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»Noch etwas Suppe, Herzchen?«

»Nein danke, Barney.« Die junge Frau hob den Kopf und lächelte dem Wirt zu. »Obwohl sie sehr lecker ist.« Sie widmete sich wieder den Pergamentseiten, die neben verschiedenen seltsamen Gegenständen vor ihr auf dem Tisch lagen, kritzelte eifrig mit einer Schreibfeder und summte dabei vor sich hin.

Barney seufzte; er brachte die Suppenterrine zurück zum Tresen und genoss das prickelnde Gefühl, das sich einstellte, sooft er von ihr mit diesem Lächeln bedacht wurde. Dann blickte er sich nervös um, aus Sorge, Dee könnte sein dämliches Grinsen gesehen haben. Auch Dee war in sie vernarrt, traute sich aber nicht, ihr einen Antrag zu machen.

Unter dem Vorwand, die Bierflecken vom Tresen zu wischen, warf er ihr wieder heimliche Blicke zu. Sie streifte sich gerade eine Strähne ihrer goldblonden Haare aus dem Gesicht und fuhr dann gedankenverloren mit der Hand über ein schlichtes goldenes Medaillon, das an einer zierlichen Kette um ihren Hals hing.

Sie schrieb schon eine Weile, und das sehr konzentriert und schnell. Ab und an hielt sie inne, um einen der kleinen, auf dem Tisch verstreuten Gegenstände zu betrachten oder um in die Saiten der Hirtenharfe zu greifen, die auf ihrem Schoß lag. Dass sie vor Erregung geradezu glühte, entging auch den übrigen Gästen nicht, die sich darüber lauthals lustig machten. Sonst war es im Federhut um die Mittagszeit recht still; heute aber herrschte hier eine ausgelassene Stimmung wie am Abend vor einem Feiertag. Kein Wunder, dass Dee in sie verknallt ist, dachte Barney und kicherte in sich hinein. Sie ist gut fürs Geschäft.

Bei all dem Trubel und Klirren der Humpen nahm kaum einer Notiz von dem Fremden, der zur Tür hereinkam. Er bahnte sich ungeduldig suchend den Weg durch die Menge, bis er schließlich an ihren Tisch kam. Dort baute er sich vor ihr auf und wartete darauf, dass sie ihn anschaute. Doch sie beachtete ihn gar nicht, sondern schrieb zügig weiter und unterbrach sich nur, wenn ein Fehler zu korrigieren war.

Schließlich platzte es aus ihm heraus: »Du bist Rhapsody.«

Sie blickte immer noch nicht auf. Stattdessen ordnete sie den Stoß Blätter und legte sich eine neue Seite zurecht.

»Und?«

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, sagte sie: »Vielen Dank für die freundliche Erinnerung.« Und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Sie entschuldigen, doch ich bin beschäftigt.«

Der Mann hatte sichtlich mit sich zu kämpfen, um seinen Ärger über ihren herablassenden Tonfall im Zaum zu halten, was ihm jedoch schon deshalb geboten erschien, weil inzwischen die Gäste auf ihn aufmerksam geworden waren. Er senkte die Stimme und sagte: »Ich komme in Vertretung eines vornehmen Freundes von dir.«

»Ach ja? Und wer ist das?«, fragte sie, ohne sich in ihrem Schreibfluss unterbrechen zu lassen.

»Michael, der Wind des Todes.«

Im Federhut wurde es schlagartig mucksmäuschenstill. Die junge Frau indes blieb ungerührt. »Wenn die Wörter vornehm und Freund hier dasselbe bedeuten wie in der Sprache, mit der ich aufgewachsen bin, so machen Sie einen recht nachlässigen Gebrauch davon«, entgegnete sie. »Was will er denn?«

»Deine Dienste, was sonst?«

»Ich bin nicht mehr im Geschäft.«

»Dein beruflicher Status ist ihm ziemlich egal.«

Erst jetzt legte sie die Schreibfeder ab und blickte zu dem Fremden auf. Ihre grünen Augen waren ohne jede Furcht und dermaßen stechend, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Nun, was er will, ist mir ziemlich egal«, antwortete sie ruhig. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin, wie gesagt, sehr beschäftigt.« Sie wandte sich erneut ihrer Arbeit zu.

Es dauerte eine Weile, bis sich der Fremde wieder gefasst hatte. Und dann verfinsterten sich seine grauen Züge, worauf von den Gästen einer nach dem anderen nach draußen verschwand oder in einen geschützten Winkel auszuweichen versuchte. Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und spreizte die Finger, um das Pergament zu zerknittern.

Doch ehe er dazu kam, steckte plötzlich zwischen Mittel- und Zeigefinger die Spitze ihres Dolches. Es fehlte nicht viel, und Blut wäre geflossen. So schnell und zielsicher hatte sie zugestochen, dass ihm nicht die geringste Zeit geblieben war zu reagieren.

Rhapsody blickte ein zweites Mal zu ihm auf. »Ich war wohl, wie ich meine, höflich genug. Allerdings scheinen Sie nicht gut hören zu können. Wenn von meinen Aufzeichnungen hier auch nur ein Wörtchen verschmiert sein sollte, werden Sie in Zukunft nur noch bis sechs zählen können, und das auch nur, wenn Sie zu diesem Zweck die Hose herunterlassen ... Also gehen Sie jetzt bitte und lassen mich in Frieden.« Den Dolch in der Linken, tunkte sie die Feder ins Tintenfass und machte sich wieder an die Arbeit.

Der Fremde starrte sie an, zog dann vorsichtig die Hand vom Tisch zurück, drängte durch die Schar der verbliebenen Gäste dem Ausgang zu und warf die Tür krachend hinter sich ins Schloss. Kaum war er weg, kam Barney mit sorgenvoller Miene an Rhapsodys Tisch.

»Ja, Herzchen, weißt du denn nicht, für wen dieser Kerl arbeitet?«, fragte er und sah zu Dee hinüber, der damit anfing, das Geschirr von den überstürzt verlassenen Tischen abzuräumen. Rhapsody schichtete die Blätter sorgfältig übereinander und rollte den Stoß zusammen. »Na klar, für Michael, den Luftverschwender. Der ist doch so lächerlich wie sein Name.«

»An deiner Stelle würde ich nicht so despektierlich reden, Herzchen. Er ist in letzter Zeit um einiges gefährlicher geworden und hat mittlerweile sehr viel mehr Ohren als früher.«

»Herrje, dabei sah er schon früher nicht besonders anziehend aus.« Rhapsody steckte die Pergamentrolle in ihren Tornister aus Ölhaut und sammelte die Gegenstände auf dem Tisch ein, bis nur noch eine verwelkte Schlüsselblume und ein Fetzen Pergament zurückblieben.

Dann steckte sie das verkorkte Tintenfässchen in die eingenähte Innentasche ihres Sacks, stülpte die sackleinene Schutzhülle über ihre Harfe und packte auch sie ein. Damit fertig, nahm sie wieder die Feder zur Hand und beschrieb den Fetzen Pergament, ganz langsam und sorgfältig diesmal.

»Übrigens, Barney, eigentlich hätte ich gern doch noch einen Löffel Suppe.«

Man war schon dabei, das Lager zu räumen, als Gammon den Außenposten jenseits des nordwestlichen Walls von Ostend erreichte. Am Tonfall, in dem Michael seine Kumpane und Kämpfer anherrschte, erkannte Gammon, dass der Zeitpunkt denkbar ungünstig war, ihm die schlechte Nachricht zu überbringen. Er konnte nur hoffen, dass Michael, launenhaft wie er in letzter Zeit war, seinen Auftrag an ihn vergessen hatte. Aber diese Hoffnung schwand schon mit dem ersten Blick, den Michael ihm zuwarf.

»Wo ist sie?«, wollte er wissen. Er stieß den Lakaien, den er soeben zusammengestaucht hatte, unwirsch beiseite und kam auf Gammon zu.

»Sie ist nicht mehr im Gewerbe, Sir.«

Michael sperrte die Augen weit auf, und Gammon sah darin seinen Kampf um Selbstbeherrschung toben. »Du hast sie wohl nicht auftreiben können, oder? Was soll ich davon halten?«

Nach kurzem Zögern antwortete Gammon: »Doch, ich habe sie gefunden, mein Herr. Aber sie hat sich geweigert mitzukommen.«

Michael blinzelte, und Gammon sah, wie sich die Augen seines Herrn verdüsterten, je ruhiger er nach außen hin wurde. »Geweigert? Sie hat sich geweigert?« »Ja, Sir.

Michael drehte sich um und richtete seinen Blick auf die Männer, die ihre Pferde aufzäumten und die Waffen zusammenpackten.

»Ich vermute, du hast mich und meinen Befehl nicht richtig verstanden, Gammon«, sagte er leise, als schwarzer, saurer Rauch von den gelöschten Lagerfeuern aufstieg und wie dreckige Wolle über dem Feld schwebte. »Du solltest die Metze nicht bitten, uns zu begleiten. Ich wollte, dass du sie herbringst.«

»Ja, mein Herr.«

»Dann geh zurück und tu, was ich dir gesagt habe. Himmel, sie reicht dir nicht einmal bis zur Schulter. Schleif sie an ihren hübschen Haaren herbei, wenn’s sein muss. Hast du gesehen, wie schön golden es ist, Gammon?«

»Ja, Sir.«

»An dieses Haar habe ich oft denken müssen. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt?«

»Ja, mein Herr.«

»Nein, das kannst du nicht«, entgegnete Michael mit kalter, gefühlloser Stimme. »Das kannst du nicht, weil der Sack zwischen deinen Beinen leer ist. Du hast sie doch nie gehabt, oder? Das würde einer wie du auch kaum überleben. Aber ich, Gammon, ich hatte sie, und es war unvergleichlich. Sie ist eine halbe Lirin, und Lirinfrauen schmecken besonders süß. Wusstest du das, Gammon? Ach, was soll ich sagen? Ihr Haar macht nur einen kleinen Teil ihrer Anziehung aus. Deine Vorstellungskraft ist viel zu dürftig, als dass du dir ausmalen könntest, wie liebreizend sie ist. Nun ja, falls du denn in meiner Gunst bleiben solltest, Gammon, will ich dir bei Gelegenheit eine Kostprobe von ihr gewähren, und sei es nur, dass du dein erbärmliches Leben wertschätzen lernst und dich in Zukunft besser vorsiehst. Verstehen wir uns? Was sagst du dazu, Gammon?«

Gammon kannte dieses Frage-Antwort-Spiel zur Genüge. »Ich werde sie sofort holen gehen, mein Herr.«

»Brav«, sagte Michael und wandte sich wieder ab.

Rhapsody hatte gerade zu Ende geschrieben und ließ die Tinte auf dem Pergament trocknen, als Gammon in den Federhut zurückkehrte. Das Gasthaus war inzwischen leer; nur Barney und Dee sahen mit Schrecken, wie er auf ihren Tisch zuging und breitbeinig davor stehen blieb. Wie zuvor schien Rhapsody ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und fuhr unbeirrt in ihrer Arbeit fort.

»Ich will, dass du jetzt mit mir kommst«, sagte Gammon.

»Heute nicht, tut mir Leid.«

»Es reicht«, knurrte Gammon. Er packte ihr goldenes Haar, das mit einer einfachen schwarzen Schleife zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und langte mit der anderen Hand nach seinem Kurzschwert.

Die Wirtsleute sahen ihn in der Mitte zusammenklappen, als Rhapsody ihm die Tischecke so wuchtig in den Unterleib rammte, dass er, rücklings an die Wand gedrückt, mit dem Gesicht auf der Tischplatte aufschlug und laut aufschrie vor Schmerzen. Blitzschnell trat Rhapsody ihm das Schwert aus der Hand, nahm es vom Boden auf und beugte sich weit über den Tisch, um ihm ins Ohr zu flüstern:

»Du bist ein ungehobelter Klotz. Geh und sag deinem Kommandanten, dass er gefälligst an sich selbst verrichten soll, was er mit mir zu tun gedachte. Verstanden?«

Gammon funkelte sie mit hasserfüllten Augen an, als sie ihm ihren Dolch an den Hals setzte und dann den Tisch abrückte, um ihn dahinter freizugeben.

Sie trieb ihn vor sich her zur Tür und sagte: »Noch eins. Ich werde selbst gleich gehen und diesen Ort verlassen. Du und deine Spießgesellen, die du sicherlich zusammentrommeln wirst, könnten also entweder hierher zurückkommen und die Wirtsleute belästigen oder mir nachzustellen versuchen. An eurer Stelle würde ich hier im Gasthaus keine Zeit verschwenden.« Sie warf sein Kurzschwert in den Dreck der Straße.

Gammon spuckte sie an, als er die Taverne zum zweiten Mal verließ.

»Ein wirklich ungehobelter Klotz«, wiederholte Rhapsody, an Barney und Dee gerichtet. Sie warf eine Hand voll Münzen auf den Tisch und nahm Dee zum Abschied in den Arm. »Ich gehe durch die Vordertür nach draußen. Bis zum Abend solltet ihr vielleicht lieber zusperren. Tut mir Leid, dass ich euch Schwierigkeiten gemacht habe.«

»Pass bloß auf dich auf«, sagte Dee und schluckte.

Rhapsody nahm ihren Umhang vom Haken beim Eingang, schulterte den Tornister und wandte sich der Tür zu. Bevor sie hinausging, steckte sie Barney das beschriebene Stück Pergament zu und schenkte ihm ein letztes Lächeln.

»Viel Glück, Barney«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wenn du jemals einem Troubadour begegnest, bitte ihn, dieses Lied für dich zu spielen.«

Barney blickte auf den Fetzen in seiner Hand. Darauf waren fünf waagerechte Linien gezogen und ein paar Noten eingetragen. »Was soll das sein, Herzchen?«

»Dein Name«, antwortete sie und ging.

Dee ging an den Tisch, sammelte das Geld ein, räumte das Suppengeschirr und die Schreibfeder ab.

»Barney«, sagte er dann, »komm mal her und sieh dir das an.«

Auf dem Tisch lag eine Schlüsselblume, so frisch und duftend, als wäre sie gerade erst gepflückt worden.

Die Seitengassen von Ostend waren dunkel und kühl, eine angenehme Zuflucht vor der sengenden Sonne. Schweigend wanderten die beiden Männer über das Pflaster, unbemerkt von den Anliegern, die lärmend ihren Geschäften nachgingen. Dass einer wie Grunthor nicht zur Kenntnis genommen wurde, lag nicht zuletzt auch an der drückenden Hitze des Tages und den tiefen Schatten der Gassen. Für gewöhnlich brachte er allein mit seiner kolossalen Statur jedes Gespräch zum Stocken und allen Verkehr zum Erliegen, sobald er in eine Stadt kam, was jedoch selten der Fall war.

Der Bruder nahm die Bewegungen und Geräusche der Menge schon von weitem mit all seinen Sinnen wahr. Und sooft zu erwarten stand, dass eine größere Gruppe ihren Weg kreuzte, wichen die beiden aus, was zwar Zeit kostete, dafür aber ihre Chance erhöhte, unbemerkt zu bleiben.

Sie zogen nun durch einen verwaisten Bezirk, wo zwischen Dreck und Abfällen lediglich ein paar Zecher ausgestreckt danieder lagen und ihren Rausch ausschliefen. Die beiden eilten schnellen Schritts und ohne hinzusehen weiter.

Die nächste Seitengasse war, wie der Bruder spürte, leer; sie führte in den Südostteil der Stadt. In wenigen Schritten würden sie die Werft erreicht haben und in der Anonymität des Treibens dort verschwinden.

Der Bruder und Grunthor hatten sich schon bis auf fünfzig Schritt dem Ende der Gasse genähert, als ein Straßenmädchen um die Ecke gerannt kam, verfolgt von einer Hand voll polternder Büttel. Die beiden Männer mussten im Schatten eines Mauerwinkels in Deckung gehen.

Vor dem Federhut trat Rhapsody auf die Straße hinaus und sah sich um, gefasst darauf, den einen oder anderen Strolch aus Michaels Lumpenpack in der Nähe zu entdecken.

Das Gasthaus lag an der Königsstraße, einem der Hauptverkehrswege von Ostend. Auf der lärmenden Straße wimmelte es von Menschen und Fuhrwerken. Weil niemand zu sehen war, der zu seiner Bande gehörte, überquerte sie die Straße und umging die Pfützen, die das Gewitter der vergangenen Nacht zurückgelassen hatte.

Mitten auf der Straße traf sie auf Pilam, den Bäcker, der sich mit einem schwer beladenen und mit Sackleinen abgedeckten Handkarren abplagte. Wie ein Felsbrocken in der Strömung zwang er die Menge, auseinander zu gehen und einen Bogen um ihn zu schlagen. Sein Glatzkopf war rot vor Anstrengung und schweißnass, doch als er sie sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht.

»Rhapsody! Wie geht’s dir an diesem herrlichen Nachmittag?«

»Hallo, Pilam. Lass dir helfen.« Sie eilte herbei, packte mit beiden Händen zu und hievte den Karren aus der Furche, in der eines seiner Räder stecken geblieben war. Um ihn wieder in Bewegung zu bringen, schob Pilam allzu kräftig an, sodass ein Stapel Fladenbrote über den Rand kippte. Er fing eines davon auf und reichte es dem Mädchen, das ihn noch ein Stück Wegs begleitete.

»Nimm das hier, Liebes, als Dank für deine Hilfe.«

»Das ist nett von dir. Vielen Dank«, sagte Rhapsody und schenkte ihm ein Lächeln, das ihm die Knie weich werden ließ.

Sie packte das Brot in ihre Tasche und sah sich wieder um.

Dass sie mit ihren goldenen Haaren in der Menge auffiel, kam ihr zupass, denn je mehr Zeugen sie vom Federhut weggehen sahen, desto weniger musste sie sich um Barney und Dee Sorgen machen. Vor der nächsten Querstraße angelangt, fiel ihr Blick auf eine vertraute Gestalt, die sich intensiv mit einem Stadtbüttel zu unterhalten schien. Schnell zog sie die Kapuze über den Kopf und ging hinter einer Reihe Fässer in Deckung, die vor dem Geschäft eines Bogenmachers standen. Von ihrem Versteck aus konnte sie beobachten, wie sich ein zweiter Büttel in die Unterhaltung einschaltete. Nach einer Weile gingen alle drei schnellen Schritts die Straße entlang, Richtung Federhut. Rhapsody kamen erste Bedenken, als sich die Männer auf das Gasthaus zu bewegten und unterwegs einzelne Passanten aufhielten und befragten. Die ersten drei oder vier schienen keine Auskunft geben zu können, aber dann gerieten sie an eine Frau, die auf ihre Fragen eifrig nickte und auf die Straße zeigte, ungefähr dorthin, wo Rhapsody sich versteckt hielt. Es erleichterte sie, dass die Männer vor dem Federhut kehrtmachten und nun in ihre Richtung liefen. Sie zog die Kapuze tief ins Gesicht und bog in die Querstraße ein.

Mit der Königsstraße verließ sie das Geschäftsviertel und gelangte in ein Wohngebiet mit engen Gassen. Rhapsody kannte sich hier sehr gut aus; es boten sich ihr jede Menge Versteckmöglichkeiten. Sie hatte schon fast das Ende der ersten Häuserzeile erreicht, als aus dem Hintergrund Geschrei ertönte.

Sie fuhr herum und sah ein Dutzend Wachmänner und Büttel mit langen Schritten und gezückten Waffen hinter sich herlaufen. Rhapsody staunte nicht schlecht darüber, dass jetzt auch Wachen der Stadt zu Michaels Befehlsempfängern zählten. Jedenfalls war dies noch nicht der Fall gewesen, als sie das Unglück gehabt hatte, geschäftlich mit ihm zu verkehren – vor nunmehr fast drei Jahren. Barney hatte offenbar Recht mit seiner Warnung vor Michaels gewachsenem Einfluss. Die Sache schien brenzliger zu werden als angenommen.

Geduckt und die Kapuze tief im Gesicht, hastete sie um die Ecke, die Gasse entlang und auf ein Gässchen zu, das zwischen einem offenen Schuppen mit Strohdach und einem zweigeschossigen Haus aus Lehmziegeln hindurchführte. In einem Aushub unter dem Strohdach lagerten Rüben. Rhapsody quetschte sich an dem Loch vorbei und wühlte sich in einen Haufen Stroh, das vom Dach herabgerutscht war. Von ihrem Versteck aus waren die Männer gut zu hören; dann kamen sie auch in Sicht, zumindest einige von ihnen. Die Meute hatte sich offenbar in kleinere Gruppen aufgeteilt, und es schien, als hätten sich dem Dutzend noch etliche mehr angeschlossen.

Eine Dreiergruppe kam um die Ecke und passierte sie im Abstand einer Armeslänge. Sie hielt die Luft an, als die Kerle Halt machten und fluchend zwischen umgekippten Holzkisten herumstöberten. Am liebsten hätte auch sie ein paar deftige Flüche ausgestoßen. Wie war es möglich, dass sie von Michaels Aufstieg zur Prominenz nichts mitbekommen hatte? Vor lauter Abscheu, den sie gegen ihn empfand, hatte sie wohl vergessen, den Verstand einzusetzen, und dieser Fehler bereitete ihr nun Probleme, auf die sie nicht eingestellt war. Aber blieb mir denn etwas anderes übrig?, fragte sie sich. Gammon gehorsam zu begleiten wäre wahrlich nicht in Betracht gekommen.

Rhapsody sah, wie einer der drei Wächter einen Klumpen Kohle zur Hand nahm und ihn mit Wucht an die Wand des Nachbarhauses schleuderte. Es dauerte nicht lange und ein Mann in Lederschürze trat mit Gebrüll vor die Tür. Zwischen den beiden entzündete sich ein heftiger Streit, den Rhapsody nutzte, um ihr Versteck zu verlassen und Reißaus zu nehmen, zurück in Richtung Querstraße, die in die Königsstraße einmündete. Sie hatte die Ecke fast erreicht, als hinter ihr jemand laut aufschrie. Auf die Königsstraße zurückzukehren war jetzt nicht mehr ratsam, denn dort gab es nirgends Unterschlupf für sie, zumal allen, die sie aufnehmen würden, Ärger drohte. Während die Büttel johlend die Verfolgung aufnahmen, näherten sich nun auch noch zwei Häscher von vorn. Sie steckte in der Klemme.

Rhapsody versuchte, in eine Seitengasse auszuweichen, wurde aber plötzlich unsanft zu Boden gerissen. Ein Wachmann hielt sie gepackt, warf sie auf den Rücken und schlug ihr ins Gesicht, wofür sie sich mit einem auf die Genitalien gezielten Pferdekuss revanchierte. Während sich der Widersacher vor Schmerzen krümmte, sprang sie auf die Füße und rannte – dem zweiten Kerl in die Arme, der sie vom Boden lupfte und in die Gasse zurücktrug, sosehr sie sich auch mit Händen und Füßen wehrte.

»In der Tat, du bist nicht gerade leicht zu handhaben«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber du wirst ihn bestimmt auf seine Kosten kommen lassen, nicht wahr? Wenn er’s dir gibt, Süße, dann denk an mich.«

Er versuchte ihr einen Kuss auf den Hals zu drücken und grapschte mit der freien Hand nach ihrer Brust.

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riss sie sich aus seinem Griff los, mit dem er ihr den Arm auf den Rücken gedreht hielt. Von dem Schmerz, der ihr dabei von der Schulter bis in die Fingerspitzen fuhr, wurde ihr übel. Aber sie unterdrückte den Brechreiz und schüttelte mit einem Schlenker den Dolch aus dem Ärmel in die Hand.

Noch hielt er sie mit dem anderen Arm von hinten gepackt, da zielte sie mit der Klinge dahin, wo sie die Augen des Gegners vermutete. Sein gellender Schrei und ihre schnelle Freigabe verrieten ihr, dass sie ziemlich genau getroffen hatte. Die drei anderen Wachen, die sich ihr auf die Fersen geheftet hatten, waren angesichts der Szene, die sich ihnen da bot, wie angewurzelt stehen geblieben. Bevor sie sich besinnen konnten, war Rhapsody auf und davon und rannte so schnell sie konnte auf die dunkleren Seitengassen zu. Während sich einer der Verfolger um den schwer verletzten Kumpan kümmerte, setzten ihr die anderen wieder nach, kaum dass sie ihren ersten Schock verwunden hatten. Sie sahen das Mädchen an zwei mit Wäschekörben bepackten Frauen vorbeiflitzen und in der nächsten Seitengasse verschwinden.

Rhapsody hielt keuchend an und sah sich nach einem Versteck um. Aber da war keines. Sie rannte weiter, blieb aber bald wieder stehen, als sich ihr vom anderen Ende der Gasse zwei Gestalten näherten.

Die eine war von gigantischen Ausmaßen und trug eine mit Metallbändern armierte Lederrüstung sowie einen Helm mit spitz aufragendem Pickel. Die andere Gestalt war in einen Umhang mit Kapuze gehüllt und hielt das Gesicht hinter einer Art Schleier verborgen; obwohl im unmittelbaren Vergleich zu dem Koloss geradezu klein, war auch sie in Wirklichkeit recht groß, wie Rhapsody auf Anhieb ahnte. Der Mann bewegte sich erstaunlich gewandt und blieb reaktionsschnell stehen, kaum dass er das Mädchen entdeckt hatte. Der Riese dagegen war, ehe er etwas bemerkte, schon drei Schritte weiter. Rhapsody warf einen Blick zurück. Die drei Wachen waren um die Ecke gebogen und bis auf dreißig Schritt herangekommen. Sie steckte zwischen den Fremden und ihren Verfolgern in der Falle. Weil sie aber wusste, was von den Wachen zu erwarten war, entschloss sie sich, die beiden Fremden um Hilfe zu bitten.

Ihnen zugewandt und vor Erschöpfung keuchend, sagte sie: »Bitte, gebt mir den Weg frei. Lasst mich durch.« Die beiden Fremden sahen einander an, rührten sich aber nicht.

Auf gleicher Höhe und sehr viel langsamer als vorher rückten die drei Wachen vor. Rhapsody legte nun alle Hoffnung darein, ihnen weismachen zu können, dass sie in den Fremden mächtige Verbündete hatte, und bedachte das ungleiche Paar mit dem bezauberndsten Lächeln, das sie aufbringen konnte.

»Verzeiht, wenn ich aufdringlich erscheine, aber bitte seid so gut und nehmt euch meiner an. Adoptiert mich. Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.«

Der Mann neben dem Riesen nickte leicht mit dem Kopf.

»Danke vielmals«, sagte Rhapsody und wandte sich wieder den Wachen zu. »So ein Zufall!«, keuchte sie und grinste übers ganze verschwitzte Gesicht. »Meine Herren, Sie kommen gerade zur rechten Zeit, um Bekanntschaft mit meinem Bruder zu machen. Bruder, darf ich vorstellen: Das sind die Büttel der Stadt. Meine Herren, das ist mein Bruder. Achmed, die Schlange.«

Für einen kurzen Augenblick hatte Rhapsody den Eindruck, als dehnte sich die Zeit um sie herum aus. Das Blut schoss ihr ins Gesicht; sie hörte und spürte ein fernes, aber vernehmliches Knacken, gefolgt von einem Geräusch, als würde Rauch verpuffen.

Ihr wurde mit einem Male ganz anders; womöglich hatte sie sich beim Laufen verausgabt. Ihr schwindelte, und sie stöhnte innerlich vor Pein, kaum dass sie den idiotischen Namen ausgesprochen hatte, der ihr ganz spontan eingefallen war. Wie auch immer, ihr Täuschungsmanöver schien Wirkung zu zeigen: Die Stadtwachen starrten die Fremden an und bekamen es ganz offensichtlich mit der Angst zu tun. Da schwirrte etwas in schneller Folge über ihren Kopf hinweg, flirrend und dünn wie Schmetterlingsflügel, so rasch, dass ihre Augen kaum folgen konnten. Jedes der Geschosse traf tödlich, und die Wachen fielen, einer nach dem anderen, der Länge nach in den Staub, ohne sich noch einmal zu bewegen.

Rhapsody mochte ihren Augen kaum glauben. Sie wandte sich wieder den Fremden zu. Der kleinere der beiden schulterte gerade eine seltsam aussehende Waffe – eine Art Armbrust mit asymmetrisch geformten Wurfarmen – und warf den Umhang darüber. Sie ließ sich ihr Staunen deutlich anmerken.

»Gute Arbeit«, sagte sie. »Vielen Dank.«

Die beiden Fremden sahen einander an und spähten um die Ecke. Der mit dem Umhang streckte ihr seine Hand hin, die zwar schlank aussah und in Leder gehüllt war, aber nichtsdestotrotz bedrohlich wirkte.

»Komm mit uns, wenn dir dein Leben lieb ist«, sagte er.

Seine Stimme klang trocken und unnatürlich rau, und es schwang ein Ton darin mit, der Rhapsody unwillkürlich aufhorchen ließ.

Sie warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, als im Hintergrund die Geräusche aufmarschierender Wachen zu hören waren, und wieder dem Fremden zugewandt, ergriff sie dessen behandschuhte Hand. Zu dritt rannten sie davon und tauchten ein in die Schatten der labyrinthischen Gassen, die das Licht der Nachmittagssonne schon nicht mehr erreichte.

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