40

Ashe stand vor einer Senke, die sich tief in die Ebene der Krevensfelder einschnitt, als ihn eine erste Ahnung überkam. Er glaubte etwas Fremdes zu spüren, etwas, das sich hier zum allerersten Mal dem Kreis seiner Wahrnehmung näherte.

Macht, flüsterte der Drache in seinem Blut. Faszinierende Macht. Ich will sie berühren. Der Drache in ihm sorgte ständig für Streit. Er war ihm als ein fester Bestandteil seines Wesens einverleibt, folgte aber seinem eigenen Willen, und obwohl Ashe sich immer wieder zur Wachsamkeit aufrief, hatte er sich doch mit den Jahren an ihn gewöhnt.

Auch verdankte er ihm seine überaus scharfen Sinne. Dank seines Drachenanteils nahm er Notiz von den winzigsten Details. Er konnte jeden Grashalm der Wiese, auf der er nun stand, fühlen und spüren, wenn er denn nur dem Drachen freie Hand gab. Doch genau das versuchte Ashe nach Möglichkeit zu vermeiden, denn der Drache war unberechenbar und trachtete nach immer mehr Freiheiten.

Seine Sinne fehlten nie. Es war tatsächlich etwas Fremdes in der Nähe, etwas, das uralt, abnorm und faszinierend zugleich war. Und ungemein mächtig. Nach einer Weile ahnte Ashe auch, wo es sich aufhielt: in Bethe Corbair. Er seufzte. Städte waren ihm verhasst. Er machte immer einen großen Bogen um sie und suchte stattdessen Schatten und Einsamkeit. Es war nicht klug, sich als Gejagter unter Menschen zu begeben.

Aber man konnte ja auch in der Menge untertauchen. Dass er das hin und wieder tat, hätte bekannt sein können, wenn denn überhaupt etwas über ihn bekannt gewesen wäre – was jedoch nicht der Fall war. Obwohl Ashe durchaus sichtbare Konturen hatte, wurde er schlankweg übersehen. Er hüllte sich in Nebelschleier, das heißt in einen Mantel, der zwar aus Wolle gemacht war, ihn aber dank einer dem Wasser eigenen Kraft auf mysteriöse Weise tarnte.

Aus diesem Grund blieb er in seiner leiblichen Gestalt dem bloßen Auge verborgen, und selbst mit jenen Geräten, die Schwingungen im Wind zu messen vermochten, waren sein Pulsschlag und der Atem seiner unsterblichen Seele nicht aufspüren. Und das war gut so, denn der Schmerz, den er an Körper und Seele zu tragen hatte, hätte ihn überall auf den Präsentierteller gehoben. Ashe war ein Paradoxon: selbst unbemerkt, aber alles gewahrend.

Ich will es berühren, beharrte der Drache. Und statt ihn zu rügen, wie er es sonst tat, musste Ashe ihm jetzt zustimmen. Auch er war gespannt darauf zu erfahren, wer oder was sich hinter dieser neuen Macht in Bethe Corbair verbarg. Lautlos folgte er dem bewegten Schatten der Morgensonne über die Ebene, bis er die Stadttore erreichte, die er unbemerkt passierte.

»Und dass du mir nur ja nichts klaust.«

Jo verdrehte die Augen. »Ach, Bruder ...«

Rhapsody zuckte zusammen und warf einen Blick auf Achmed, der aber unter seiner Kapuze zu schmunzeln schien. »Vorsicht«, sagte sie, wieder an Jo gewandt, »mit einer ganz ähnlichen Wortwahl habe ich mir einmal großen Ärger eingehandelt.«

Ein großer Karren, gefüllt mit Weidenkörben, kam so dicht vorbeigerumpelt, dass sich Jo mit einem schnellen Satz in Sicherheit bringen musste. Vor den hohen Mauern von Bethe Corbair herrschte Hochbetrieb, und das Lärmen der Menge war schon von fern zu hören gewesen. Es lag eine knisternde Spannung in der Luft, eine gereizte Stimmung, wie sie für eine so große Stadt am Rand der Wildnis durchaus typisch war.

»Wir sind seit Wochen unterwegs. Da kann’s doch nicht so schlimm sein, wenn man die Gelegenheit nutzt und ein paar Leuten die Taschen lehrt«, entgegnete Jo.

Rhapsody hob einen kleinen, mit Münzen gefüllten Beutel in die Höhe. »Wie wär’s zur Abwechslung damit, für das, was du brauchst, zu zahlen?«

»Das ist dein Geld«, antwortete sie mit trotzigem Blick.

»Nein, unser Geld«, korrigierte Rhapsody und löste den Lederriemen, der den Beutelsaum raffte. »Wir gehören zusammen, Schwester, oder hast du das schon vergessen?«

Sie nahm Jos Hand, öffnete sie und schüttete die Hälfte des Beutelinhalts hinein. »Da hast du was zum Verschlucken, wie mein Vater gesagt hätte. Aber gib nicht alles aus. Wer weiß, wann sich unsere Reisekasse wieder füllt.«

»Na, wir sind schließlich in einer Stadt«, sagte Achmed mit Blick auf das Stadttor. »Da liegt das Geld für dich doch so nahe wie die nächste Straßenecke. Bei deinen Erwerbstalenten ...«

Rhapsody strafte ihn mit ihren Blicken. »Wie bitte?«

»Als Musikant«, präzisierte Achmed. »An was hast du denn gedacht?«

»Musst du dir deine Beleidigungen eigentlich vorher im Kopf zurechtlegen oder kommen sie dir ganz natürlich über die Lippen? Wie auch immer, sie treffen mich nicht. Komm, Jo«, sagte sie und zog ihre Kapuze bis tief in die Stirn. »Wir treffen uns dann zur Mittagstunde vor der Basilika, Achmed. Ich bin sicher, wir werden irgendwo in der Stadtmitte einen Gasthof finden, wo wir essen können.«

Sie nahm Jo bei der Hand und folgte der Menge in die Stadt von Bethe Corbair, der letzten großen Ortschaft an der Grenze zu den Bolgländern.

Grunthor und Achmed warteten, bis die beiden nicht mehr zu sehen waren. Dann machten sie sich auf den Weg rund um die Stadtmauer, zu der sie, um nicht aufzufallen, immer gehörig Abstand hielten. Als sie ihren Erkundungsgang beendet hatten, legten sie am Nordrand der Stadt eine Rast ein, um sich zu beratschlagen. Neben der von einer Mauer umschlossenen Innenstadt gehörte zu Bethe Corbair außerdem eine Reihe versprengter Gehöfte und kleiner Siedlungen.

Im Osten der Grenzstadt ragten die so genannten Zahnfelsen auf, eine Gebirgskette, die den Bewohnern der im Westen Vorgelagerten Ebene von jeher Angst machte. Für Raubzüge der Bolg gab es keinerlei Anzeichen. Hätte es in jüngster Zeit welche gegeben, wären mit Sicherheit Spuren davon zurückgeblieben. Nichtsdestotrotz fühlten sich die Anlieger offenbar wohler in Sichtweite der befestigten Stadt, was darauf schließen ließ, dass es in der Vergangenheit schlimme Übergriffe gegeben hatte.

»Schau dich noch ein bisschen im Umkreis um«, sagte Achmed zu Grunthor. »Wir treffen uns dann bei Sonnenuntergang am Ostrand.« Der Dhrakier schaute dem Freund nach, bis dieser verschwunden war; dann drehte er sich um und ging durchs Tor zur Stadt hinein.

Bethe Corbair war eine alte Stadt, viel älter noch als Navarne, obwohl beide Provinzen nach Stephens Auskunft ungefähr zur gleichen Zeit besiedelt worden waren. Rhapsody dachte zurück an den Geschichtsunterricht, den ihr Llauron und Herzog Stephen erteilt hatten.

Navarne und Bethania war von den Mitgliedern der Ersten Flotte zu ihrer Heimat gemacht worden, also von jener Emigrantengruppe, die mehrheitlich aus jenen Städteplanern, Architekten und Maurern bestand, welche von Gwylliam losgeschickt worden waren, um den Cymrern neue Wohnungen zu bauen. Zuerst errichteten sie in aller gebotenen Eile Wachtürme und kleine Gehöfte, danach ließen sie sich Zeit für die öffentlichen Anlagen. Dies erklärte die Schönheit der Städte. Sie waren von Anfang an sinnvoll entworfen und mit großer handwerklicher Sorgfalt gebaut worden.

Im Unterschied dazu war Bethe Corbair von den Mitgliedern der Dritten Flotte errichtet worden, also der Gruppe um Gwylliam, die im Wesentlichen aus Soldaten, Bauern, Händlern und ungelernten Arbeitern zusammengesetzt war. Sie legten vor allem Wert auf Zweckmäßigkeit und hohe, starke Mauern, die auch heftigsten Angriffen standhalten konnten. Mit der Zeit hatte sich der martialische Charakter der Stadt verloren, doch immer noch war ihr eine gewisse Trotzhaltung zu Eigen. Nicht, dass sich dieser Aspekt auf ihre Einwohnerschaft übertragen hätte. Sie war wie jede andere Stadtbevölkerung eine bunt gemischte Schar gesitteter und ungesitteter, hoch gestellter und ärmlicher, gebildeter und ungebildeter Leute. Im Großen und Ganzen herrschte ein friedliches Nebeneinander, und so konnten Handel und Handwerk gedeihen, und in den Straßen lärmte und wimmelte geschäftiges Leben.

Was Bethe Corbair einzigartig machte, war die Musik. Rhapsody schlenderte wie verzaubert durch die Straßen und lauschte den melodischen Klängen der Glocken im Turm der Basilika, Klängen, die der Willkür des Windes entsprangen und ein Gefühl von ungestümer Freiheit wachriefen, was Rhapsodys Herz höher schlagen ließ.

Die Städter gingen ihren Geschäften nach, ohne der Musik Beachtung zu schenken. Die übte aber dennoch ihre Wirkung auf sie aus, vor allem wenn die Glocken in besonders hellen Tönen läuteten; dann hörten die Händler zu feilschen auf, Fischweiber zeterten nicht mehr so schrill, und streitende Kinder schlössen wieder Frieden.

Jo zappelte vor Ungeduld. »Das ist langweilig«, nörgelte sie, als Rhapsody vor dem Verkaufstisch eines Tuchhändlers stehen blieb. »Ich halt’s nicht mehr aus. Viel lieber würde ich auf eigene Faust umherziehen.«

»Tu das«, antwortete Rhapsody nach kurzem Zögern. »Wir treffen uns dann zur verabredeten Zeit vor der Basilika. Wenn du mich nicht findest, sieh dich nach Achmed um. Und denk daran: Lass nur ja nichts heimlich mitgehen. Ich will nicht, dass man dir die Hand abschlägt.« Sie grinste über die Grimasse, die das Mädchen in Reaktion auf ihre Warnung schnitt. Gleich darauf war Jo in der Menge verschwunden.

Ashe sah sich auf dem Wochenmarkt in der Stadtmitte um. Er war, von den Krevensfeldern kommend, durch das Südtor in die Stadt gelangt. Das fremde Etwas, dessen Kraft er spürte, hielt sich aber irgendwo im Osten auf. Jedenfalls tat dies zumindest ein Teil von ihm; ein anderer Teil schien sich abgespalten zu haben und am Rand der Reichweite seiner Drachensinne in der Stadt zu kreisen. Es hatte andere Eigenschaften als der andere Teil und war so gleichmäßig in seinen Bewegungen, dass er nicht zu unterscheiden vermochte, ob es sich um ein Lebewesen handelte oder womöglich um einen Gegenstand auf einem fahrenden Karren.

Dass er die Kraft nicht identifizieren konnte, machte Ashe nervös. Gewöhnlich tat er sich in solchen Dingen sehr viel leichter. Doch aus irgendeinem Grund blieb ihm diese Kraft in der von ihr angenommenen Gestalt verborgen. Der Drache in ihm wand sich vor Ungeduld. Nur den zahllosen Ablenkungen, die der Markt zu bieten hatte, verdankte es Ashe, ihn unter Kontrolle zu halten. Er trat einen Schritt zur Seite, als ihm ein Trunkenbold entgegenwankte, dem offenbar ein Übermaß an Schnaps und das willkommene Tauwetter zu Kopf gestiegen waren. Er taumelte so unberechenbar hin und her, dass Ashe genau Acht geben musste, um einem drohenden Zusammenstoß vorzubeugen. Dadurch war seine Aufmerksamkeit einen Moment lang abgelenkt.

Als er seine Sinne zurück auf die Quelle der ominösen Kraft richtete, schien sie sich wiederum aufgeteilt zu haben. Zu einem der Aspekte fühlte er sich besonders stark hingezogen; es war der, der in der Nähe weilte und eine unwiderstehliche Wärme ausstrahlte.

Ashe war alarmiert, wusste er doch, dass die Diener des Feuers seine gefährlichsten Jäger waren. Nur weil er stets und überall ihren Fallen hatte ausweichen können, war er noch am Leben. Wie auch immer, das Unheil hielt sich in der Nähe auf; früher oder später würde es auf den Marktplatz kommen. Er beschloss, darauf zu warten.

Derweil musste er sich mit seinem Drachen auseinander setzen. Einer der Gründe dafür, dass er Städte mied – vor allem solche, die wie Bethe Corbair an einer bedeutenden Handelsroute lagen –, war die Faszination des Drachen für alle möglichen Handelsgüter. Er geriet geradezu außer sich, als sie an einem Stand vorbeikamen, der, von einer Glasscheibe abgedeckt, Edelsteine ausstellte.

Wie wunderschön, flüsterte es in seiner Seele. Das will ich berühren.

Kommt gar nicht in Frage, antwortete Ashe entschieden.

Ich will’s berühren.

Nein. Er wandte sich ab und ging. Die Händlerin hatte seine Nähe anscheinend irgendwie gespürt und kurz aufgeblickt, sich aber, als sie niemanden sah, wieder der Auslage gewidmet. Auch der nächste Stand mit seinem Angebot feinster Gewürze gefiel dem Drachen. Pfefferkörner. Die will ich zählen, flüsterte er erregt und notierte jedes einzelne Körnchen, jede Bohne, jede Flocke und jedes Tröpfchen. Ashe gebot ihm Einhalt. Nein. Er hielt nach der Kraftquelle Ausschau. Parfüm und Amber; das stammt aus dem Erbrochenen eines Leviathan, der siebzehn Makrelen gegessen hat und hundertsiebzig ...«

Schluss jetzt!

Sieh nur, die Stoffe da. Heute gibt’s keine Seide, nur Leinen, Samt und Wolltücher in dreizehn verschiedenen Webarten, dunkelblau, hellblau, violett, indigoblau...«

Gib Ruhe! Ashe drehte sich um. Es war ganz nahe. Mit Nachdruck brachte er den Drachen zum Schweigen und versuchte, klar zu sehen.

Auf der anderen Straßenseite gab es Streit. Auslöser schien eine junge Frau zu sein, in Grau gekleidet wie er. Von der fremden Kraft angelockt, rückte er näher.

Auch Rhapsody wurde geplagt von den Begehrlichkeiten ihres ganz persönlichen Drachentiers, dem Wunsch, mit der Hand über die herrlichen Stoffe zu fahren, die vor ihr ausgebreitet waren. Ganz besonders hatte es ihr der cremefarbene Samt angetan, der aber viel zu teuer für sie war. Seufzend schlenderte sie weiter, von einem Marktstand zum anderen.

Am Ende der Straße fiel ihr Blick auf einen Tisch voll funkelnder Gegenstände, die sich wie Sonnenglanz auf fließendem Wasser zu bewegen schienen. Neugierig eilte sie darauf zu.

Vor dem Tisch des Händlers angekommen, erkannte sie in den vermeintlichen Lichtspielen prunkvolles Geschmeide, vornehmlich Ohrringe, viel Protz, aber auch ein paar wertvolle und besonders edle Stücke. Rhapsody hatte eine Schwäche für schöne Dinge, was sie aber ihren Bolg-Gefährten gegenüber niemals eingestehen würde. In deren Abwesenheit jedoch gestattete sie sich nun das Vergnügen, den schillernden Plunder nach Lust und Laune zu bestaunen.

Der Händler hatte gerade einen anderen Kunden verabschiedet und nahm argwöhnisch Bestand von seiner Ware auf, ehe er zu Rhapsody aufblickte, der er offenbar zutraute, dass sie lange Finger machte. Wegen ihres lirinschen Aussehens solchen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein war sie schon von Ostend her gewohnt. Verstehen konnte sie diesen Argwohn nicht. Lirin legten nämlich keinen Wert auf materiellen Besitz, schon gar nicht auf so nutzlose Dinge wie Ohrringe oder Halsketten. Deshalb war für sie auch überhaupt nicht nachzuvollziehen, warum ihr alle Händler und Kaufleute gleichsam reflexhaft unterstellten, diebische Absichten zu hegen. Und obwohl sie sich vorgenommen hatte, solche Zumutungen nicht weiter ernst zu nehmen, geriet ihr Blut doch immer wieder in Wallung. Sie schluckte, trotzte ihrer Verdrossenheit eine freundliche Miene ab und machte auf dem Absatz kehrt.

»Junge Frau?« In der Stimme des Händlers schwang ein Ton der Klage mit. Unwillkürlich hob Rhapsody die geöffneten Hände in der Annahme, des Diebstahls bezichtigt zu werden.

»Ja?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

»Bitte, bleib doch noch. Wie gefällt dir mein Angebot?«

Rhapsody drehte sich wieder um. Der Händler zeigte jetzt ein ganz anderes Gesicht als vorhin, als er einem kahlköpfigen Kunden zu einem bereits gekauften Ring noch eine passende Krawattennadel aufzuschwatzen versucht hatte. Seine Augen waren weit aufgesperrt, als wunderte er sich über etwas, und er klammerte sich derart krampfhaft an der Theke fest, dass die Knöchel der Hand weiß angelaufen waren.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte Rhapsody besorgt. Der Händler schüttelte den Kopf. »Du hast wirklich sehr schöne Sachen zum Verkauf. Aber ich wollte sie mir einfach nur ansehen«, sagte sie und schickte sich an zu gehen.

»Junge Frau?«, hakte er in drängendem Tonfall nach.

Rhapsody seufzte, ließ sich aber ihren Unmut nicht anmerken und schaute zurück. Das Gesicht des Händlers war rot angelaufen, und seine Hände zitterten.

»Ist dir nicht wohl?«, fragte sie alarmiert und langte nach ihrem Wasserschlauch, um ihm zu trinken zu geben. Doch der Mann schüttelte den Kopf, zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Stirn.

»Nein, danke. Aber bleib doch noch. Wäre da vielleicht ein Stück, das dir besonders gut gefällt?«

»Wie gesagt, ich wollte nur ...«

Der Mann nahm zwei goldene Ohrringe aus seinem Sortiment und hielt sie ihr hin. »Die passen ganz vorzüglich zu deinem Medaillon. Steck sie doch ruhig einmal an.«

Rhapsody musterte die dargebotenen Schmuckstücke, die ihr schon als besonders hübsch aufgefallen waren. In ihrer schlichten, aber eleganten Form passten sie tatsächlich sehr gut zu dem goldenen Anhänger, den sie immer trug. Zweifellos kosteten sie weit mehr, als ihr an Geld zur Verfügung stand. Beim Anblick der blinkenden Schmuckstücke schlug ihr das Herz höher, obwohl sie der Verstand mahnend daran erinnerte, dass Straßenhändlern gegenüber, die allzu vollmundig für ihre Ware Reklame machten, Vorsicht angesagt war. Und weil sie sich meist schwer tat, wenn es darum ging, Verzicht zu üben, hatte sie um den Diebesmarkt, wie der Bazar in Ostend genannt wurde, in der Regel einen großen Bogen gemacht.

»Greif zu, junge Frau. Sie sind wie für dich gemacht. Steck sie dir doch mal ans Ohr. Tu mir den Gefallen.« Seine Hartnäckigkeit hätte selbst den naivsten Kunden argwöhnisch gemacht.

»Sei’s drum«, sagte Rhapsody entnervt. »Aber eins muss klar sein: Kaufen werde ich sie auf keinen Fall.« Sie nahm die Ohrringe aus der Hand des Juweliers entgegen und warf die Kapuze in den Nacken zurück, um sie anzustecken.

Das Gold war von besonderer Güte, was ihr sofort auffiel, als sie den Schmuck in der Hand hielt. Sie erinnerte sich an den stolzen Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter, als sie, Rhapsody, das Medaillon ausgepackt hatte, für das die Mutter, wie ihr schon damals bewusst gewesen war, sehr viel Geld ausgegeben hatte. Im Vergleich zu den Ohrringen wirkte es weniger kostbar, war ihnen aber in der handwerklichen Verarbeitung durchaus ebenbürtig. Im Hintergrund wurde plötzlich ein ohrenbetäubendes Kreischen laut, gefolgt von einem Krachen und Splittern von Holz. Rhapsody fuhr vor Schreck zusammen.

Sie warf die Ohrringe auf den Tisch zurück und drehte sich um. Wenige Schritte hinter ihr waren zwei Ochsengespanne frontal zusammengestoßen; der erste Karren hatte Schlagseite und drohte auf den Stand des Juweliers zu kippen.

Die Zugtiere schnaubten und brüllten in Panik, als die Kutscher wie wild an den Zügeln zerrten. Kurz entschlossen tauchte Rhapsody unter den Tisch und hievte ihn auf dem Rücken aus der Gefahrenzone, ohne dass dabei auch nur ein einziges Schmuckstück verrückt oder gar verloren gegangen wäre. Der Juwelier stand wie gelähmt daneben.

Inzwischen hatten die Kutscher die Situation wieder halbwegs im Griff und manövrierten unter lautstarken Flüchen die ineinander verhakten Karren auseinander. Rhapsody machte sich sogleich daran, den Stand zurück an seinen Platz zu rücken. Der Juwelier schien immer noch unter Schock zu stehen, und so reichte sie ihm ihren Wasserschlauch. Er trank daraus, ohne die weit aufgesperrten Augen von ihr zu lassen.

Bald war der Stand wieder da, wo er hingehörte, und nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass keines der Schmuckstücke fehlte, klopfte sie dem Mann den aufgewirbelten Staub aus den Kleidern und zog behutsam den Schlauch aus seinen starren Händen.

Armer Kerl, dachte Rhapsody. Der Schreck ist ihm in die Gliedergefahren. »Geht’s wieder?«, fragte sie und erhielt zur Antwort ein benommenes Nicken. Es überraschte sie, dass er so lange brauchte, um sich zu erholen. Nach ihrer Erfahrung waren die Händler auf einem Markt meist sehr viel robuster. Ein Zwischenfall dieser Art hätte den wenigsten so sehr zugesetzt. Aber was wusste sie auch schon über Land und Leute in dieser für sie noch so fremden Welt? Außerdem war der Juwelier schon fortgeschrittenen Alters. Sie hatte sich bereits umgedreht, um weiterzugehen, als ihr der Mann hinterher rief:

»Junge Frau?«

Seufzend drehte sich Rhapsody um – ein letztes Mal, wie sie hoffte. Nana hatte ihr beizubringen versucht, wie man sich möglichst höflich aus dem Staub machte, was ihr, Rhapsody, aber nie so recht gelingen wollte. »Ja?«

Der Juwelier hielt ihr die Ohrringe hin. »Nimm sie, und vielen Dank auch.«

»Nein, das kann ich nicht annehmen.«

»Du musst«, sagte er eine Spur lauter als beabsichtigt. »Bitte«, fügte er in gemäßigterem Tonfall hinzu.

Er sah sie so flehentlich an, dass Rhapsody fürchtete, seine Gefühle zu verletzen. »Vielen Dank«, sagte sie schließlich und nahm das Geschenk aus seinen zitternden Händen entgegen. Sie steckte die Ohrringe an, stellte sich in Pose und fragte: »Na, wie sehen sie aus?«

Dem Mann klappte die Kinnlade herunter. »Oh, fantastisch«, stammelte er.

Rhapsody langte in die Tasche und zog ihre Börse daraus hervor, doch der Juwelier winkte ab. »Nein, ich schenke sie dir. Behalte sie bitte an.«

»Also gut, vielen Dank«, sagte sie lächelnd. »Ich hoffe, es geht dir wieder besser.« Sie zog die Kapuze über den Kopf und ging unter den staunenden Augen des Händlers, der Kutscher und Zeugen der Szene davon.

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