20

Als es dunkel wurde, zogen sich die beiden Firbolg aus dem Dickicht zurück und wanderten in westlicher Richtung dem Meer entgegen. Es war noch meilenweit entfernt, doch Achmed schmeckte schon das Salz in der Luft.

Unweit einer kleinen Hofschaft kamen sie an einer verlassenen Scheune vorbei, wo sie ihr Nachtlager einrichteten. Abgesehen davon, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten, bot der morsche Bretterverschlag nur wenig Annehmlichkeiten, zumal sie es nicht wagten, ein Feuer zu machen. Der Boden lag voller Heu, das seit Jahren vor sich hin faulte. Damit deckten sich die beiden zu, doch es wärmte sie kaum.

Grunthor hatte Zweige von Schwarzweiden und Kirschbäumen gesammelt und den längsten Teil des Abends damit zugebracht, Pfeile zu schnitzen, um diejenigen zu ersetzen, die er vor schon so langer Zeit auf den Feldern und unter der Erde verschossen hatte. Achmed ertappte ihn mehr als einmal dabei, dass er eine der Melodien, die er von Rhapsody gelernt hatte, schräg und falsch vor sich hin summte.

Am nächsten Morgen erkundeten sie das Dorf und die umliegenden Höfe und kehrten mit Eiern und Winterrunkeln, mehreren Pferdedecken und ein paar Kleidungsstücken zurück, die der Größe nach Achmed passen mochten. Sie hatten auf ihrem Streifzug weite Wege gemacht und an den einzelnen Orten jeweils nur ganz wenig mitgehen lassen, um nur ja nicht aufzufallen.

»Schick, wie du aussiehst«, scherzte Grunthor, als Achmed feststellen musste, dass der gestohlene Umhang in Wirklichkeit ein Kleid war. Er schnitt ein Loch in eine der Pferdedecken und warf sie sich als Cape über die Schultern. »Aber bild dir bloß nich ein, mit der Gnädigsten um die Gunst der jungen Hirsche konkurrieren zu können. Ich fürchte, du wirst das Mauerblümchen bleiben.«

Achmed riss den Saum des Kleides ab und verkürzte es zu einem langen Hemd.

»Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn sie inzwischen nicht sogar die gesamte Belegschaft von Madame Parris Poussierpalast locker ausstechen könnte«, entgegnete er und zog sich seine neuen Kleider an. »Das Feuer hat ihr überhaupt nicht geschadet, und wer weiß, wofür ihre Wandlung demnächst noch gut sein mag. Ich hätte zuerst damit gerechnet, dass der Priester sich an ihr vergreift, aber er hat sich offenbar nicht getraut.«

»Ach ja, die gute alte Madame Parri. Die hätt ich beinah ganz vergessn. Wie’s den beiden Herzchen Brenda und Susie wohl so geht.«

Achmed kicherte. »Grunthor, ich bin sicher, sie werden dich sehr vermissen. Du hast Maßstäbe gesetzt, an die kein anderer heranreicht.« Er warf dem Riesen einen Winterapfel zu. »Komm, wir wollen uns noch ein wenig in der Gegend umtun.«

Die behelfsmäßige Bekleidung bot zusammen mit den alten Lumpen, die sie trugen, ausreichend Schutz vor den frostigen Temperaturen. Mit den Zügeln und Geschirrteilen, die sie sich ebenfalls heimlich angeeignet hatten, hatten sie ihre Stiefel zu reparieren versucht, was ihnen aber nicht so recht gelungen war. Es blieben immer noch Löcher, durch die der Schnee drang, und es war ihnen schrecklich kalt an den Füßen.

Im Westen wurde die Besiedlung zunehmend dichter. Nach wenigen Meilen erreichten sie eine Ortschaft, an deren Rand sie sich hinter stacheligen Schwarzdornbüschen versteckten und das Treiben der Dörfler beobachteten.

Obwohl sie die fremde Sprache längst nicht so gut verstanden wie Rhapsody, konnten sie doch das eine oder andere Wort aufschnappen. Besonders häufig gebraucht wurde das Wort Avonderre, und meist zeigte man dabei in südwestliche Richtung.

Anscheinend bezeichnete es die Nachbarschaft; unklar blieb den beiden Bolg jedoch, ob es sich um ein Dorf, eine Stadt, eine Provinz oder sogar um einen Nachbarstaat handelte.

Nachmittags hatten sie die ganze Ortschaft umkreist und waren im Begriff, weiter zu ziehen, als Achmed auf dem Frostüberzogenen Fahrweg eine entfernte Erschütterung wahrnahm.

Versteckt zwischen Bäumen mit silberner Borke, die es in Serendair nicht gab, schloss er die Augen und konzentrierte sich auf die Schallquelle. Der Fahrweg war nicht mehr als ein ausgetretener Pfad mit tiefen Schlaglöchern und Spurrillen im angetauten Boden. In der Erinnerung hörte er Rhapsodys weiche Stimme.

Unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder.

Ihm schwirrte der Kopf, und er musste sich am nächsten Baumstamm festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Und dann drohte er den Verstand zu verlieren. Sein visionärer Blick auf den Fahrweg verweilte kurz auf der Stelle, raste aber dann mit Schwindel erregendem Tempo voran.

Schließlich fiel sein inneres Auge auf eine Gruppe bewaffneter Reiter, die sichtlich müde und abgekämpft in Richtung Dorf galoppierten. Es waren rund ein Dutzend Männer; sie trugen dunkelgrünes Leder und ritten allesamt auf Rotschimmeln, den rötlich grauen Pferden des Waldes. Plötzlich erlosch das magische Bild, aber nicht bevor Achmed zwei Dinge registriert hatte. Erstens:

Noch auffälliger als Rüstung und Pferde waren die Gesichter der Reiter, markante Dreiecke, gebildet aus kräftigen Jochknochen und spitz zulaufendem Kinn. Haut und Haare waren erdfarben. Lirin. Zweitens: Sie trugen Fackeln.

Achmed stieß unwillkürlich einen Fluch aus und wandte sich Grunthor zu. »Lirin-Soldaten, mit Feuer bewaffnet. Sie reiten auf uns zu.«

Grunthor starrte ihn an und schien nicht glauben zu wollen, was er da zu hören bekam. »Lirin? Bewaffnet mit Feuer? Bist du dir sicher?«

Achmed nickte. Er war nicht weniger verblüfft als der Freund. Den Lirin, insbesondere den Liringlas, war bekanntermaßen eine angeborene Aversion gegen Feuer eigen. Abgesehen von den Lirinpan, die in Städten lebten, waren die Stämme der Lirin im Wald und auf offenen Feldern zu Hause, an Orten also, die ständig in Gefahr standen, von wild um sich greifenden Lauffeuern überrollt zu werden. Umso verwunderlicher war es, lirinsche Reiter zu sehen, die brennende Fackeln wie Waffen vor sich her trugen. Doch es fehlte die Zeit, um lange darüber zu rätseln.

»Komm«, flüsterte er.

Vorsichtig darauf bedacht, unentdeckt zu bleiben, hasteten sie durch dichtes Gestrüpp und schlugen einen weiten Bogen ein, der schließlich in südwestliche Richtung zielte. In den tiefen Wald mit seinen immergrünen Bäumen zurückgekehrt, kletterte Achmed ein bis zwei Klafter hoch auf eine schlanke Fichte. Grunthor versteckte sich im niederen Gebüsch, wo er spurlos verschwand und für Achmed nicht mehr zu sehen war.

Es dauerte nicht lange, und die Reiterschar rückte näher. Gellende Rufe wurden laut, ausgestoßen von Bauern und Dörflern, die mit ihren Kindern in panischer Angst Reißaus nahmen und wie aufgescheuchte Hühner auseinander stieben.

Achmed musste tatenlos mit ansehen, wie ein Teil der Truppe alle, die nicht schnell genug fliehen konnten, brutal niederknüppelte. Ein anderer Teil machte sich daran, die Häuser in Brand zu stecken, bis schließlich das ganze Dorf in Flammen aufging-

Einige wenige Bauern versuchten mit dem, was sie gerade zur Hand hatten, Widerstand zu leisten, doch gegen die bewaffneten Angreifer hatten sie keine Chance. Einer ritt kaltblütig eine Frau nieder, die ein Kind auf den Armen trug, das im hohen Bogen durch die Luft flog und reglos auf dem harten Boden liegen blieb.

Achmed sah, wie der Reiter kehrtmachte und auf das Kind zuhielt, als ein Pfeil durch die Luft surrte und sich in den Nacken des Lirin bohrte. Leblos kippte der Soldat aus dem Sattel und fiel in den Staub. Mit Blick auf Grunthor sah er, dass der Riese mit selten grimmiger und entschlossener Miene einen zweiten Pfeil auf die Bogensehne legte und fliegen ließ. Und wieder traf es einen Reiter, den es vom Pferd in ein Strohfeuer warf, das er selbst gelegt hatte.

Einer der anderen Männer ließ einen Vogelruf erschallen, worauf der ganze Trupp auf der Straße anhielt. Einem ruhig erteilten Kommando folgend, machten die Männer kehrt und ritten über die gefallenen Kameraden hinweg zum Dorf hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In der kleinen Ortschaft wurde es ganz still. Dann erhob sich ein Geschrei, so plötzlich, als wäre etwas zu Bruch gegangen. Eine schluchzende Frau rannte auf das Kind zu, hob es vom Boden auf und lachte und weinte erleichtert, als das kleine Mädchen die Augen öffnete. Dabei sah sie weder nach rechts noch links und nahm auch keine Notiz von dem Firbolg-Riesen, der nur wenige Schritt von ihr entfernt war.

Als die Mutter mit dem Kind sich zu den anderen gesellt hatte, legte Grunthor den Bogen aus der Hand und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Was um alles in der Welt hat das nur zu bedeuten?«, fragte er und schüttelte den Kopf.

Achmed zuckte mit den Achseln. »Darauf fällt mir auch keine Antwort ein. Vielleicht sind die Geschichten, die man uns Kindern von den Leuten auf der anderen Erdseite erzählt hat, am Ende wahr, und sie laufen tatsächlich mit dem Kopf nach unten durch die Welt. Hättest du mir heute Morgen gesagt, dass uns eine mit Feuer bewaffnete Mörderbande über den Weg läuft, ausgerechnet Lirindarc, die ein Dorf in Brand stecken, sich dann aus dem Staub machen und ihre gefallenen Kameraden achtlos zurücklassen – ich hätte an deinem Verstand gezweifelt und dir einen Vogel gezeigt.« Grunthor nickte zustimmend.

Achmed kletterte vom Baum, ehe der ätzende Rauch Überhand nahm, und gemeinsam eilten sie durchs Unterholz davon, weg von den Klagerufen der Dörfler im Hintergrund.

Als der achte Tag ihrer Streifzüge zu Ende ging, zweifelten beide am eigenen Verstand. Auf Schritt und Tritt waren sie Zeugen unerwarteter und gefährlich sinnloser Gewalt geworden.

Manchmal hatten Lirin ihren Anteil daran, aber meistens waren es Menschen, die gegen ihresgleichen wüteten. Die Firbolg fragten sich, ob sie hierzulande ihrem Ruf als Ungeheuer überhaupt noch gerecht wurden, denn was ihnen rundum vor Augen geführt wurde, war weit monströser als sie.

Ebenso unerklärlich war, was auf die Gräueltaten folgte. Nach dem Überfall auf eine Stadt im Grenzgebiet zwischen Wald und offenem Weideland konnten sie beobachten, wie die Plünderer, die soeben noch raubend von Haus zu Haus gezogen waren, mit ihrer Beute in ihre Kasernen zurückkehrten, die, gewissermaßen gleich um die Ecke, nur eine halbe Wegstunde weit entfernt lag. Und was noch verrückter war: Einige Soldaten derselben Einheit rückten in die Stadt aus, um die Verwundeten zu versorgen.

»Was geht hier vor?«, fragte Grunthor, als sie von ihrem sicheren Versteck der anschließenden Aufräumaktion zusahen. »Das ergibt doch alles keinen Sinn.«

Achmed schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Ein Krieg war für ihn nur dann ein Krieg, wenn er klare Fronten hatte, Beweggründe und unterscheidbare Gegner. Hier aber war nichts davon gegeben.

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