sehen. Und versuch nur ja nicht, mich aufzuhalten.«

Achmed musterte ihr Gesicht. Es wirkte hier, in dunkler Nachtluft, anders als damals vor langer, langer Zeit im Schatten des lirinschen Urwaldes. Nicht nur, dass es seit dem Gang durchs Feuer vollkommen in seiner Schönheit war, es strahlte nunmehr auch etwas ganz Besonderes aus, etwas, das er so noch nie gesehen oder erfahren hatte, geschweige denn in Worte fassen konnte.

Rhapsody wartete, bis Achmed abgezogen war, und schüttelte dann den Kopf, wie um sich von dem verworrenen Knotengeflecht zu befreien, das der schreckliche Treck entlang der Wurzel geknüpft hatte. Über ihr glitzerten die Sterne wie die versprengten Bruchstücke der Himmelsseele. Sie bemerkte gar nicht, dass ihr Tränen in die Augen traten und, unvergossen, auf den Lidern stehen blieben. Langsam, wie in einem Traum, zog sie das uralte Schwert, das sie im Innern der Erde gefunden hatte. Flammen züngelten über den glühenden Stahl, strahlten aber keine Hitze aus, jedenfalls nicht bis zum Heft. Der Griff, den sie umschlungen hielt, blieb kühl und trocken. Dann, wie von einer Stimme gelenkt, die nur ihre Hände hörten, hob sie das Schwert in die Höhe.

Es war nicht etwa, dass die Flammen den Blick auf die Sterne beeinträchtigt hätten; im Gegenteil, die Sterne schienen noch heller zu leuchten, was aber vielleicht am Schleier der Tränen in ihren Augen lag. Rhapsody öffnete den Mund, doch es kam kein Ton daraus hervor. Sie schluckte und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, der aus dem Innern aufstieg. Dann gab sie sich einen Ruck und sang die Abendsternvesper, das Lied des Sterns Seren, der der Insel ihrer Geburt seinen Namen gegeben hatte. Getragen vom Wind, der die Wolkenschiffe von Stern zu Stern blies, stieg die süße Melodie zum Himmel empor.

Fernab im Süden, inmitten eines anderen Waldes, erwachte eine Frau aus ihrem Schlaf, geweckt von einer Schwingung, die ihr viele Jahre lang verborgen geblieben war. Das Schwert ist zurückgekehrt, dachte sie. Doch da lag noch viel mehr in der Luft. Es war eine Sehnsucht, die sie nicht verstand, aber so schon früher empfunden zu haben glaubte, eine Wehmut am äußersten Rand ihrer Erinnerung. Dieses Gefühl streifte sie wie ein Schatten das Gesicht des Mondes und war auch schon wieder verschwunden. Ein Anflug von Skepsis zeigte sich im Gesicht der uralten Lirin.

Grunthor stand noch immer vor dem Ausstieg und starrte in den Tunnel zurück. Er war nicht ganz bei sich, spürte aber eine innige Verbindung zum Erdreich unter seinen Füßen.

Jede Faser seines Körpers brannte, jeder Muskel schmerzte vor Müdigkeit, die er so bleiern noch nie empfunden hatte, nicht einmal während der mit Achmed gemeinsam ergriffenen Flucht aus der Hand des Dämons. Er schüttelte seine Glieder. Vor dem Einschlafen hatte er noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.

Grunthor schloss die Augen und lehnte sich über den Rand des Ausstiegs. Liebevoll und aufmerksam fuhr er mit der Hand über dessen Umrisse, so wie er die von ihm behauene Tunnelwand ertastet hatte. Schon bald waren die gesuchten Schwachstellen im Gestein gefunden. Mit festem Entschluss holte er aus und schlug zu. Der Fels zersprang, stürzte in sich zusammen und verschüttete den Schacht mit einer Lawine aus Schutt und Schnee. Der Riese sank auf die Knie.

»Da ist kein Durchkommen mehr«, tönte Achmeds Stimme aus dem Hintergrund.

Grunthor hob den müden Kopf, drehte sich um und grinste. »Dass das geschehn musste, war uns von Anfang an klar«, sagte er. »Wir wussten auch, dass es kein Zurück für uns geben würde.«

Achmed lachte freudlos. »Zurück? Wir sind doch keinen Schritt vorangekommen.«

Grunthor legte den Kopf auf die Schneedecke und lauschte dem beruhigenden Herzschlag der Erde.

»Ach was«, murmelte er. »Wir ham einen weiten Weg zurückgelegt und sind hier auf der anderen Seite der Welt.« Dann hatte er seiner Erschöpfung nichts mehr entgegenzusetzen und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der ihm das aus seiner Verbindung mit der Erde geschöpfte Wissen um das Land nahe brachte.

Es dauerte nicht lange und Achmed fand die Worte des Riesen bestätigt. Er vernahm ein Schluchzen vom Rand der Lichtung her. Rhapsody hatte die Sterne gesehen. Sie wusste nun Bescheid.

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