28

Der Wachsoldat am Tor von Haguefort, dem Schloss des Herzogs, Stephen Navarne, hatte den Kammerherrn gerufen, um ihn zu Rate zu ziehen. Gerald Owen diente dem Herzog seit über zwanzig Jahren, war schon zu dessen Jugendzeit in seinen Dienst getreten und hatte seitdem unter anderem auch sehr viel Ungewöhnliches erlebt. Doch was er nun vor sich sah, war ohne Vergleich. Von den drei Reisenden am Tor waren zwei mit Umhang und Kapuze verhüllt: eine kleine Frau von schlankem Wuchs und mit strahlend grünen Augen und ein drahtiger Mann, der sie um eine Haupteslänge überragte. Dass sie unter der Kapuze kaum zu erkennen war, fand er bedauerlich; er hätte allzu gern mehr von ihr gesehen. Im Fall des Mannes aber schien die Verkleidung ein Segen zu sein.

Begleitet wurden die beiden von einem Monstrum, das gut über sieben Fuß maß. Der Anblick seiner Stoßzähne, die aus den Mundwinkeln herausragten, brachte Owens Blut ins Stocken.

»Ahm, doch ja, alles in Ordnung«, stammelte er, nachdem er den Brief des Fürbitters zum wiederholten Mal gelesen hatte. »Tja, nun, wenn ich bitten darf ...«Er öffnete das Tor und nickte den Wachen zu, die daraufhin ihren Posten verließen und den seltsamen Besuchern ins Schloss folgten. Das Schloss war wunderschön, von klassisch strenger Architektur, aber durchaus mit schmückendem Beiwerk und aus rosig-braunem Stein gebaut. An den Mauern kletterten Ranken, die zwar jetzt im Winter kahl und tot waren, sommers wohl aber einen prächtigen Wandbehang abgaben. Um den äußeren Hof herum waren Gärten angelegt, auf denen sich jetzt Schmelzwasser in großen Lachen breit machte. Als sie die große Eingangspforte aus schwarzem Mahagoni erreichten, blieb Gerald Owen stehen.

»Bitte hier zu warten. Ich werde Seiner Hoheit euren Besuch melden.« Er verbeugte sich, öffnete die Tür und verschwand dahinter.

Wartend drehte sich Rhapsody einmal um die eigene Achse und schaute in die Runde. Das Schloss von Stephen Navarne lag auf einer Anhöhe und bot weite Ausblicke auf eine sanft geschwungene Weidelandschaft und den Wald dahinter. Auf dem Weg hierher waren Grunthor viele gut getarnte Verteidigungsanlagen aufgefallen. Das Schloss schien trotz seiner schönen und friedlichen Fassade bestens gerüstet zu sein für den Fall, dass es angegriffen wurde. Rhapsody bemerkte, dass ihre Freunde von der Art der Befestigung durchaus beeindruckt waren.

Der Kammerherr hatte die Tür nur angelehnt, wahrscheinlich absichtlich, um die Gäste nicht zu brüskieren. Achmed lehnte sich ganz zwanglos dagegen und nickte den Wachposten höflich zu. Wie von ihm beabsichtigt, ging die Tür einen Spalt auf. In der Eingangshalle war nun eine helle, Wohltönende Männerstimme zu vernehmen.

»Sie ist in Begleitung eines riesigen was?«

In Gerald Owens Antwort schwang ein Unterton mit, der deutlich machte, dass er alles andere als glücklich war. »Ich glaube, es ist ein Firbolg, Eure Hoheit.«

»Ein Firbolg? Großartig. Dann werde ich wohl auf der Fürstenversammlung im nächsten Monat der Einzige sein, der jemals mit einem Firbolg an einer Tafel gesessen hat. Führ den Besuch herein, und zwar mit aller gebotenen Höflichkeit.«

Nach einer kurzen Pause: »Sehr wohl, Eure Hoheit.«

»Ach, aus dem Weg, Owen. Ich werde die Herrschaften persönlich empfangen.«

Schritte hallten durch den hohen Raum. Wenig später schwang die schwere Mahagonitür auf und ließ einen lächelnden Mann zum Vorschein treten. Er schien noch jung und voller Energie zu sein, auch wenn das blonde Haar an den Schläfen schon ein paar graue Schatten zeigte.

Wie im Falle Anborns standen auch bei ihm die Fältchen unter den Augen im scheinbaren Widerspruch zu dem ansonsten jugendlichen Aussehen. Rhapsody fragte sich, ob dies womöglich eine cymrische Eigenart sein könnte, ein Hinweis auf die Langlebigkeit, die sie der Passage durch die Zeit verdankten. Der Herzog stammte sehr wahrscheinlich von den Cymrern ab, da er ja laut Llaurons Auskunft ein Gelehrter der cymrischen Geschichte war.

Der junge Herzog verbeugte sich höflich. »Willkommen! Ich bin Stephen Navarne. Tretet bitte ein.«

Auf sein Zeichen hin zog der Kammerherr, dem immer noch der Schock in den Gliedern zu stecken schien, die Tür weit auf.

Rhapsody und Grunthor verbeugten sich tief. Achmed nickte nur kurz mit dem Kopf.

»Vielen Dank, Eure Hoheit«, sagte Rhapsody und trat ein. Die beiden Firbolg folgten ihr auf den Fersen. »Ich hoffe, wir kommen nicht Ungelegen.«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Stephen. Seine Augen – blaugrün wie die Kornblumen im Hochland – lächelten. »Und bitte, nennt mich Stephen. Es freut mich, dass ihr gekommen seid. Ich werde mich bei Llauron noch ausdrücklich dafür bedanken, dass er euch zu mir geschickt hat. Hattet ihr eine angenehme Reise?« Während er sprach, nahm er Rhapsodys Hand und beugte sich über sie.

Die drei sahen einander an. »Über weite Strecken, ja«, meinte Achmed und kam Rhapsody zuvor, die gerade zu einer ausführlicheren Antwort ausholen wollte. Der Herzog blickte auf und zeigte sich irritiert von Achmeds trockener Stimme. Dann aber drehte er sich um und forderte die Besucher mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.

»Habt ihr Hunger? Es wird bald zu Mittag gegessen, aber ich könnte euch schon vorher eine Erfrischung servieren lassen.«

»Nicht nötig, vielen Dank«, sagte Rhapsody und gab sich Mühe, seiner guten Laune zu entsprechen. Zu Mittag wurde die große Tafel im prächtigen Speisesaal gedeckt, an der mehrere Dutzend Gäste Platz gefunden hätten.

Zur Südseite des Raumes öffnete sich ein riesiges bleiverglastes Fenster, das auf Hof und Schlosspark hinauswies. Vor der Wand gegenüber befand sich eine offene Feuerstelle, die, wie Grunthor laut bemerkte, groß genug war, um einen ganzen Ochsen darin am Spieß zu braten. Der Schlossherr kommentierte diese Bemerkung mit herzhaftem Lachen.

»Eine großartige Idee! Die sollten wir an Mellies Geburtstag in die Tat umsetzen. Er fällt auf den ersten Frühlingstag und wird immer groß gefeiert.«

»Wer ist Mellie?«, wollte Grunthor wissen.

Der Herzog rieb die Handflächen aneinander und zeigte dann auf ein großes Ölgemälde, das in einem schmuckvollen Rahmen über der Feuer stelle hing. Darauf waren eine Frau und zwei Kinder abgebildet, ein Junge und ein Mädchen. Die Frau war schlank und dunkelhaarig, hatte schwarz-braune Augen und ein scheues Lächeln.

Der Junge an ihrer Seite mochte etwa sieben Jahre alt sein, hatte die forschen, blau-grünen Augen des Vaters und das dunkle Haar der Mutter geerbt. Seine Schwester, noch ein Säugling, hockte auf dem Schoß der Frau. Es hatte die elterlichen Merkmale anders aufgeteilt: hellblonde Locken und Augen so schwarz wie die Nacht.

»Mellie – Melisande – ist meine Tochter. Das Bild zeigt sie noch als Säugling; darauf seht ihr außerdem meine Frau Lydia und Gwydion, unseren Sohn.«

»Werden wir Eure Familie noch kennen lernen?«, fragte Rhapsody.

Der Herzog erwiderte ihr Lächeln und sagte: »Die Kinder werden sich freuen, eure Bekanntschaft zu machen. Meine Frau ist leider schon tot.«

Grunthor sah das Lächeln aus Rhapsodys Gesicht weichen. »Das tut uns Leid zu hören«, sagte er und gab dem Herzog einen tröstlich gemeinten Klaps auf den Rücken, der aber so kräftig war, dass jener mit der Brust beinahe auf seinem Teller gelandet wäre.

Lachend richtete er sich auf. »Danke«, sagte er und bemerkte, dass sich die Küchentür geöffnet hatte. Die Köche traten ein und trugen beladene Tabletts vor sich her. »Es ist jetzt vier Jahre her. Gwydion scheint mit dem Verlust inzwischen klargekommen zu sein, und Melisande kann sich an ihre Mutter gar nicht mehr erinnern. Na bitte, da kommt Hilde mit dem Essen. Bitte Platz zu nehmen.«

Erst nach viermaligem Nachschlag hatte Grunthor seinen Hunger auf Schinken und geröstetes Moorhuhn gestillt. Die Porzellanterrinen hatten zwei- oder dreimal mit Süß- und Salzkartoffeln nachgefüllt werden müssen, was Rhapsody schrecklich peinlich war.

Stephen Navarne aber schien sich über den Appetit des Riesen köstlich zu amüsieren und hielt die Dienerschaft auf Trab, die dafür sorgte, dass Grunthors Teller nicht leer wurde. Schließlich, nachdem er solche Mengen verzehrt hatte, von denen die gesamte Wachmannschaft des Schlosses satt geworden wäre, gab sich Grunthor endlich zufrieden.

»Jetzt passt wirklich nichts mehr rein«, sagte er und wischte sich den Riesenmund mit einer zierlichen kleinen Spitzenserviette ab. »Hat vorzüglich geschmeckt.« Achmed nickte beipflichtend, während Rhapsody hinter vorgehaltener Hand grinste.

Stephen sprang vom Tisch auf. »Gut! Schön, dass es euch geschmeckt hat. Ich schlage vor, wir trinken jetzt noch ein Gläschen canderischen Weinbrand in meinem Arbeitszimmer. In Llaurons Brief steht zu lesen, dass ihr an meinem Museum interessiert seid. Damit wir in der Kälte den Weg dorthin schaffen, sollten wir uns vorher ein wenig stärken. Einverstanden?«

»Aber ja«, pflichtete Achmed bei.

Rhapsody merkte auf. So leutselig hatte sie den Dhrakier noch gar nicht erlebt, schon gar nicht in Gegenwart eines Mannes, der ihm gänzlich fremd war. Doch anscheinend hatte er an Stephen Navarne auf Anhieb Gefallen gefunden.

Auch sie fand ihn sehr sympathisch. Er war ungewöhnlich offen in seiner Art und voller Energie und Lebensfreude, obwohl ihm das Leben schon arg mitgespielt hatte. Seine gute Laune wirkte ansteckend, so auch die Begeisterung, die er für jedes noch so kleine Detail aufbrachte. Galant half er Rhapsody beim Aufstehen und bot ihr seinen Arm an. Mit Blick auf die Firbolg sagte er:

»Hier lang, meine Herren«, und steuerte auf eine Tür neben der Feuerstelle zu. Die Ledersohlen seiner Stiefel klickten auf dem polierten Marmorboden, als er die Gäste aus dem Speisesaal führte.

»Llauron sagt, dass ihr von den Grenzüberfällen und Angriffen wisst, unter denen wir zu leiden haben«, sagte Stephen, als er Achmed einen Schwenker Weinbrand reichte.

Der Dhrakier hatte sich vor das größte Fenster des Raums gestellt, das nach Osten wies und ebenfalls einen Teil des Hofes und die Hügel von Navarne überblickte. Auf der gepflasterten Fläche des Hofes spielten lachend zwei Kinder. Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Herzogs, als er die beiden sah.

»Gwydion und Melisande«, sagte er, an Rhapsody gerichtet, und nickte nach unten. Die trat ans Fenster und schaute hinab.

»Er hat uns nur wenig dazu gesagt, nichts Konkretes«, erwiderte Achmed im Plauderton. Von dem, was er und Grunthor aus eigenen Beobachtungen wussten, erwähnte er nichts. »Sind diese Überfälle der Grund für die vielen Befestigungsanlagen, die hier gebaut werden?« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine dicke hohe Steinmauer, die sich, nur zur Hälfte fertig gestellt, jenseits einer Weide in nördliche Richtung erstreckte, so weit das Auge reichte.

»Ja«, antwortete der Herzog unumwunden. »Navarne hat den Nachteil, dass es hauptsächlich aus kleinen Dörfern oder Hofschaften besteht, zu denen jeweils nur zwei oder drei Farmen gehören, und die Hauptstadt liegt mehrere Tagesritte von meinem Herzogtum weit entfernt. Mit anderen Worten, wir sind sehr verwundbar. Wenn der nächste Militärposten über zwei Tage weit entfernt ist, kann eine kleine Gemeinde zerschlagen werden, ohne dass ein Hahn danach kräht. Und dazu ist es bei uns nun schon allzu oft gekommen. Anfangs habe ich Waldläufer und Soldaten abgestellt, um einzelne Ortschaften zu schützen, was aber nicht viel geholfen hat. Deshalb hielt ich es für besser, möglichst große Abschnitte mit einem Wall zu umfrieden, in der Hoffnung, das Landvolk und die Äcker besser schützen zu können. Ich habe alle Bauern von nah und fern eingeladen, innerhalb dieser neuen Befestigungsanlage zu leben, und viele sind der Einladung gefolgt. Die anderen wollen ihr Erbland nicht verlassen, selbst auf die Gefahr hin, überfallen zu werden, wofür ich durchaus Verständnis habe, zumal es innerhalb der Mauern sehr bald eng und enger werden wird. Mit der Ruhe auf meinen Ländereien wird es dann vorbei sein, doch für die Sicherheit meiner Untertanen bin ich gern bereit, den Preis zu zahlen. Allerdings bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob sie der Wall auch schützen wird. Wie dem auch sei, es muss etwas getan werden.«

Rhapsody nickte und sah in der Ferne Maurer bei der Arbeit am Wall. Der war im direkten Vergleich ungefähr doppelt so hoch wie die Männer. Was der Herzog da abzuwehren versuchte, musste demnach von eindrucksvoller Größe sein.

Zum ersten Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, zeigte er sich von einer sehr ernsten Seite.

»Außerdem habe ich einen ganz persönlichen Grund. Zu den Opfern dieser Überfälle zählen nämlich auch meine Frau und ihre Schwester.« Er blickte in den Hof hinunter, wo seine Kinder spielten. In Rhapsodys Ohren klang deren Lachen mit einem Male freudlos und hohl.

Ihr wurde ganz schwer ums Herz von den Worten des Herzogs, obwohl er sie ohne Verbitterung ausgesprochen hatte.

»Das tut mir sehr Leid«, sagte sie.

Stephen nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.

»Danke. Es war vor vier Jahren. Melisande hatte gerade zu laufen angefangen. Lydia fuhr in die Stadt Navarne, um ihr ein Paar Schuhe zu kaufen. Sie und meine Schwägerin hatten immer viel Spaß an solchen Ausflügen. Die Kleine hatte eine Erkältung – zum Glück, denn anderenfalls wäre sie mitgenommen worden. Auf dem Rückweg nach Hause wurden sie und alle, die mit ihnen reisten, von lirinschen Soldaten überfallen und getötet. Ich will euch die Einzelheiten ersparen, nur so viel: Als ich sie fand, hielt sie immer noch die Schuhe mit den Händen umklammert. Natürlich waren sie nicht mehr zu gebrauchen. Das Blut, das an ihnen klebte, ließ sich einfach nicht wegwischen.«

Rhapsody hatte das Gefühl, als wollte sich ihr Magen umdrehen. Achmed und Grunthor nickten stumm; es war offenbar nicht das erste Mal, dass sie von solchen Gräueltaten hörten.

»Von den Banditen konnten einige wenige noch am Tatort festgenommen werden. Doch sie bestritten schlichtweg, an dem Massaker beteiligt gewesen zu sein. Dabei konnte es an ihrer Schuld gar keinen Zweifel geben; schließlich waren sie auf frischer Tat ertappt worden. Und trotzdem schwor jeder von ihnen noch auf dem Schafott, von dem Überfall nichts gewusst zu haben. Ich kann es auch jetzt noch nicht fassen. Mir waren die Lirin schon mein ganzes Leben lang als ehrenwerte Nachbarn vertraut. Es passt überhaupt nicht zu ihnen, dass sie die Verantwortung für etwas, das sie getan haben, nicht übernehmen. Mit ihrer Hinrichtung hat sich, wie ich glaube, mein Hass gegen sie fast gänzlich aufgelöst. Sie schienen wirklich vollkommen perplex zu sein und überhaupt nicht zu wissen, wie ihnen geschah. Sonderbar.«

Die Bolg sahen einander an. »Allerdings. Sind es immer nur Lirin, die über Eure Orte herfallen?«, wollte Achmed wissen.

»Nein, und auch das ist so sonderbar an diesen Übergriffen. An etlichen Raubzügen sind Einwohner von Roland beteiligt, ja, man hat sogar Soldaten aus Navarne gestellt, die in anderen Provinzen und in Tyrian ähnliche Verbrechen begangen haben. Und ich schwöre beim Leben meiner Kinder, dass ich solche Überfälle nie und nimmer angeordnet habe. Doch was das Schlimmste ist: Seit neuestem scheinen es diese Verbrecher auf die Kinder in Navarne abgesehen zu haben.« Er öffnete das Fenster, beugte sich über den Sims und rief seinem Sohn und seiner Tochter zu: »Gwydion, Melisande, kommt jetzt bitte rein.«

Die Kinder blickten auf und kamen der Aufforderung des Vaters widerwillig nach, der so lange nach unten schaute, bis sie die vom Kammerherrn geöffnete Pforte passiert hatten. Erst dann wandte er sich wieder seinen Gästen zu. »Entschuldigt. Aber ich bin dieser Tage ziemlich nervös und finde kaum Schlaf vor Angst und Sorge. In unserer Provinz werden fast zwei Dutzend Kinder vermisst. Ihrem Verschwinden gingen jedes Mal Überfälle voraus, und weil keine Leichen zu finden sind, nimmt man an, dass sie verschleppt wurden. Bislang konnte nur eines der Kinder wieder gefunden werden. Sein Vater brachte die Kidnapper zur Strecke, die übrigens aus Navarne stammten. Und auch hier haben wir wieder den absurden Fall, dass die Täter behaupten, unschuldig zu sein und von ihrer Tat nichts zu wissen. Es scheint, als hätten all diese Schurken ihr Gedächtnis verloren.«

Der Herzog leerte sein Glas, setzte es auf dem Schreibtisch ab und ging zur Tür, wo er an einem Glockenstrang zog. Wenig später tauchte eine junge Frau im Türrahmen auf.

»Ja, Eure Hoheit?«

»Rosella, steck die Kinder in die Badewanne, zieh ihnen frische Sachen an und bring sie dann bitte hierher, damit ich sie unseren Gästen vorstellen kann.« Die Frau nickte und ging, nicht ohne vorher einen empörten Blick auf den Riesen geworfen zu haben, der sich doch tatsächlich erdreistete, seine Füße auf dem Schreibtisch des Schlossherrn abzulegen.

Ungefähr eine Stunde später flog die Tür auf, und die Kinder kamen ins Zimmer gelaufen, direkt auf ihren Vater zu. Stephen ging in die Hocke, warf die Arme auseinander, drückte die beiden an sich und wiegte sie so wild hin und her, dass sie ausgelassen zu kichern anfingen.

Als der Blick des kleinen Mädchens zufällig an Rhapsody hängen blieb, hörte es abrupt zu lachen auf und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Rhapsody lächelte und hoffte, das Kind für sich einzunehmen, doch es riss sich aus der Umarmung des Vaters, richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf sie und rief: »Wer ist das, Papa?«

Stephen blickte auf und sah, auf wen die Tochter zeigte. Er zog sie wieder an sich und antwortete: »Es gehört sich nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen.« Sein Tonfall klang genau so wie der, den Rhapsodys Vater in solchen Situationen immer angeschlagen hatte. Manches, so dachte sie, ist offenbar immer und allenthalben gleich, über alle sozialen Rangunterschiede hinweg.

»Das sind unsere Gäste. Ich habe euch rufen lassen, damit ihr sie kennen lernt. Diese Dame heißt Rhapsody. Hast du ihr vielleicht etwas zu sagen?«

Das Mädchen starrte Rhapsody unverwandt an. So auch der Bruder. Stephen setzte eine strenge Miene auf und sagte: »Nun, Mellie, was hast du zu sagen?«

»Du bist schön«, sagte das Kind, und seine Stimme war voller Bewunderung. Der Vater errötete.

»Du hast natürlich vollkommen Recht, aber ich habe an eine andere Art der Begrüßung gedacht.«

»Aber damit bin ich mehr als zufrieden«, sagte Rhapsody fröhlich. Grunthor und Achmed sahen einander an, als wollten sie sagen: Vielleicht glaubt sie’s jetzt, da das Kompliment aus dem Mund eines Kindes kommt. Doch schon wenig später meinten sie beobachten zu können, dass diese Hoffnung wohl allzu hoch gegriffen war.

Rhapsody ging auf die Kinder zu, blickte zuerst lächelnd auf Melisande herab und schaute dann den Jungen an, der beinahe schon so groß war wie sie.

»Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen, Melisande und Gwydion. Darf ich euch meine beiden Freunde Achmed und Grunthor vorstellen?« Melisande ließ Rhapsody nicht aus den Augen. Gwydion aber richtete den Blick auf die beiden Firbolg und grinste übers ganze Gesicht.

»Hallo«, sagte er und ging mit ausgestreckter Hand auf Grunthor zu. Der Riese schlug die Hacken zusammen, schüttelte die Hand des Jungen und gab Acht, dass er sie in seinen Klauen nicht zerquetschte. Gwydion wandte sich dann Achmed zu und gab auch ihm zu Begrüßung die Hand.

»Wirst du meine neue Mutter sein?«, fragte Mellie, worauf Rhapsodys Gesicht eine ähnliche Farbe annahm wie Stephens, der bis zu den Ohren scharlachrot angelaufen war.

Auf der anderen Seite des Raums prustete Grunthor vor Lachen. »Da sieht man’s wieder. Schon mein alter Herr hat immer gesagt, dass Kinder der einzige Grund sind, warum ein Mann nich ewig leben will, denn sie sorgen mindestens einmal täglich dafür, dass er vor Scham im Boden versinken möchte.«

»Demnach müsste ich längst auf dem Friedhof liegen«, antwortete der Herzog lachend. »Ich bitte, meiner Tochter zu verzeihen, gnädiges Fräulein.«

Rhapsody ging vor dem Mädchen in die Hocke. »Das ist gar nicht nötig«, antwortete sie auf Stephens Entschuldigung, ohne das Kind aus den Augen zu lassen. »Sie ist reizend. Wie alt bist du, Melisande?«

»Fünf«, gab Melisande zur Antwort. »Wär’s dir denn nicht recht, ein kleines Mädchen zu haben?«

Stephen wollte eingreifen, doch Rhapsody winkte ab und legte die kleinen Hände des Mädchens in die ihren. In seinen tiefschwarzen Augen lag eine Traurigkeit, die Rhapsody zu Herzen ging. Sie wusste nur allzu gut, wie einem Kind ohne Mutter zumute war.

»0 doch«, antwortete sie. »Aber nur, wenn das kleine Mädchen so lieb und nett wäre wie du.«

»Und was hältst du von Jungen?«, fragte Gwydion, der nicht abseits stehen wollte.

»Für den Fall, dass nach mir verlangt wird: Ich bin in der großen Halle und werde vom Balkon springen«, kündigte der Herzog an.

Rhapsody drehte sich um und musterte den Jungen mit ernster Miene. »Von denen halte ich sehr viel«, antwortete sie ohne jede Ironie in der Stimme.

»Geschäftssinnig, wie sie ist...«, murmelte Grunthor hinter vorgehaltener Hand.

Nicht, dass sie ihre gemeine Herkunft vergaß, doch konnte Rhapsody nicht umhin, die Fürstenkinder zu trösten. »Ich würde euch auf der Stelle an Kindes statt nehmen, wenn es euer Vater zuließe«, sagte sie und warf Grunthor einen bitterbösen Blick zu.

Stephen wollte etwas sagen, doch Rhapsody kam ihm zuvor. Dem Mädchen zugewandt, erklärte sie:

»Ich bin sehr viel auf Reisen und bleibe immer nur für kurze Zeit an einem Ort. Als Mutter wäre ich deshalb nicht besonders gut geeignet. Aber vielleicht könnte ich eure Ehren-Großmutter sein.«

»Großmutter?«, hakte Gwydion mit skeptischer Miene nach. »Dafür bist du doch noch gar nicht alt genug.«

Rhapsody schmunzelte wehmütig. »0 doch, das bin ich«, sagte sie. »Ihr müsst nämlich wissen, ich bin eine halbe Lirin und werde darum viel langsamer alt als andere. Aber glaubt mir, an Jahren ich bin alt genug, um eure Großmutter zu sein.«

»Was würde das für uns bedeuten?«, fragte Gwydion und rieb sich das Kinn mit Daumen und Zeigefinger, eine Geste, die er sich offenbar von seinem Vater abgeschaut hatte.

Rhapsody richtete sich wieder auf, ließ eine Hand des Mädchens frei und ging mit ihr quer durch den Raum auf den Jungen zu. Dort setzte sie sich auf den Schreibtischsessel, hob die Kleine auf ihren Schoß und streckte die Hand nach Gwydion aus. Der kam und ergriff sie. Rhapsody schien ernstlich über seine Fragen nachzudenken.

»Also, zuerst und vor allem würde ich nie ein Enkelkind adoptieren, das ich nicht für etwas ganz Besonderes hielte, für einzigartig auf der Welt, und das bedeutet: Ich würde es ganz besonders gern haben«, sagte sie.

»Dann würde ich jedes Mal, wenn ich meine Gebete spreche, an euch denken, und zwar so sehr, dass es mir vorkäme, als wäret ihr bei mir. Das täte ich an jedem Abend, wenn die Sterne am Himmel aufleuchten, und morgens, wenn die Sonne aufgeht. Um diese Zeit wüsstet ihr dann, dass ich an euch denke. Die Gebete, die ich singe, sind an den Himmel gerichtet, und vielleicht werdet ihr sie sogar hören können, denn der Himmel wölbt sich ja über uns alle. Sooft ihr euch einsam fühlt, braucht ihr nur zu warten, bis die Sonne aufgeht oder die Sterne zum Vorschein kommen; dann wisst ihr, dass da jemand ist, der euch lieb hat und an euch denkt, und ihr werdet euch bestimmt sofort ein bisschen besser fühlen.«

»Du würdest uns wirklich lieb haben?«, fragte Melisande mit feuchten Augen.

Rhapsody musste an sich halten, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. »Und ob. Das habe ich schon jetzt.«

»Wirklich?«, fragte Gwydion ganz erstaunt.

Sie schaute ihm tief in die Augen und sagte, getreu ihrer Wahrheitspflicht als Benennerin: »Ja, so ist es.« Und dem Mädchen zugewandt, fuhr sie fort: »Wer würde euch nicht lieb haben? Ihr könnt mir glauben; in solchen Dingen würde ich nie die Unwahrheit sagen.«

Sie sah zu Stephen auf, der sie voller Verwunderung anstarrte, und wich seinem Blick hastig aus. Sich so weit aus ihren Standesschranken herausgewagt zu haben kam ihr nun fast schon unverschämt vor.

»Wenn es mir möglich ist, werde ich euch besuchen oder von Zeit zu Zeit einen Brief schreiben. Aber im Grunde sind wir hier drinnen miteinander verbunden.« Sie zeigte auf ihr Herz und tippte dann den Kindern an die Brust. »Also, wie gefällt euch das? Wollt ihr meine ersten Enkel sein?«

Stephen staunte immer noch, was sie zunehmend befangen machte. Sie fürchtete, sich den Kindern und ihrem Vater gegenüber anmaßend verhalten zu haben.

»Natürlich nur, wenn euer Vater einverstanden ist.«

»Gewiss«, beeilte sich dieser zu sagen, um dem lautstarken Drängen der Kinder zuvorzukommen.

»Danke.« Und an Achmed gewandt: »Für die beiden wird’s jetzt Zeit, zu Bett zu gehen. Ich schlage vor, euch das Museum zu zeigen. Wie wär’s?«

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