21

Je näher sie dem Meer kamen, desto dünner wurde die Schneedecke, bis schließlich braunes Gras darunter zum Vorschein kam. Über die kahlen Bäume fegte ein eisiger Wind, der noch weniger Mitleid zeigte als die Soldaten. Achmed und Grunthor machten einen großen Bogen um alle bewohnten Gebiete, um nahe einem geschützten Lagerfeuer schlafen zu können, ohne sich zu verraten. Nur wenn sie Proviant besorgen mussten, pirschten sie sich an leer stehende Häuser oder Scheunen heran.

Sie befanden sich jetzt in Avonderre und hatten in aufgeschnappten Gesprächen etliche Hinweise darauf erhalten, dass dieser Name eine Provinz bezeichnete, die ans Meer grenzte. Der Salzgeruch in der Luft war so kräftig, dass auch Grunthor ihn wahrnehmen konnte. So folgten sie ihren Nasen und näherten sich dem Meer, zwar langsam nur, weil sie nicht auf offener Straße reisen wollten, aber beständig Stück für Stück.

Die Siedlungen und Städte wurden größer und größer. Bald zeigte sich am Horizont eine Häuserfront, die kein Ende mehr zu nehmen schien. Anstelle der einfachen Hütten und Hofschaften, in denen die Landbevölkerung wohnte, erhoben sich hier geziegelte Bürgerhäuser mit schmuckvollen Eingangstüren und festen Schindeldächern.

Die Straßen waren doppelt so breit oder noch breiter als auf dem Lande, gepflastert und mit Bordsteinen gesäumt. Grunthor dachte daran, wie teuer das wohl alles gewesen sein mochte, und prustete unwillkürlich. Daheim waren nur die Straßen in den vornehmsten Vierteln der größten Städte gepflastert, und dort auch nur vor öffentlichen Gebäuden und Tempeln. In dieser Stadt jedoch, die mindestens dreimal größer war als Ostend, schien ausnahmslos jede Straße gepflastert zu sein.

Das Werft- und Hafengelände war, wie es schien, noch größer als die Stadt und erstreckte sich entlang der Küstenlinie weiter als das Auge reichte. Seine äußersten Eckpunkte bildeten zwei Fischerdörfer. Weiter zur Mitte hin lagen die Docks, aus edlem Holz und glänzenden Steinen gebaut, mit Aufschleppen und Anlegestellen aus poliertem Metall. Genau in der Mitte befand sich der Hafen, ein kolossales Becken, in dem mehr Schiffe festgemacht hatten, als Achmed und Grunthor zu zählen gewillt waren.

»Kaum zu glauben«, murmelte der Sergeant, als sie aus der Ferne beobachten konnten, wie hundert Handelsschiffe auf einmal gelöscht wurden und es dort vor lauter Fässern und Kisten und Pferden und Karren wimmelte wie auf einem Ameisenhaufen.

Achmed tippte dem Freund auf die Schulter und zeigte schräg nach oben. »Sieh dir erst einmal das an.«

Grunthor blickte auf von dem Haufen Kohle, die er im Hinterhof eines Grobschmieds aufgetrieben hatte und nun in einem großen Wachstuch zu transportieren gedachte. Die Sonne ging gerade unter und nahm den letzten Flecken blauen Himmels mit sich. An dessen Stelle machten sich mächtige Gewitterwolken breit, voller Regen und Wetterleuchten. Wenig später frischte der Wind auf und ließ einen Sturm erwarten.

»Herrje. Wir sollten schnellstens das Weite suchen.«

Achmed war bereits über die Mauer hinter der Schmiede gesprungen und rannte nach Norden. »In den Felsklippen am Stadtrand werden wir irgendwo Schutz finden. Komm! Wenn’s losgeht, wird’s sicher ungemütlich.«

Unter dräuendem Himmel und von Windstößen getrieben, hasteten sie auf die Klippen zu, die sich trotzig vor dem aufgewühlten Meer erhoben. Die Wellen rauschten und schleuderten den beiden salzige Gischt ins Gesicht.

Es war inzwischen ganz und gar düster geworden; nur hin und wieder rissen die Wolken auf und ließen für kurze Zeit den vollen Mond zum Vorschein treten.

»Schnell, suchen wir nach ’nem Unterschlupf«, drängte Grunthor.

Achmed sperrte die Augen auf, sah aber wenig mehr als zerklüftete Felsen und weiß schäumende Wellen. So gut Firbolg-Augen auch in unterirdischer Dunkelheit zu sehen vermochten, an der Oberfläche waren sie nachts ebenso eingeschränkt wie die Augen der Menschen.

»Vielleicht auf der anderen Seite«, schlug Achmed vor.

Grunthor schüttelte den Kopf und schüttelte dabei Wasser und Schweiß ab. »Nein, da ist nichts, nur glatter Fels, und das über Meilen. Aber weiter unten am Strand ist eine Art Grotte.«

»Spürst du das durch die Erde hindurch?«

»Ja.«

Langsam kletterten Achmed und Grunthor bergab, bis sie schließlich den sandigen Strand erreichten. Dort wechselten sie in einen zügigen Laufschritt über. Die ersten Tropfen fielen und trafen wie Eissplitter auf ihre Gesichter. Der Strand schlug einen Bogen um einen Hügel im Norden und folgte einem Flussarm, der sich in eine kleine Lagune öffnete. Sie war schon vom oberen Rand der Klippen zu sehen gewesen, die sich jetzt in langer, schwarzer Front wie eine Gebirgskette über ihnen auftürmten.

Als sie endlich das Ende der Felswand erreichten, fiel ihr Blick auf ein riesiges Bauwerk, das in weitem Abstand von vier weiteren Gebäuden umgeben war. Die Umrisse zeichneten sich im Dunkeln nur vage ab.

»Das ist ja ein Tempel«, rief Achmed. »Wie verrückt muss denn sein, der einen Tempel auf Sand baut?«

Der Sturm tobte so laut, dass Grunthor den Freund nicht richtig verstand. »Und so nah am Wasser. Seltsam, fürwahr. Solln wir einen Blick Reinwerfen?« Das lange Haar war tropfnass und klebte ihm in Strähnen auf der Stirn.

Achmed zögerte. Wo es Tempel gab, war auch mit Priestern zu rechnen, und er verabscheute Priester. Aber das hohe Gebäude war unbeleuchtet. Licht brannte nur in den vier entfernten Häusern ringsum, in denen aller Voraussicht nach die Geistlichkeit wohnte und wirtschaftete. In der Basilika selbst würden sie wohl am ehesten unentdeckt bleiben.

»Na schön«, murmelte er und zog die zerrissene Kapuze tiefer ins Gesicht. »Aber wehe dem Priester, der mir in die Quere kommt.«

Von weitem stellte sich ihnen der Tempel lediglich als ein massiges, gemauertes Gebilde dar, das hoch über dem Wasser aufragte. Als sie aber die Nordseite der Klippen erreichten, blieben sie unwillkürlich stehen und vergaßen über ihr Staunen den prasselnden Regen.

Der Tempel erhob sich aus der tobenden Brandung und zeigte mit einem sonderbar schiefen Turm landeinwärts. Der Sockel bestand aus großen vieleckigen Felsblöcken, die zwischen hohen Pfählen aus uraltem Holz kunstvoll aufgemauert waren. Zum Portal führte ein mit polierten Steinplatten im Sand ausgelegter Gehweg.

Ein brausender Windschwall schlug ihnen entgegen und zerrte an den notdürftigen Kleidern. Die vorbeifliegenden Regenwolken klafften einen Moment lang auf und ließen die Strahlen des Mondes passieren, die mit ihrem Glanz das ganze Bauwerk zum Leuchten brachten.

Der Tempel war so gebaut, dass er dem Bug eines großen Schiffswracks glich, der in steilem Winkel aus dem schroffen Fels am Strand herausragte. Die großen Tore, zusammengefügt aus Planken unterschiedlicher Längen, schienen ein großes, in den Kiel gerissenes Leck zu verschließen. Der schiefe Turm stellte, wie sich jetzt zeigte, den Mast dar. Überhaupt war das imaginäre Schiff detailgetreu nachempfunden bis hin zu den Navigationsinstrumenten. Das Takelwerk, filigran aus Marmor gearbeitet, war im Maßstab über fünfmal so groß wie in Wirklichkeit.

Ein Stück vor der Küste lag ein anderer Teil des Tempels, ein Anbau, der über einen einfachen beplankten Gehweg mit dem Hauptgebäude verbunden war. Dieser Steg war wie ein Großteil des Anbaus nur bei Ebbe sichtbar und ansonsten von der Flut überspült. Als Gegenstück zum strandseitigen Hauptteil des Tempels entsprach der Anbau einem ruinierten Achterschiff. Zwischen beiden Teilen lag, ein wenig zur Seite versetzt, ein riesiger Anker, der sich tief in eine Sandbank eingegraben hatte.

Trotz aller architektonischen Sorgfalt, mit der der Eindruck eines auf Grund gelaufenen Schiffswracks erzielt wurde, wirkte das Bauwerk ungemein solide. Es stand scheinbar unangefochten inmitten der tosenden Brandung. Grunthor stieß voller Anerkennung einen lang anhaltenden Pfiff aus.

»Criton. Was sagst du dazu, Achmed?«

Achmed fühlte sich nicht wohl so nahe am aufgewühlten Wasser. Das Meer mit seiner kolossalen Urgewalt und den ihm eigenen Schwingungen überlagerte die Herzschläge derer, denen er nachgejagt war, als er noch ein Gespür dafür gehabt hatte. Es war der einzige Ort, an dem sich ein Opfer vor ihm, Achmed, hätte in Sicherheit bringen können.

»Es scheint, dass die Anhängerschaft dieses Tempels in der Mehrzahl aus Händlern oder Fischern besteht. Und die müssen sehr reich sein. Ein so kostbares und aufwändiges Bauwerk habe ich nie zuvor gesehen. Es soll wohl an ein Unglück erinnern, das, wenn dem so ist, von großer Tragweite gewesen sein muss. Schade, dass Rhapsody nicht hier ist. Wahrscheinlich hätte ihr das alles mehr gesagt.«

»Ja. Wenn ich mich nich irre, stammt sie aus ’ner Seefahrerfamilie oder von Ostender Werftarbeitern ab. Unterwegs auf der Wurzel hat sie mal davon gesprochen, wie gern sie das Meer sehn würde.«

Achmed schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Rhapsody aus Ostend oder irgendeiner anderen großen Stadt kommt. Möglich, dass sie in den Kneipen und auf den Straßen von Ostend ein paar lebenswichtige Dinge gelernt hat, aber sie ist kein Großstadtkind. Dafür fehlt es ihr an Gerissenheit. Ich vermute, sie ist auf einem Bauernhof groß geworden, in eher ärmlichen Verhältnissen.« Der Wind schleuderte ihnen Sand ins Gesicht.

»Glaubst du, dass sie zurechtkommt?«

Achmed schlang den Umhang enger um sich. »Ja. Komm. Bald setzt die Flut wieder ein, und ich will, dass wir uns vorher die hinteren Aufbauten angesehen haben.«

»Und jetzt kommt der Regen.«

Sie warteten noch eine Weile, um nicht zufällig von einem Tempelbesucher überrascht zu werden. Es war aber bald so dunkel und stürmisch, dass sie nicht mehr fürchten mussten, entdeckt zu werden.

Der Sturm brüllte immer lauter. Der Regen fiel herab wie aus Kübeln gegossen und durchnässte beide Bolg bis auf die Knochen. Trotz Niedrigwasser donnerten gewaltige Brecher aufs Ufer zu, die mit weißer Gischt das Tempelfundament umspülten.

Das Mondlicht war nun vollständig erloschen. Die schwarzen, dahinjagenden Regenwolken hatten den Himmel für sich allein. Achmed und Grunthor erkletterten die Klippen und liefen über die Planken auf den Tempeleingang zu. Die Fackeln, die das Portal flankierten, waren längst vom Wind ausgeblasen worden.

Grunthor langte nach der schweren Klinke aus Messing. Der linke Türflügel ließ sich reibungslos öffnen. Die beiden traten ein und beeilten sich, die Tür hinter sich zuzuziehen.

Das von der Kleidung tropfende Regenwasser lief zwischen ihren Füßen zu einer Pfütze zusammen, als sie staunend zum schwindelnd hohen Gewölbe aufblickten. In den dunklen Stein der gewölbten Seitenwände war Treibholz in allen nur erdenklichen Längen und Breiten eingearbeitet, und man wähnte sich in der skelettierten Brust eines riesigen, auf dem Rücken liegenden Tieres, dessen Rückgrat den langen Mittelgang bildete, während die alten, gebrochenen Rippen nach oben ins Dunkle führten.

Wie Bullaugen saßen die Fenster in den hohen Wänden. Für Licht bei Tage sorgten zusätzlich durchscheinende Glasblöcke, die auf Grunthors Kniehöhe der Reihe nach in die Wände eingelassen waren. Dahinter schimmerte jetzt die schäumende Gischt der Brandung, deren reflektiertes Licht einen grünlichen Schimmer ins Innere der Basilika warf. Tagsüber würde sie in hellem Licht erstrahlen. Jetzt, bei Nacht, zumal während eines Gewitter stur ms, herrschte hier eine dermaßen gespenstische Stimmung, dass selbst Achmed nicht unberührt davon blieb und zu frösteln begann.

Kopfschüttelnd verspritzte Grunthor das Wasser in den Haaren. Es gab nirgends Bänke oder Sitzgelegenheiten jedweder Art, abgesehen von dem weiten Kreis marmorner Blöcke in der Mitte des Raumes. Trotz der unmittelbaren Nähe zum Meer und obwohl zumindest ein Teil des Bodens und der Wände unter dem Wasserspiegel lagen, war das Innere des Tempels überraschend trocken. Den beiden Bolg fiel allerdings auf, dass die steinernen Bodenplatten porös waren und offenbar Feuchtigkeit aufnehmen beziehungsweise ableiten konnten. Auf einen Wink von Achmed hin setzten sich die beiden Firbolg in Bewegung und gingen über den Mittelgang nach vorn, voller Bewunderung für das, was sie sahen. Die massigen Holzteile schienen zwar sorgfältig konserviert zu sein, zeigten aber deutlich den Verschleiß und die Abnutzung aus der Zeit ihrer ursprünglichen Verwendung als Schiffsmaterial. Die unterschiedlichen Farben und Formen deuteten darauf hin, dass sie von vielen verschiedenen Schiffen zusammengetragen waren. Über dem Mittelgang öffnete sich das Gewölbe in einen hohen Schacht, der in dunkler Nacht mündete. An seinem äußersten Rand waren kleine Schlitze eingelassen, durch die der Sturm und salzige Gischt pfiffen und widerhallend durch den Tempel heulten.

»Das wird der Mast sein«, sagte Grunthor. Achmed nickte.

Im Zentrum der kreisförmig angeordneten Marmorbänke befand sich ein kleiner runder Zierbrunnen, ebenfalls aus blau geädertem Marmor und umringt von mehreren größeren Wasserbecken aus demselben Material, die zum Rand hin in konzentrischen Ringen ausliefen, in denen sich das überlaufende Wasser sammelte. Aus dem Brunnen sprang ein pulsierender Wasserstrahl, mal mehr, mal weniger druckvoll, der in der Luft auseinander fächerte und auf das schaukelnde Wasser in den Becken herabregnete.

Auf der gegenüberliegenden Seite war wiederum ein großes, doppelflügeliges Tor auszumachen, aus Kupfer geschmiedet und mit einer Inschrift versehen, die sich für die beiden aus der Ferne nicht entziffern ließ. Sie wichen dem Brunnen aus und gingen weiter zum rückwärtigen Teil des Tempels. Das brausende Wasser jenseits der Mauern übertönte ihre Schritte.

Zu beiden Seiten der Kupfertüren hing je ein Wandleuchter mit rundem Glasschirm und einem Stück Metall als Docht. Als sie sich weit genug genähert hatten, konnten sie in der Inschrift eine Reihe von Runen erkennen, und Achmed glaubte, in manchen dieser Zeichen gewisse Ähnlichkeiten mit jener Schrift entdecken zu können, wie sie in Serendair gebräuchlich war.

In das Kupfer beider Türflügel war jeweils das Relief eines Schwerts eingearbeitet worden, das eine aufgerichtet, das andere mit der Spitze nach unten. Die Klingen zierte eine Gravur aus ornamentalen Schnörkeln, die wie Wellen anmuteten. Ein ähnliches Muster prangte an den Spitzen.

Der Hintergrund der Reliefs ließ Achmed stutzen. Darauf war ein geflügelter Löwe dargestellt, ein Wappen, das er schon einmal gesehen hatte. Es dauerte eine Weile, bis er es einzuordnen vermochte.

»Das ist das Wappen der Familie MacQuieth«, sagte er wie zu sich selbst, obwohl auch dem Freund jener legendäre Ritter und Favorit des Königs von Serendair sehr wohl bekannt war. »Wie kommt das wohl hierher?«

Grunthor rieb sich das Kinn und starrte auf die Türflügel:

»Hat man MacQuieth nich Nagall, den Fremden, genannt? Wenn ich mich nich irre, kam er in jungen Jahren von weither nach Serendair gesegelt. Vielleicht stammte seine Familie von hier.«

Achmed nickte. Er ärgerte sich über sich selbst. Das Tosen der Brandung brachte ihn ganz durcheinander und hinderte ihn daran, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Nun, das würde uns immerhin verraten, wo wir sind. Ich glaube, er stammte von Monodier.« Er langte nach der Klinke und versuchte die Tür zu öffnen, doch die war fest verschlossen. So auch der andere Türflügel.

»Das sind anscheinend die Türen zum Anbau«, sagte er und wischte sich die Handflächen am Umhang trocken.

»Gestatten?« Grunthor verbeugte sich höflich. Dann spukte er in die Hände, packte die Klinke und riss scheinbar mühelos die Tür auf. Schnell trat er zur Seite, als ihm Flocken von Gischt entgegenflogen. Jenseits der Tür, deren äußere Kupferseite grün-blau angelaufen war, führte eine breite Steintreppe hinunter auf den Plankensteg. Dort bildeten sich schon die ersten Pfützen. Die Flut hatte eingesetzt. Die Unterarme schützend vor das Gesicht gehoben, traten die beiden Männer in den Sturm hinaus, wobei Grunthor Achmeds Schulter gepackt hielt. Der lange und schmale Steg überquerte eine Sandbank und war voller Tang und Treibgut, die das Niedrigwasser zurückgelassen hatte.

So schnell wie möglich eilten sie über die Planken hinweg, ständig in Gefahr, von wuchtigen Böen umgestoßen zu werden. Einmal hielt Grunthor kurz an, um eine große, seltsam geformte Muschelschale aufzuheben, die sich im Holz verkeilt hatte.

Als sie den Anbau erreichten, stellten sie fest, dass da keine Tür war, die das Innere vor dem Ansturm des Meeres geschützt hätte. Bei Flut würde es unter Wasser stehen, und wie sich an den Pegelspuren der feuchten Wände zeigte, wäre Achmed bis zur Schädeldecke überschwemmt. Vor dem offenen Torbogen lag ein großer, verrosteter Anker im Sand, der als Schwelle diente.

Ohne lange zu zögern, sprangen die beiden darüber hinweg, betraten den Innenraum und sahen sich staunend darin um.

Im Unterschied zu dem Tempel, der nur so gebaut war, dass er den Anschein eines Schiffes erweckte, war dieser Anbau tatsächlich Teil eines Schiffes, das mit steil aufgerichtetem Vorsteven im Sand steckte und offenbar einmal als stattliche Kogge die Meere befahren hatte. Ein gut Teil des Achter- und Quarterdecks war von dem Wrack noch übrig geblieben, deren Spanten nun die Wände des Anbaus bildeten. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass das Schiff nicht etwa aus Holz gebaut war, sondern aus einem Material, das die beiden nie zuvor gesehen hatten.

In der Mitte des Raumes stand, ebenfalls im Sand eingekeilt, ein steinerner Tisch, ein Block aus massivem Obsidian, glänzend schwarz unter den Wasserpfützen, die mit jedem Windstoß darüber hinwegspülten. In dem Stein steckten zwei Klammern aus einem Metall, das den beiden ebenfalls völlig unbekannt war und seltsamerweise überhaupt keinen Rost angesetzt hatte.

Auf der Oberfläche des Steins waren Runen eingemeißelt, die das beständige Kommen und Gehen des Wassers inzwischen fast gänzlich ausgespült hatte. Von der Inschrift zeugten nur noch letzte Schatten auf der blanken Oberfläche.

Auf der Frontseite des Steinblocks steckte eine Plakette mit Reihe von Runen erkennen, und Achmed glaubte, in manchen dieser Zeichen gewisse Ähnlichkeiten mit jener Schrift entdecken zu können, wie sie in Serendair gebräuchlich war.

In das Kupfer beider Türflügel war jeweils das Relief eines Schwerts eingearbeitet worden, das eine aufgerichtet, das andere mit der Spitze nach unten. Die Klingen zierte eine Gravur aus ornamentalen Schnörkeln, die wie Wellen anmuteten. Ein ähnliches Muster prangte an den Spitzen.

Der Hintergrund der Reliefs ließ Achmed stutzen. Darauf war ein geflügelter Löwe dargestellt, ein Wappen, das er schon einmal gesehen hatte. Es dauerte eine Weile, bis er es einzuordnen vermochte.

»Das ist das Wappen der Familie MacQuieth«, sagte er wie zu sich selbst, obwohl auch dem Freund jener legendäre Ritter und Favorit des Königs von Serendair sehr wohl bekannt war. »Wie kommt das wohl hierher?«

Grunthor rieb sich das Kinn und starrte auf die Türflügel:

»Hat man MacQuieth nich Nagall, den Fremden, genannt? Wenn ich mich nich irre, kam er in jungen Jahren von weither nach Serendair gesegelt. Vielleicht stammte seine Familie von hier.«

Achmed nickte. Er ärgerte sich über sich selbst. Das Tosen der Brandung brachte ihn ganz durcheinander und hinderte ihn daran, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Nun, das würde uns immerhin verraten, wo wir sind. Ich glaube, er stammte von Monodier.« Er langte nach der Klinke und versuchte die Tür zu öffnen, doch die war fest verschlossen. So auch der andere Türflügel.

»Das sind anscheinend die Türen zum Anbau«, sagte er und wischte sich die Handflächen am Umhang trocken.

»Gestatten?« Grunthor verbeugte sich höflich. Dann spukte er in die Hände, packte die Klinke und riss scheinbar mühelos die Tür auf. Schnell trat er zur Seite, als ihm Flocken von Gischt entgegenflogen. Jenseits der Tür, deren äußere Kupferseite grün-blau angelaufen war, führte eine breite Steintreppe hinunter auf den Plankensteg. Dort bildeten sich schon die ersten Pfützen. Die Flut hatte eingesetzt. Die Unterarme schützend vor das Gesicht gehoben, traten die beiden Männer in den Sturm hinaus, wobei Grunthor Achmeds Schulter gepackt hielt. Der lange und schmale Steg überquerte eine Sandbank und war voller Tang und Treibgut, die das Niedrigwasser zurückgelassen hatte.

So schnell wie möglich eilten sie über die Planken hinweg, ständig in Gefahr, von wuchtigen Böen umgestoßen zu werden. Einmal hielt Grunthor kurz an, um eine große, seltsam geformte Muschelschale aufzuheben, die sich im Holz verkeilt hatte.

Als sie den Anbau erreichten, stellten sie fest, dass da keine Tür war, die das Innere vor dem Ansturm des Meeres geschützt hätte. Bei Flut würde es unter Wasser stehen, und wie sich an den Pegelspuren der feuchten Wände zeigte, wäre Achmed bis zur Schädeldecke überschwemmt. Vor dem offenen Torbogen lag ein großer, verrosteter Anker im Sand, der als Schwelle diente.

Ohne lange zu zögern, sprangen die beiden darüber hinweg, betraten den Innenraum und sahen sich staunend darin um.

Im Unterschied zu dem Tempel, der nur so gebaut war, dass er den Anschein eines Schiffes erweckte, war dieser Anbau tatsächlich Teil eines Schiffes, das mit steil aufgerichtetem Vorsteven im Sand steckte und offenbar einmal als stattliche Kogge die Meere befahren hatte. Ein gut Teil des Achter- und Quarterdecks war von dem Wrack noch übrig geblieben, deren Spanten nun die Wände des Anbaus bildeten. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass das Schiff nicht etwa aus Holz gebaut war, sondern aus einem Material, das die beiden nie zuvor gesehen hatten.

In der Mitte des Raumes stand, ebenfalls im Sand eingekeilt, ein steinerner Tisch, ein Block aus massivem Obsidian, glänzend schwarz unter den Wasserpfützen, die mit jedem Windstoß darüber hinwegspülten. In dem Stein steckten zwei Klammern aus einem Metall, das den beiden ebenfalls völlig unbekannt war und seltsamerweise überhaupt keinen Rost angesetzt hatte.

Auf der Oberfläche des Steins waren Runen eingemeißelt, die das beständige Kommen und Gehen des Wassers inzwischen fast gänzlich ausgespült hatte. Von der Inschrift zeugten nur noch letzte Schatten auf der blanken Oberfläche.

Auf der Frontseite des Steinblocks steckte eine Plakette mit einer ähnlich erhabenen Runenprägung wie an den Kupfertüren. Und so wie die Klammern auf der Oberseite war die Plakette ohne jede Spur von Rost.

»Dies erinnert an die Schriftsprache von Serendair«, bemerkte Achmed und beugte sich tiefer, um die Zeichen aus der Nähe zu studieren. »Ich wünschte, Rhapsody wäre hier.«

»Du wiederholst dich«, entgegnete Grunthor grinsend. »Davon werd ich ihr berichten.«

»Sie würde dir nicht glauben oder allenfalls annehmen, dass ich sie ins Wasser stoßen wollte«, sagte Achmed. Er nahm sein Gepäck von der Schulter und stellte es auf dem Steinblock ab. Wortlos zog er das Wachstuch mit der Kohle daraus hervor, breitete das Tuch über der Plakette aus und pauste die Runen ab, indem er mit einem Kohlestück darüber rieb. »Na bitte, wir kommen auch ohne sie zurecht. Und jetzt sollten wir besser von hier verschwinden, bevor die Flut kommt.«

Grunthor nickte. Das Wasser reichte ihm schon bis zu den Knöcheln. Bald würde die Sandbank überflutet sein.

Achmed schulterte sein Bündel. Dabei streifte er mit der Hand den Steinblock, worauf er ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen spürte. Er bückte sich wieder und musterte diesmal den Stein von nahem. Der war zweifelsfrei ein schwarzer Obsidian, von beachtlicher Größe, ansonsten aber ziemlich unauffällig. Trotzdem ging eine Schwingung davon aus, die ihm ganz und gar fremd, zugleich aber auf seltsame Weise vertraut vorkam. Er blickte zu Grunthor auf.

»Fühlt sich der auch für dich so merkwürdig an?«

Der Riese legte die Hand auf den Stein und schüttelte den Kopf. »Nein. Fühlt sich kalt wie Marmor an und schön glatt poliert vom Wasser.«

Achmed zog seine Hand zurück. Dass er die Schwingungen nun nicht mehr spürte, erleichterte ihn zwar, gleichzeitig aber war ihm, als sei etwas verloren gegangen. Doch darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen; die Zeit drängte, denn die Flut hatte eingesetzt.

Sie traten in den brüllenden Sturm hinaus und wateten durch knietiefes Wasser zum Tempel zurück. Darin angekommen, zog Grunthor das Kupfertor hinter sich zu, seufzte und fragte: »Na, was hältst du von alledem?«

Achmed zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, aber vielleicht kann ...« Er stockte und zog, verärgert über sich selbst, die Stirn kraus.

Grunthor prustete vor Lachen. »Ja, ja, vielleicht kann sie sich ’n Reim darauf machen. Das wolltest du doch sagen, stimmt’s?«

»Wie auch immer, wir sollten umkehren«, sagte Achmed und wischte sich das Wasser von den Schultern, als sie schnellen Schritts die Basilika durchquerten. »Wir haben eine Verabredung mit ihr einzuhalten, und wer weiß, wie lange wir für den Rückweg brauchen.«

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