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Anders als in den Legenden der Cymrer beschrieben, hatten die Bolg tatsächlich schon lange, bevor Gwylliams Krieg zu Ende ging, Teile der Berge besiedelt. Der König war viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, als dass er bemerkt hätte, wie ein Haufen lausiger Höhlenbewohner über die Steppen im Osten zog und bis in die älteren Abschnitte seines riesigen Labyrinths vordrang. Umgekehrt aber nahmen die Bolg sehr genau von ihm Notiz und öffneten still und leise eine Hintertür zu Gwylliams Reich. Meldungen über verschwundene Grenzpatrouillen oder geplünderte Waffenlager blieben unbeachtet, weil es von den Kämpfen gegen Anwyn weit Spektakuläreres zu berichten gab. Die Bolg waren keine Soldaten, geschweige denn heroische Kämpfer, aber äußerst brutal und kannibalisch. Sie hatten das Feuer geraubt, und obwohl sie nur wenig vom Hausbau verstanden, konnten sie auf jedem Gelände und in jeder Klimazone überleben.

Jahrhunderte zuvor hatte sich ein fremder Kriegsherr mehrere Bolg-Stämme Untertan und – indem er sie mit ausreichend Nahrung versorgte – auch gefügig gemacht. Nach seinem Tod aber hatten sie seinen Besitz verwüstet und waren in ein anderes Land gezogen. Seine Hinterbliebenen spekulierten, dass sie ihm nur deshalb, Wölfen gleich, ergeben gewesen waren, weil sie ihn selbst für einen Wolf gehalten hätten. Alle anderen menschlichen Wesen sahen sie als Beute an und nicht etwa als mögliche Partner.

Diejenigen, die in Gwylliams Bergen hausten, waren ein wilder Haufen Vertriebener, die Stärkeren das Feld hatten räumen müssen, von schlechtem Wetter verjagt worden waren oder einfach nicht mehr allein zu Rande kamen. Gemein war ihnen allen eine extrem harsche Weltsicht. Mit ihnen aneinander zu geraten war wahrlich unangenehm.

Gwylliam hatte derzeit mehrere Versuche unternommen, die Bolg auszutilgen. Er hatte ihnen Fallen gestellt und Truppen auf den Hals gehetzt, was aber nur einer Auslese der Dummen und Schwachen gleichgekommen war. Der Gattung der Bolg war damit – so die Einschätzung Grunthors – im Grunde nur gedient gewesen. Sie war gewissermaßen durch Gwylliams Schmiede gegangen und veredelt worden. Als Waffe gegen Anwyn aber hatte er nicht mehr auf sie setzen können.

Die Gefährten lagerten nunmehr seit einem Tag in einer verschütteten Röhre der Canrifer Sielen, als tief in den Bergen eine Gruppe von Bolg-Jägern einen Wolf gestellt hatte, und zwar an jener Stelle, die, gemeinhin Schlachthalle genannt, seit langer Zeit das Ziel von Treibjagden war. Größeres Wild oder menschliche Eindringlinge, die das Pech hatten, von den Firbolg als Beute angesehen zu werden, wurden dort in die Enge getrieben und zur Strecke gebracht.

In dieser großen, weitläufigen Höhle hatten ursprünglich cymrische Entdecker Quartier bezogen, ehe sie von den Bolg vertrieben worden waren. Dort hinein lockten oder trieben die Jäger nun ihre Beute, was ihnen allerdings nicht immer das gewünschte Resultat bescherte.

Auch diesmal wollte die Rechnung nicht aufgehen. Der Wolf war seinen Jägern überlegen, denn es handelte sich um ein Exemplar der Höhlenwölfe, jener urwüchsigen Art, deren Vertreter so groß wie ausgewachsene Bären, ungemein kräftig und listig und mit einem unvergleichlichen Sehvermögen ausgestattet waren. In den tiefen Bergstollen hatten sie ihr Revier.

Dieser Wolf hatte einen der Jäger schon zerfleischt und den zweiten gerissen, als der dunkle Mann auftauchte. Er war unbemerkt gekommen, genau in dem Augenblick, da die Jäger ihren Fehler erkannten und fliehen wollten.

Mit seinen schwarzen Kleidern war er in der Dunkelheit kaum auszumachen. Erst als er einen Laut von sich gab, wurden sie auf ihn aufmerksam.

»Auf den Boden mit euch!«, knurrte er mit rauer Reibeisenstimme und in einem Dialekt, den sie als eine veraltete Form ihrer eigenen Sprache erkannten.

Die Bolg reagierten wie vom Donner gerührt. Einer warf sich sofort der Länge nach hin, die anderen wirbelten herum und erstarrten vor Schreck, sodass sie der Aufforderung gar nicht nachkommen konnten.

Dem Mann glitt die Kapuze vom Kopf, als er ein langes, gerades Schwert hinter der Schulter hervorzog. Sein Gesicht war selbst für die Bolg ein fürchterlicher Anblick, und doch erkannten sie Züge darin, die unmissverständlich auf eine Artverwandtschaft hindeuteten, was die bolgschen Jäger noch mehr aus der Fassung brachte.

Die fremde Schreckensgestalt setzte sich urplötzlich und blitzschnell in Bewegung. Das schlanke Schwert schwirrte durch die Luft und durchbohrte den Hals des rasenden Ungeheuers, das, hinter einem seiner Opfer kauernd, zum Sprung angesetzt hatte. Das Feuer glühte noch in seinen Augen, als es winselnd in sich zusammensackte.

Kaum weniger schnell als die geschleuderte Waffe war der dunkle Mann zur Stelle, um sie zu bergen. Er befand sich nun mitten unter den Jägern, die alle bewaffnet waren, doch sie wagten es kaum zu atmen, als er sich anschickte, sein Schwert aus dem Hals des Wolfs zu ziehen.

In just diesem Moment schlug der Bolg, der sich auf den Boden geworfen hatte, mit einer hakenförmigen Hiebwaffe aus, die an der Innenseite messerscharf geschliffen war. Doch noch ehe er Schaden damit anrichten konnte, hatte der dunkle Mann ihm das Handgelenk zerschmettert und gleich darauf mit gezieltem Tritt den Hals gebrochen. Für eine Weile war es totenstill; dann hörte man nur mehr das leise Wispern der Schwertklinge, als sie durch die Wolfsschwarte glitt.

»Waidmanns Heil.« Der Mann im schwarzen Umhang drehte sich um und verschwand in dem Nichts, aus dem er gekommen war.

Flackernder Feuerschein spiegelte sich in Frints fahlen Augen. Er hatte das Bauchfleisch und den Schenkel des Wolfs noch nicht angerührt, die ihm als demjenigen, der die Beute ins Lager gebracht hatte, der Sitte nach zustanden.

»Mann wie Nacht«, flüsterte er in die Runde. Die Kinder, die, hinter ihren Müttern kauernd, die Ohren spitzten, wurden zurückgestoßen, kamen aber sogleich wieder angekrochen, um nur ja alles mitzubekommen, was der große Jäger zu erzählen hatte. »Kam ungesehn.«

»Um was zu tun?«, verlangte Nug-Klaue, der Sippenälteste, zu wissen.

Frint schüttelte den Kopf. »Nichts. Tötet Wolf. Und Ranik. Der hatte angegriffen. Mann trat ihn aus wie Feuerfunken.« Er erschauderte, und die Kinder schreckten ein Stück zurück.

»Wollte kein Fleisch?«, fragte Nug. Frint schüttelte den Kopf. »Hat nichts gesagt?«

Frint überlegte kurz. »Doch. Waidmanns Heil.«

Nug machte große Augen. »Und?«

»Harn dann später noch zwei Ziegen und eine Ratte aufgetrieben.«

Es wurde unruhig in der Runde. Nugs Frau meldete sich zu Wort.

»Nachtmann ist vielleicht Gott«, sagte sie und duckte den Kopf, als Nug mit der Hand nach ihr ausschlug.

»Nein. Nug ist Stamm-Gott. Aber wir müssen uns vor Nachtmann in Acht nehmen. Müssen alle Ylorc warnen.«

Frint flatterte mit den Augenlidern. »Vielleicht ist Nachtmann Gott aller Bolg.«

Nicht weit hinter Nug zog sich Achmed grinsend aus seinem Versteck zurück und verschwand lautlos in der Dunkelheit.

Unter den bröckelnden Wänden der labyrinthischen Stollen von Canrif hatte sich im Laufe der Zeit viel Schutt aufgehäuft und festgetreten, weshalb Achmed nur langsam vorankam. Doch darum tat es ihm weniger Leid als um den so bedauerlichen Zustand dieser offenbar einstmals überaus prächtigen Festung. In der Blütezeit Canrifs waren diese Tunnel breiter und mit ihren polierten Basaltplatten noch aufwändiger gepflastert gewesen als die prächtigsten Straßen anderer Städte. Zahllose Öllampen an den Wänden hatten dieses so raffiniert ausgeklügelte Tunnelsystem hell erleuchtet. Jetzt waren von diesen Lampen nur noch hier und da ein paar abgebrochene Halterungen zu sehen.

Dass sein Herz vor Begeisterung pochte, ließ ihm bewusst werden, mit wie viel heimlichem Vergnügen er seiner Mission nachkam. Er fühlte sich zurückversetzt in die Jahre seiner Ausbildung, in jene Zeit, da das Volk der F’dor Krieg gegen die Dhrakier geführt hatte mit dem Ziel, sie zu vernichten.

Wie hatte er seine Reisen als fahrender Geselle genossen, ehe er die Cwellan erfand und in die Reihen der weitbesten Meuchelmörder aufstieg! Damals hatte er sich noch mit jedem Mordauftrag aufs Neue bewähren müssen, hatte seinen Namen nach vorn in den Wind gerufen und als Gütesiegel hinterlassen. Der Tunnel, durch den er schlich, öffnete sich in einen großen weiten Raum, der einst als Quartier für Soldaten gedient haben mochte, worauf die verrotteten Pritschen am Boden und die zerschlagenen Waffenregale an den Wänden schließen ließen. Selbst auf die Ausstattung solcher Unterkünfte war damals offenbar viel Wert gelegt worden. Davon zeugten die Fresken des Deckengewölbes, die, obwohl zu großen Teilen abgeblättert, immer noch erkennbar waren als Darstellung historischer Schlachten.

Den Kopf in den Nacken zurückgelegt, betrachtete Achmed die Kampfszenen unter der Decke und sinnierte. In den Bildern kam eine Kampftechnik zum Ausdruck, die im direkten Kontakt und zähem Festhalten am Gegner die Entscheidung suchte.

Ob diese Technik nur zufällig der Vorgehensweise der F’dor entsprach oder tatsächlich von ihnen abgeguckt war, ließ sich im Nachhinein nicht mehr klären. Jedenfalls hielten auch die dämonischen Geister unbeirrbar an ihren Opfern fest; sie konnten gar nicht anders, das war ihre Bestimmung. Kein Wunder, dass sie die Dhrakier so sehr hassten, denn im Unterschied zu Kämpfern anderer Herkunft setzten die Dhrakier nicht auf Kontakt, sondern auf Distanz. Der Abstand zum Gegner ermöglichte einen genaueren Blick auf dessen Schwachstellen. Eine Lücke im Harnisch, ein einziger Fehltritt des Gegners genügte, um ihm den tödlichen Stoß zu versetzen. Gerade wegen dieser Kampfhaltung waren die Dhrakier den F’dor, die aus einer naturgegebenen Notwendigkeit heraus am Gegner festhalten mussten, von jeher ein Dorn im Auge gewesen.

Als er mit Grunthor bei ihren Streifzügen durch Avonderre erstmals einen dieser unerklärlichen Gewaltausbrüche beobachtet hatte, war ihm, Achmed, der Gedanke gekommen, dass dabei die Gewalt womöglich nicht eines bestimmten Zieles wegen, sondern um ihrer selbst willen ausgeübt wurde. Tsoltan seinerseits war zwar ein Stratege, der auf lange Sicht plante, doch was da jetzt zu Chaos und sinnloser Vernichtung anstachelte, brauchte offenbar weder Plan noch Ziel. Vielleicht ging es ihm nur um die Kraft, um die in den Kämpfen erzeugte Reibung, aus der es Leben und Energie sog. Achmed wurde in seinen Überlegungen durch Geräusche im Hintergrund gestört. Er durchquerte den weiten Höhlenraum, hütete sich dabei, aus dem Schatten hervorzutreten, und erreichte eine Tunnelöffnung, vor der er stehen blieb und tief Luft holte, während er seinen Spürsinn durch die Gänge vorauseilen ließ, um der Schallquelle auf den Grund zu gehen.

Die war schnell ausgemacht. Nicht weit entfernt schlugen etliche Bolg mit zum Teil zerbrochenen Schwertern und Speeren aufeinander ein. Offenbar gehörten sie zu rivalisierenden Klans, denn die einen trugen ein Brandmal im Gesicht, die anderen eines auf den Unterarmen. Von zwei Kerlen in Schach gehalten, lag schreiend eine Frau am Boden, die offenbar der Preis für den Sieger sein sollte. Achmed nahm die Cwellan von der Schulter.

Die Nachtpiraten standen kurz davor, den Sieg davonzutragen, als plötzlich ein helles Sirren im Tunnel laut wurde und unmittelbar darauf die Anführer beider Banden zu Boden gingen. Die Bolg standen wie versteinert da und starrten auf die Gefallenen, die, beide von den Flugscheiben am Hals getroffen und mit halb abgetrennten Köpfen, in ihrem Blut lagen. Und dann trat eine Gestalt aus dem Dunkel des Stollens, fast lautlos, gehüllt in einen Umhang mit Kapuze, aus der zwei ungleiche Augen schrecklich hervorstachen.

Einer der Räuber hatte davon gehört, was sich unlängst in der Schlachthalle zugetragen hatte.

»Nachtmann!«, platzte es entsetzt aus ihm heraus.

Die Meute wich nach beiden Seiten auseinander, als der Nachtmann einen Schritt vortrat und ein zerbrochenes Schwert vom Boden aufhob, das er der Frau zuwarf.

»Lauft«, sagte er, den anderen zugewandt, und selbst der tumbeste Bolg hörte in der farblosen Stimme den Tod flüstern.

In heilloser Panik hasteten sie stolpernd davon. Nur die Frau zögerte noch, und so war allein sie es, die unter der Kapuze ein Schmunzeln erkannte. Dann machte auch sie kehrt, lief den Stammesbrüdern nach und floh vor dem Nachtmann, den nun wieder Dunkelheit umhüllte.

Später in der Nacht machten die vier Gefährten sich auf den Weg zur Schlachthalle. Achmed hatte einen Weg über einen Pass gewählt, der zwar ein bisschen länger war, aber die Tunnelverbindungen im Berg weitestgehend aussparte. Jo konnte nämlich im Dunkeln kaum sehen, und auch Rhapsody fühlte sich nicht wohl unter Tage, obwohl sie sich während der endlos langen Reise entlang der Wurzel daran gewöhnt hatte, mit nur wenig Licht zurechtzukommen.

Zweimal wurden sie unterwegs angefallen.

»Zweimal zu viel«, sagte Rhapsody, als sie die Höhle betraten, »Von mir aus hätt’s auch zweimal häufiger sein können«, meinte Grunthor und wischte seinen Langdolch ab. »Diese Jungs auf Vordermann zu bringen wird wohl noch ganz schön Zeit kosten.«

»Also denen da ist gar nicht mehr zu helfen«, sagte Jo mit Blick auf die gescheiterten Angreifer, die am Boden lagen.

Achmed hob die Hand, worauf die anderen drei verstummten. Sie folgten ihm durch enge, gewundene Stollen, die über kurz oder lang einzustürzen drohten. Rhapsody fröstelte. Der Verfall war nahezu greifbar. Sie meinte ihn in der Luft spüren zu können.

Bald gelangten sie an eine Öffnung in der Stollenwand, von der ein Felssims in eine hohe Grotte führte. Als Antwort auf Rhapsodys fragenden Blick nickte Achmed mit dem Kopf.

Vorsichtig trat sie durch die Öffnung auf den Sims und tauchte in einen riesigen Saal ein, durch den ein böiger Wind blies, der jedoch alles andere als frisch war und Unmengen Staub aufwirbelte. Sie versuchte ihre Augen zu schützen und blickte ins Dunkle hinab.

In der Tiefe unter ihr breitete sich eine weitläufige, dunkle Ruinenstadt aus, die mit ihren Straßen und verfallenden Häusern bis an die Grenzen des Blickfelds reichte. Da waren noch Reste von Brunnen und Gärten zu erkennen, die, obwohl seit langem ausgetrocknet, immer noch von einstiger Schönheit und Größe zeugten – wie auch die gesamte Anlage der Stadt, die in ihren besten Tagen wohl weit bedeutender gewesen sein mochte als Bethania oder Navarne in der Jetztzeit. Nun aber prägten Melancholie und Verfall das Bild.

Gwylliams großes Meisterwerk, dachte Rhapsody betrübt. Canrif, der Name, der Jahrhundert bedeutet. Allein dafür, die riesige Wölbung der Höhle auszugraben, die bis in die Spitzen der Zahnfelsen reichte, waren gewiss tausende von Männern nötig gewesen, die bis ans Ende ihres Lebens daran gearbeitet hatten. Jetzt waren die Ruinen nur mehr hohles Zeugnis der eitlen Vision eines hoffärtig verschwendeten Genies und boten Unterschlupf für verwahrloste Halbmenschen, die keine Ahnung hatten von der einstigen Pracht dieser Stadt.

Achmed tippte an ihre Schulter und sagte: »Bis zur Schlachthalle ist es nicht mehr weit.«

In der letzten Kurve vor einer langen Geraden angekommen, blieb Achmed stehen und forderte Grunthor und Jo auf, zurückzubleiben und den Stollen zu bewachen. Dann ging er mit Rhapsody weiter den Gang entlang, an dessen Ende sie vor eine schwere steinerne Tür gelangten.

»Ich vermute, dahinter liegt Gwylliams Bibliothek«, flüsterte Achmed. Rhapsody nickte. In dem Buch, das sie im Haus der Erinnerung gefunden hatten, waren zwar weder Pläne noch irgendwelche Skizzen von Canrif zu finden gewesen, wohl aber eine exakte Beschreibung eben dieses Eingangs. Tief in die Steinplatte eingemeißelt, stand Gwylliams Ausspruch zu lesen: Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land

In Schulterhöhe steckte eine verrostete Klinke in der Tür. In die Blende darunter waren mehrere Löcher gebohrt, dick wie ein Pfeilschaft und symmetrisch angeordnet.

»Das scheint eine Art Schloss zu sein«, sagt Achmed und fuhr mit seinen knochigen Händen über die Löcher. Rostflocken bröselten von dem eisernen Schild. »Ich wette, dieses alberne Motto hat irgendwas mit dem Schlüssel zu tun.«

»Das glaube ich auch«, sagte Rhapsody. »Als Ingenieur und Mathematiker, der er war, hat Gwylliam den Text wahrscheinlich so aufgeschlüsselt, dass er eine Anleitung zum Öffnen der Tür enthält. Aber wie könnten diese Löcher und das Alphabet der alten Cymrersprache zusammenhängen?«

»Vielleicht muss man den Text erst in eine andere Sprache übersetzen. In Nain oder Lirin?«

Rhapsody zuckte mit den Achseln. »Schon möglich, doch das glaube ich eher nicht, denn Gwylliam wird wahrscheinlich vermieden haben, den Anschein zu erwecken, dass er die eine oder die andere Sprache bevorzugt.«

Zum wiederholten Mal zählte sie nach: In sechs Reihen waren jeweils fünf Löcher in das Türschild und den Stein gebohrt. Sie kniff die Brauen zusammen und dachte nach. Plötzlich ging ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Natürlich! Es wird ein Notenschlüssel sein. Die Cymrer kamen in ihrer Musik damals mit nur sechs Noten aus, im Unterschied zu uns Lirin-Sängern, die wir immer schon eine achtstufige Tonleiter hatten – was heute übrigens Standard ist, wie ich von Llauron erfahren habe.«

»Dass Gwylliam sich auch für Musik interessiert hat, ist mir neu.«

»Mich überrascht das nicht, war er doch, wie gesagt, unter anderem Mathematiker, und Musik ist, wenn man so will, ebenfalls ein mathematisches System.« Rhapsody zog einen Pfeil aus ihrem Köcher, knickte die Spitze ab und steckte den Schaft in dasjenige Loch, das mit dem Anfangsbuchstaben von Cyme, also mit dem C korrespondierte.

In der dicken Steinplatte war daraufhin ein schwaches Klicken zu vernehmen, dann ein mahlendes Geräusch, das eine Weile andauerte und schließlich verstummte. Rhapsody wurde ganz zappelig.

»Immer mit der Ruhe, lass dir Zeit«, mahnte Achmed, der aber selbst vor Aufregung kaum an sich halten konnte. »Wenn du dich vertust, legt sich der Riegel vielleicht für immer quer.«

»Pssst«, zischte sich, und ihre Augen glühten. Konzentriert zählte sie die Buchstaben durch und drückte den Schaft in das entsprechende Loch. Sie hatte das vorletzte Wort des Satzes erreicht, als Jo plötzlich hinter ihr auftauchte.

»Da kommt wer, eine ganze Meute.«

»Lass dich nicht aufhalten«, sagte Achmed, an Rhapsody gewandt. »Ich werde Grunthor helfen. Nur keine Hektik.«

Rhapsody nickte und gab, kaum dass Achmed fort war, den nächsten Buchstaben ein, was wiederum wie zur Bestätigung mit der inzwischen vertrauten Lautfolge beantwortet wurde.

»Was machst du da?«, fragte Jo, die zurückgeblieben war und ihr über die Schulter schaute.

»Still!«, flüsterte Rhapsody. »Du wirst es gleich wissen.«

Im hinteren Teil des Tunnels wurden jenseits der Biegung Kampfgeräusche laut. Jo wirbelte herum und wollte gerade losrennen, wurde aber von Rhapsody, die blitzschnell mit der Hand nach ihr langte, zurückgehalten.

»Hier geblieben!«

Jo riss sich los. »Bist du nicht ganz bei Trost? Die beiden haben’s da mit einem Dutzend Bolg zu tun.«

»Mit einem Dutzend nur? Damit werden Achmed und Grunthor im Handumdrehen fertig. Warte lieber und halte mir den Rücken frei. Ich muss mich auf das Schloss konzentrieren.«

Seufzend gab Jo klein bei. »Nicht mal den kleinsten Spaß gönnst du mir.«

Rhapsody wandte sich wieder der Tür zu und schmunzelte. »Hab ich dich nicht unterwegs im Gebirge kämpfen lassen?«

»Pah, gegen nachtblinde und mit stumpfen Steinäxten bewaffnete Halbaffen«, entgegnete das Mädchen. »Das war doch erbärmlich.«

»Wart’s ab. Du wirst dich sicher noch häufiger schlagen müssen, als dir lieb ist. Und kannst gleich mit mir anfangen, wenn du nicht sofort still bist.«

Ausgerechnet das letzte Loch steckte voller Dreck. Rhapsody pulte mit dem kleinen Finger darin herum, bis es frei war, und steckte dann den Pfeilschaft hinein, worauf aus dem Mechanismus nun ein Klingen wie von einer Zimbel ertönte.

»Geh und hol Achmed, sobald die Luft rein ist. Wenn noch gekämpft wird, bleib in Deckung«, sagte Rhapsody zu Jo, die sich in ihrer Erregung kaum bremsen konnte und nur wenige Augenblicke, nachdem sie losgelaufen war, mit beiden Firbolg wieder zurückkam.

»Hast du sie aufgekriegt?«, rief Achmed schon von weitem und wischte im Eilschritt das Schwert an seinem Umhang ab.

»Ich glaube ja«, antwortete Rhapsody mit Blick auf die Tür. »Zumindest hat es sich so angehört. Aber ich wollte euch natürlich nicht vorgreifen und habe sie deshalb noch nicht aufgezogen.«

»Das müsste für dich doch ein Leichtes sein, Dicker«, sagte Jo und meinte Grunthor, der von oben auf sie herabgrinste. Achmed nickte. Rhapsody nahm ihren Bogen zur Hand und legte einen Pfeil auf die Sehne, fürchtete sie doch, dass hinter der schweren Tür möglicherweise eine unangenehme Überraschung auf sie wartete.

Ihre Sorge erwies sich einen Augenblick später als durchaus berechtigt. Als Grunthor die Tür aufschwang, schlug ihnen ein Schwall staubiger Luft entgegen, die so abgestanden und faulig stank, dass Jo zu würgen anfing.

Rhapsody sprang dem Mädchen zur Seite und hielt seine Stirn gefasst, während Achmed über die Schwelle trat. Grunthor blieb zurück, um Deckung zu bieten für den Fall, dass weitere Bolg hinter ihnen im Tunnel aufkreuzten. Jo hatte sich schnell erholt und bestand darauf, an der Erkundung des riesigen Raums hinter der Tür teilnehmen zu dürfen.

Gwylliams Bibliothek schien von der Zeit völlig unberührt geblieben zu sein. Sie war von gewaltigen Ausmaßen und voll von Dokumenten, Pergamentrollen oder gebundenen Folianten, Landkarten, Globen und Grafiken, und das alles in einer so großen Anzahl, dass wohl ein ganzes Heer von Schreibern und Gelehrten über Jahrhunderte daran gearbeitet hatte. Da reihten sich zahllose Regale von enormer Höhe, in denen das gesammelte Wissen der cymrischen Zivilisation lagerte, als stummes Zeugnis ihrer einstigen Blüte.

Rhapsody sah sich staunend um. Das hohe, glatt geschliffene Steingewölbe war kobaldblau eingefärbt und mit silbernen Sternen übersät, genau in der Konstellation, wie sie sich am Himmel über diesem Land zeigte. Maßstabsgerechte und detaillierte Abbildungen der Kontinente, beschriftet mit den Namen, wie sie damals gültig waren, schmückten die Wände ringsum.

Das heutige Roland und Sorbold waren ausgewiesen als die cymrischen Länder, während Tyrian als Realmalir – das Reich der Lirin – bezeichnet wurde. Auch die anderen Teile der Welt waren kartografiert, nicht zuletzt die Versunkene Insel, der Ursprungsort der Cymrer; auf ihre Darstellung schien besonders viel Wert gelegt worden zu sein.

Fast über die gesamte Fläche der riesigen Kuppel mit ihren Sternen erstreckte sich das Bild eines mächtigen Drachen mit rot-goldener Haut, Schuppe für Schuppe liebevoll ausgemalt. Seine silbern glänzenden Krallen wölbten sich über den Ländern im Westen. Die Augen waren klare Edelsteine, zu Prismen geschliffen, die im Dunkeln zu glühen schienen. Aus dem Maul schlugen Flammenfresken in Rot und Orange.

In der Mitte des Raums befand sich ein großer runder Tisch, aus schwarzem Marmor gehauen. Darauf wölbte sich eine kristallene Halbkugel. Ringsum standen mehrere verschiedenartige Apparaturen auf dem Boden; von der Decke darüber hing eine sonderbare Vorrichtung. Das Metall, aus dem sie geschmiedet war, zeigte keinerlei Spuren von Rost oder Verschmutzung, obwohl seit ihrem letzten Gebrauch Jahrhunderte vergangen sein mochten. Rhapsody hätte gern einen genaueren Blick darauf geworfen, wurde aber abgeschreckt von dem, was auf dem Tisch zu sehen war.

Auf der Platte ausgestreckt und über die Kante hinaus hängend, lag eine mumifizierte Leiche auf dem Rücken, vollständig angezogen, mit einer klaffenden Wunde in der Brust. Eine schlichte Goldkrone war ihr offenbar vom Kopf gerutscht und lag, auf die Seite gekippt, daneben. Als Achmed darauf zuging, geriet die Krone in Bewegung und rollte vom Tisch.

Dort, wo sie hinfiel, lag eine weitere Knochengestalt mit pergamentener Haut und gebrochenem Hals. Sie trug als Panzerung ein langes Kettenhemd, das ihr das grausame Schicksal offenbar nicht hatte ersparen können.

Grunthor zog die Tür bis auf einen Spaltbreit hinter sich zu, nachdem er ein paar Steine als Abstandhalter zurechtgelegt und sich vergewissert hatte, dass sie auch von innen geöffnet werden konnte. Dann warf er einen Blick auf Achmed, der mit verschränkten Armen über den Leichen stand und in seinem ansonsten ernsten Gesicht den Anflug eines Lächelns zeigte.

»Nun, wenn mich nicht alles täuscht, ist das der große und mächtige Gwylliam.«

Rhapsody und Jo rückten vorsichtig näher.

»Und wer ist der andere?«, fragte die Sängerin.

Achmed blickte auf das zweite Gerippe. »Vermutlich ein Wächter. Seltsam, man sollte meinen, dass sie immer mindestens zu zweit auftreten. So jedenfalls war es unter den königlichen Gardisten der Seren üblich.«

»Woher weißt du das?«, wollte Rhapsody wissen.

Achmed ignorierte ihre Frage. »Ich wage außerdem zu behaupten, dass Gwylliam diesen Wächter hier eigenhändig getötet hat.« Grunthor stimmte ihm kopfnickend zu; er hatte den Fall des Getöteten im Geiste rekonstruiert und war zu demselben Schluss gekommen.

»Aber Llauron hat doch erzählt, dass Gwylliam von Anwyn ermordet worden sei«, erinnerte sich Rhapsody, sichtlich irritiert.

»Vielleicht weiß er ja weniger, als er vorgibt. Würde mich nicht wundern. Ich traue ihm nämlich nicht.«

»Du traust doch niemandem«, sagte Jo in Gedanken. »Darf ich mal die Krone in die Hand nehmen?«

»Augenblick, Herzchen«, bremste sie Grunthor. »Vorher wolln wir uns noch ’n bisschen umsehn, oder?«

Einen weiten Bogen um die Leichen schlagend, ging Rhapsody um den Tisch herum und musterte die Halbkugel in der Mitte, deren Scheitelpunkt über ihre eigene Körpergröße hinaus aufragte. Trotz der Staubschicht, die sich darauf angesammelt hatte, war der hohe Grad an Handwerkskunst, die in ihr steckte, unverkennbar.

Allem Anschein nach war die Halbkugel aus einem einzigen, fein geschliffenen Edelstein gearbeitet worden. Sie wölbte sich über einem labyrinthischen Relief, das mit großer Sorgfalt in den Stein der Tischplatte eingemeißelt worden war.

»Was hältst du davon, Achmed?«

Der Dhrakier stellte sich an ihre Seite und untersuchte den fraglichen Gegenstand mit blitzschnell hin und her springenden Blicken. Nach einer Weile streckte er den Arm aus und berührte die Halbkugel mit den Fingerspitzen, worauf der Stein und ein Teil des vermeintlichen Labyrinths schwach zu glühen anfingen.

Achmed schmunzelte. »Sehr viel.«

»Wie bitte?«

»Es setzt mir die Krone auf.«

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