37

»Beeilung!«, murmelte Achmed. Er stand unter dem Giebel eines Harfenbauers und wartete darauf, dass Rhapsody wieder nach draußen kam.

Die Freudentöne, die sie beim Anblick des Ladens von sich gegeben hatte, waren so überschwänglich wie sonst nur bei Kindern, und Achmed hatte es nicht über sich gebracht, ihr den Eintritt zu verwehren.

Ich möchte meinen Enkeln ein paar Geschenke zukommen lassen und brauche selbst eine neue Harfe, hatte sie gesagt.

Allerdings ließ sie sich recht lange Zeit mit der Auswahl. Der Straßenlärm und die Schwingungen der über das Pflaster polternden Karren bereiteten ihm üble Kopfschmerzen. Er wollte schon in den Laden gehen und sie herausholen, als sie endlich in der Tür erschien, aufgelöst und sichtlich verärgert.

»Widerling«, zischte sie und reichte ihm ein Instrument mit drei Saiten.

»Wie bitte?«

»Du bist nicht gemeint«, spuckte sie aus, deutete kurz hinter sich und ordnete dann das Haar unter der Kapuze.

»Was ist passiert?«

»Der Kerl da drin zupft offenbar nicht nur gern an seinen Harfen«, sagte sie erbost, als die beiden den Laden hinter sich ließen und im Strom der Passanten Zuflucht nahmen.

Achmed kicherte vor sich hin und gab ihr das Instrument zurück. »Wie hast du auf ihn reagiert?«

»Ich habe mir vorgestellt, was Grunthor getan hätte, und ihn so gut wie möglich nachzuahmen versucht«, antwortete sie und versteckte das Instrument unter ihrem Umhang. »Aber während er mit der Spitze seines Dolches zugestoßen hätte, hab ich mit dem stumpfen Ende Vorlieb genommen. Und jetzt kann dieses Miststück zur Orgel seine Sopranstimme erklingen lassen.«

»Stammt wahrscheinlich von den Cymrern ab«, meinte Achmed.

Rhapsodys Laune hatte sich schon wieder um einiges gebessert. »Ich habe in der alten Heimat wahrhaftig so manche Typen kennen gelernt, die mit Miststück noch freundlich tituliert gewesen wären.«

»Was hast du gekauft?«, fragte Achmed.

»Eine Heilharfe. Sie soll sich besonders gut eignen als Begleitinstrument für Lieder mit Heilwirkung. Khaddyr hat auch eine, weiß aber nicht richtig damit umzugehen. Sie hat nur drei Seiten. Ich habe selbst noch nie darauf gespielt und werde wohl eine Weile üben müssen. Überhaupt sind die Instrumente dieser Gegend ganz anders es diejenigen, die ich von zu Hause her kenne.«

Er legte ihr seinen Arm um die Schultern, um sie von einem Trupp Soldaten wegzusteuern, die in der Nähe des Südosttors an einer Straßenecke standen und sich lachend miteinander unterhielten.

»Rhapsody, verzeih, wenn ich dich immer wieder darauf aufmerksam mache, aber dein Zuhause ist jetzt hier.«

Im Weitergehen starrte sie zu Boden, wie in Gedanken versunken. Erst als sie das Tor passiert hatten, blickte sie kurz auf.

»Für dich vielleicht«, sagte sie und stierte wieder vor sich hin.

Sie hatten die Stadt schon weit hinter sich gelassen und eine der vorgelagerten Ortschaften erreicht, als Rhapsody plötzlich stehen blieb und Achmeds Arm ergriff.

»Werden wir etwa verfolgt?«

Der Dhrakier nickte und ging weiter. Die beiden kamen an einem Räucherschuppen vorbei, aus dem beißender Rauch quoll. Kreischende Kinder liefen umher. Von dem Gesinde, das hier seiner Arbeit nachging, wäre wohl niemandem erlaubt worden, über die vornehmen Straßen Bethanias zu gehen. Um sich im Lärm der geschäftigen Menge ringsum verständlich zu machen, musste er fast schreien.

»Es ist Grunthor. Er folgt uns schon seit einer Weile.«

»Warum? Und wo ist Jo?« Rhapsody reckte den Hals auf der Suche nach dem riesigen Freund, doch der war nirgends auszumachen.

»In seiner Begleitung vermutlich. Ich habe ihn gebeten, uns im Auge zu behalten.«

Plötzlich schrillte ein Schrei aus dem allgemeinen Trubel, anscheinend von einem Kind, das in Not war. Rhapsody drehte sich um und sah einen kleinen Jungen zusammengerollt am Boden kauern, die Arme um den Kopf geschlungen, um sich vor den derben Tritten eines Mannes mit struppigem schwarzem Bart zu schützen.

Rhapsody wollte sogleich zu Hilfe eilen, wurde aber von Achmed daran gehindert einzugreifen.

»Misch dich nicht ein«, sagte er und registrierte, wie sich die Wut in ihrem Gesicht mit Empörung über seine Worte mischte. »Das ist hier so Sitte. Sieh dich doch um.«

Tatsächlich achtete niemand auf die Misshandlung des Kindes. Alles schaute weg oder nahm nicht mal Notiz davon. Rhapsody versuchte sich loszureißen, doch Achmed ließ nicht locker.

»Wenn du ihm jetzt hilfst, wird dieser Junge später nur umso mehr geprügelt, Rhapsody. Und du kannst nicht noch ein Kind adoptieren. Falls du es doch tun solltest, lass ich dich und Jo hier in Bethania zurück.« Der Junge schrie herzergreifend, doch der Bärtige trat erbarmungslos weiter auf ihn ein.

»Loslassen!«, knurrte sie und geriet in Rage.

Widerwillig gab Achmed sie frei und zog sich zurück. Den Rumpf vornüber gebeugt und mit hoch gezogenen Schultern, rannte sie über die Straße und nahm die Kampfhaltung an, die Grunthor ihr unter der Bezeichnung »Rammbock« beigebracht hatte. Die Sache nahm ihren wilden Verlauf. Achmed blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen.

Sie traf den tobenden Mann gleich unterhalb der Brust so wuchtig, dass es ihn von den Beinen riss. Gemeinsam gingen sie zwischen einer Reihe von Fässern und Holzscheiten zu Boden.

Noch im Fallen zertrümmerte Rhapsody ihm mit der Handwurzel das Nasenbein. Blut spritzte in den Dreck der Gosse.

Nach anfänglichem Schock riss der Mann die Augen auf und langte mit beiden Händen hastig nach ihrer Gurgel.

»Hündin, du«, röchelte er, mit den Armen fuchtelnd. »Was ...«

Achmed sah Rhapsody rittlings auf dem Mann am Boden sitzen und mit der rechten Faust zuschlagen, auf die blutige Nase und so kräftig, dass der Hinterkopf mit dumpfem Aufprall zurück aufs Pflaster schlug.

Der Mann streckte alle viere von sich. Rhapsody stand auf und wischte sich die Blutspritzer von der Stirn. Hatten sich die Anwohner um den geprügelten Jungen nicht gekümmert, blieben sie jetzt stehen und hielten Maulaffen feil.

»Wie kommst du dazu, auf ein Kind einzutreten?«, keuchte Rhapsody.

Der Mann blinzelte ins helle Gegenlicht und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Er ... ist mein Sohn«, antwortete er mit erstickter Stimme.

»Ach, ja? Das ist also der Grund? Gut zu wissen«, entgegnete sie gallig und trat ihm mit voller Wucht zwischen die Beine, worauf er dieselbe Haltung annahm wie das Kind. Von den Gaffern, die in der Nähe standen, wandten sich einige mit Entsetzen ab.

»So, damit du nicht noch einmal Vater wirst. Denn dazu taugst du nicht!« Sie trat an die Seite des kleinen Jungen, der noch am Boden kauerte, und beugte sich über ihn.

In diesem Moment tauchte am anderen Ende der Straße eine Reitergruppe auf. Achmed sah, wie sich ein Soldat aus dieser Gruppe einem Passanten zuwandte, der mit ausgestrecktem Arm auf Rhapsodys deutete.

Diese versuchte, den in Lumpen gekleideten Jungen zu trösten, streichelte ihm die Wangen und fragte, ob alles in Ordnung sei. Der Kleine nickte und starrte sie mit offenem Mund an.

Rhapsody warf einen Blick über die Schulter zurück auf den Vater und fragte: »Wie heißt du?«

Auf einen Ellbogen gestützt, richtete der Mann sich auf und bedeckte die blutende Nase mit der Hand.

»Styles Nielsen«, hauchte er kaum vernehmlich.

»Hör mir gut zu, Styles Nielsen«, sagte sie mit tiefer, melodischer Stimme, und obwohl Achmed einige Schritte weit entfernt war, konnte er hören, dass sie ihre Kunst als Benennerin anwandte.

»Es ist von nun an dein Lebensauftrag, dieses Kind zu beschützen, liebevoll aufzuziehen und seinen Bedürfnissen zu entsprechen. Wenn du diesem Auftrag nachkommst, wird es dir gut gehen. Solltest du aber dem Kind Schmerz zufügen, wirst du das Zehnfache an Schmerzen erleiden. Und wenn du es mit Worten misshandelst, wirst du das Gefühl haben, als stünde deine Haut in Flammen. Hast du mich verstanden?« Der Mann nickte und starrte ihr mit dem gleichen Ausdruck ins Gesicht wie kurz zuvor sein Sohn.

Von den Reitern weiter oben auf der Straße abgelenkt, sah Achmed die beiden Wachsoldaten einen Augenblick zu spät. Schon hatte einer von ihnen Rhapsody beim Arm gepackt und auf die Straße gezerrt, während der andere ihr die Kapuze vom Kopf riss. Achmed rannte hinzu.

Plötzlich ging alles drunter und drüber. Die Reiter sprengten herbei, ohne Rücksicht auf die Menge der Passanten, die wie aufgescheuchte Hühner auseinander stieben. Die Gaffer rings um Rhapsody rückten nun vor und drängten sich in ihre Nähe. Achmed fuhr dazwischen. Er hatte sie fast erreicht. Ihr glänzendes Haar löste sich aus der schwarzen Schleife und fiel über die Schultern herab. Die Menge kreischte auf und streckte die Hände nach ihr aus. Achmed sah Rhapsody im Gewoge der Arme und Leiber verschwinden.

Jetzt waren auch die Reiter zur Stelle. Mit einem Knüppel bewaffnet, stieg einer von ihnen aus dem Sattel.

Achmed hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben und nicht umgerissen zu werden. Rhapsodys wildem Herzschlag folgend, drängte er durch das Gewimmel. Doch kaum hatte er sie bei ihrem schlanken Handgelenk gepackt, war auch schon der Soldat bei ihr, um sie zu ergreifen.

Da ertönte ein den beiden wohl bekanntes Brüllen, und plötzlich erhob sich ein Gezeter, Schreckensschreie, die sich vom Rand der Menge zur Mitte hin fortsetzten. Sogar die Pferde wieherten schrill und bäumten sich auf. In panischer Angst rannte alles auseinander. Achmed zog Rhapsody hinter sich her, heraus aus dem Gewühl und dem Ausgang des Dorfes entgegen. Im vollen Lauf zog er ihr die Kapuze über den Kopf und warf einen Blick zurück.

Die Panik schien sich halbwegs gelegt zu haben. Die Dörfler blickten in die Runde, offenbar auf der Suche nach der Frau mit den glänzenden Haaren. Für die Soldaten galt es, die Pferde zu beruhigen und zu verhindern, dass sie andere mit ihren Hufen nieder trampelten.

Achmed und Rhapsody hatten sich inzwischen so weit abgesetzt, dass sie es wagen konnten, anzuhalten und nach Luft zu schnappen. Sie starrte zurück, immer noch ganz benommen, wie es schien.

»Komm«, sagte er und zog sie an der Hand. Wortlos eilten sie weiter, so schnell und unauffällig wie möglich, weg von dem Aufruhr, den sie ausgelöst hatten.

Sie marschierten noch immer, als die Dämmerung einsetzte und sich über die Felder der orlandischen Ebene legte. Achmed hatte kurz angehalten, um Rhapsody Gelegenheit zu geben, ihre Andacht abzuhalten, und es entging ihm nicht, dass sie in ihren Liedern eine ähnliche melancholische Note anstimmte wie an dem Morgen nach ihrem Abschied von Llauron. Die traurige Musik half ihm jedoch, die bruchstückhaft in seinem Kopf umherschwirrenden Gedanken zu ordnen, und er hörte sie die Namen von Stephens Kindern flüstern.

Die Schatten wurden länger, und sie gelangten auf eine kleine von Bäumen und Büschen bewachsene Anhöhe. Grunthor hatte diesen Hain als möglichen Rastplatz empfohlen, weil er im Windschatten lag und geschützt war. Achmed schaute sich um und kam zu demselben Ergebnis wie der Freund: Dies war der Ort.

Er führte Rhapsody in die Deckung der Bäume und wischte einen umgestürzten Stamm frei von Schnee. »Setz dich«, sagte er. »Wir müssen miteinander reden.«

Rhapsody seufzte und setzte eine verzweifelte Miene auf. »Verschon mich bitte und erspare mir deine Schelte. Dass ich mich dumm verhalten habe, weiß ich selbst. Aber ich konnte nicht anders, ich konnte nicht tatenlos mit ansehen ...«

»Darum geht es gar nicht«, unterbrach Achmed sie mit leiser Stimme. »Man hat dir heute etwas Falsches beigebracht, eine uralte Geschichte voller Lügen. Ich will dir dabei helfen, sie zu läutern.«

Verwundert sperrte sie die Augen auf. »Wie bitte?«

Achmed nahm ihr gegenüber Platz, stemmte die Ellbogen auf die Knie und legte die Hände vor seinen Lippen zusammen.

»Warten wir, bis es Nacht geworden ist«, sagte er und schaute auf den Horizont, hinter dem die Sonne untergegangen war. »Im Dunkeln haben wir es leichter.«

Загрузка...