33

Tränen traten in Rhapsodys Augen beim Anblick der kleinen gefrorenen Gesichter, die zwischen Angst und Hoffnung schwebten. Wie Espenlaub hatten sie zu zittern angefangen, als die drei in ihr Gefängnis eingedrungen waren.

Von ihren Zitterbewegungen abgesehen, verharrten die Kinder reglos am Boden – mit einer Ausnahme, einem Mädchen, das etwas älter zu sein schien als die anderen und vielleicht um die sechzehn Jahre alt war. Sie hockte mitten in der Gruppe und zerrte an ihren Fesseln, sah sich Hilfe suchend um, schien dann aber wohl einzusehen, dass sie dem Geschehen wehrlos ausgeliefert war.

»Keine Angst, wir sind hier, um euch zu helfen«, sagte Rhapsody mit ihrem freundlichsten Lächeln, während Grunthor und Achmed durch den Raum bis zum Einstieg in den Turm eilten. »Wir holen euch hier heraus und bringen euch nach Hause.« Die Kinder starrten ihr entgegen.

Rhapsody wandte sich Achmed zu. »Hatten die Wachposten irgendwelche Schlüssel bei sich?«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir sollten schleunigst herausfinden, wer für all das hier verantwortlich ist.«

»Es sind mindestens neun.« Der Hinweis kam von einem der gefangenen Kinder in der Mitte des Raums, dem Mädchen. Seine Stimme bebte.

»Weißt du, wo sie jetzt sind?«, fragte Rhapsody.

»Nein«, antwortete das Mädchen. »Aber sie sind da durch gekommen.« Es zeigte mit den gefesselten Händen auf eine Tür, die die drei bislang außer Acht gelassen hatten. Grunthor packte den schweren Langdolch. Die beiden Bolg näherten sich der Tür.

»Vielen Dank und keine Sorge«, sagte Rhapsody. »Gleich werdet ihr wieder frei sein.« Sie lächelte der ganzen Gruppe aufmunternd zu.

»Wenn man euch fängt, sagt nicht, wer euch den Hinweis gegeben hat«, flüsterte das Mädchen. Rhapsody nickte den beiden Gefährten zu. »Dazu wird es nicht kommen. Wie ist dein Name, Kleines?«

»Wir sind so weit«, rief Achmed von der Tür.

»Jedenfalls nicht Kleines«, antwortete das Mädchen trotzig.

»Sie heißt Jo!«, rief ein Mädchen, das nicht älter war als sechs. »Das hat sie denen verraten, als die damit angefangen haben, ihr die Zehen umzudrehen. Ich bin Lizette.«

Jo warf der Kleinen zornige Blicke zu, doch die nahm keine Notiz davon. Sie hatte nur noch Augen für Rhapsody und machte kein Hehl aus ihrer Bewunderung für die lirinsche Sängerin.

»Bist du endlich so weit?«, fragte Achmed.

»Wir kommen zurück«, versprach Rhapsody den Kindern mit all der Überzeugungskraft als einer zur Wahrheit verpflichteten Benennerin. Und tatsächlich schienen die Kinder Vertrauen zu fassen. Rhapsody lächelte ihnen noch einmal zu und eilte dann zur Tür. Das ältere Mädchen murmelte noch etwas, was Rhapsody aber schon nicht mehr hörte.

Ihre Aufmerksamkeit war auf den Nebenraum gerichtet, aus dem Rufe und lautes Gepolter nach draußen drangen. Schnell hatte sie ihre Position in der Tür eingenommen. Wenig später flog die Tür auf. Zwei mit Speeren bewaffnete Männer rannten in den Saal und sahen sich plötzlich von Achmed und seiner Cwellan gestellt.

Rhapsody hörte das ihr inzwischen schon vertraute Zischen der Scheibengeschosse und sah sie als silberne Blitze durch den Türausschnitt schnellen.

Er schießt auf Leute im Nebenraum, dachte sie und staunte wieder einmal über die Geschicklichkeit und Schnelligkeit, mit der er die Waffe nachlud. Inzwischen konnte sie sogar mit den Augen halbwegs nachvollziehen, was ihr früher nur wie ein flüchtiges Huschen von Schatten vorgekommen war. Als der Wachposten zu ihrer Linken Achmed anvisierte, wuchtete sie ihm die glühende Schneide der Tagessternfanfare in den Rücken. Der Mann stürzte zuckend zu Boden und löste sich dabei von der tief in den Brustkorb eingedrungenen Klinge. Grunthors mit beiden Händen geführter Hieb folgte unmittelbar darauf und trennte der anderen Wache den Kopf vom Rumpf. Rhapsody musste an sich halten; sie glaubte schlecht zu träumen und kam sich vor wie der Zuschauer eines schauerlichen Kampfes.

Achmed stieß die Tür auf. »Geht«, befahl er. Weil sie gemeinsam lospreschten, wären Rhapsody und Grunthor beinahe in der Tür zusammengeprallt, doch schaffte sie es im letzten Augenblick, dem Riesen auszuweichen.

Im Raum nebenan hatte es ebenfalls ein Gemetzel gegeben, doch das schien auf deren eigene Rechnung zu gehen. Auf dem Boden verstreut lagen sechs Tote. Dazwischen stand eine in Weiß gekleidete Frau. Sie rang die Hände und brüllte einer Hand voll Männern Befehle zu, die aus anderer Richtung über eine breite steinerne Treppe herbeigeeilt waren. Die Wände des Raums waren aus massivem Felsgestein gemauert. Davor standen hohe Regale voller Bücher und Schriftrollen. Mehrere Sessel und ein paar große Tische vervollständigten die Ausstattung dieses offenbar als Bibliothek genutzten Raumes.

Rhapsody und Grunthor stürmten durch die Tür und sahen zu, dass sie nicht in Achmeds Schussbahn gerieten. Mit nur fünf Schritten hatte Grunthor die Mitte des Raums erreicht. Sein Anblick und das Gebrüll, das er erhob, ließen die Soldaten vor Entsetzen erstarren.

Rhapsody eilte auf die Frau zu. Die löste ihren Blick von Grunthor und starrte ihr aus hasserfüllten Augen entgegen.

Anscheinend trug sie nur eine Waffe bei sich, einen langen Dolch mit einer Klinge aus Obsidian. Den hielt sie mit der Rechten gepackt und zeigte sich zum Kampf bereit. Rhapsody erkannte in dieser Waffe ein Opferwerkzeug, das gewöhnlich bei schwarzen Riten Anwendung fand. Sie blickte nicht weniger wütend und verächtlich drein, als ihr bewusst wurde, dass offenbar diese Frau es war, die die Kinder im Hof getötet hatte.

Rhapsody schwang ihr Schwert mit der ganzen Wucht ihrer und trug einen Angriff vor, auf den Grunthor durchaus stolz sein konnte. Die Frau sprang zur Seite und griff ihrerseits mit dem Dolch an.

Von dem eigenen Schwerthieb aus dem Gleichgewicht gebracht, konnte Rhapsody nicht mehr rechtzeitig ausweichen und spürte die Spitze des Dolches über die linke Schulter schrammen. So heiß war der Schmerz, dass sie unwillkürlich nach Luft schnappte. Doch umso kräftiger schlug sie nun ein zweites Mal zu. Ihre Gegnerin hatte nicht einmal mehr Zeit, einen Schrei auszustoßen. Die Schwertspitze drang ihr mitten ins Herz, und wieder verbreitete sich der scharfe Geruch brennenden Fleisches in der Luft. Blut floss jedoch keines. Noch ehe sie ihr Leben ausgehaucht hatte, war die Wunde auch schon vernarbt.

Rhapsody hielt sich dicht hinter Grunthor, der zur Seite auswich, als weitere Scheibengeschosse durch die Luft sirrten, so dicht, dass ihr bange wurde. Sie mied den Blick auf die Frau am Boden und sah sich stattdessen im Raum um. Von den Soldaten ging keine Gefahr mehr aus. Es war keiner mehr am Leben.

Zwei Tote, die auf dem Treppenabsatz lagen, waren allem Anschein nach von Grunthor niedergemacht worden. Die anderen zeigten bis auf die tödlichen Schusswunden keinerlei Verletzungen. Rhapsody zählte schnell nach und kam auf fünfzehn. Ob noch mit weiteren Wachen zu rechnen war, blieb offen. Grunthor stand am Fuß der Treppe und spähte nach oben in Erwartung Nachstoßender Wachposten. Er hatte inzwischen eine Axt zu Hand genommen, eine schwere Waffe, mit der er sich auch, wie sich Rhapsody erinnerte, dem Gewürm auf der Wurzel zur Wehr gesetzt hatte.

»Die können wir nicht mehr verhören«, sagte Achmed mit Blick auf die tote Frau in Weiß. Rhapsody lief rot an im Gesicht. »Tut mir Leid«, sagte sie.

»Was soll’s?«, entgegnete Achmed ärgerlich. »Dir blieb gar keine andere Wahl. Es wäre allerdings ganz gut gewesen, wenn wir ein paar Antworten aus ihr hätten herausprügeln können. Aber manchmal muss man sich eben den Umständen fügen. Ist es schlimm?«

»Was?«, fragte Rhapsody irritiert.

»Deine Schulter ... wie tief ist die Wunde?

»Hmmm? Ach, kaum der Rede wert.« Rhapsody warf einen Blick auf die Schulter. »Darum kümmere ich mich später.«

»Und wenn sie die Klinge vergiftet hat?« Achmed trat einen Schritt näher und schnupperte an der Wunde.

»Das glaube ich nicht.«

»Na schön, dann sollten wir jetzt mal nachsehen, ob’s noch mehr Gesellschaft gibt.« Achmed schob den Querbalken, der an der Wand lehnte, vor die Tür, ehe er sich der Treppe zuwandte. »Falls noch jemand kommen sollte, muss er erst mal anklopfen.«

Sie stiegen über die Treppe nach oben und suchten jeden Winkel des Turms ab. Doch da war niemand mehr. In den oberen Räumen hatten die erschlagenen Soldaten ihr Quartier gehabt; die Zimmerflucht ganz zuoberst war allem Anschein nach von der Frau in Weiß bewohnt gewesen, und es deutete so manches darauf hin, dass dort ein Mann mit ihr gelebt hatte.

Unter anderem fanden sie in dieser Wohnung eine kleine, fest verschlossene Truhe, die sie mit nach unten schleppten, um sie aufzubrechen, sobald sie den Rest des Hauses der Erinnerung durchsucht haben würden. Es zeigte sich, dass alle anderen Räume, die wie Zellen eines Klosters aussahen, leer standen. Außerdem gab es eine Küche, in der noch jüngst gekocht worden war.

Rhapsody machte sich auf die Suche nach einem Schlüssel, um den Kindern die Handschellen abnehmen zu können, und entdeckte schließlich einen solchen, der der toten Frau an einer Kette um den Hals hing. Damit eilte Rhapsody zu den gefangenen Kindern, befreite sie von den Fesseln und redete mit beruhigenden, tröstenden Worten auf sie ein.

In Abwesenheit der beiden Bolg fassten die Kinder schnell Zutrauen. Nur das Mädchen mit dem Namen Jo blieb noch eine Weile misstrauisch, ließ sich dann aber ebenfalls von Rhapsody beruhigen. Zwischenzeitlich hatte Achmed das Schloss der in der Turmwohnung gefundenen Truhe aufgebrochen. Darin fand sich allerhand Flitterkram – den Grunthor zur Aufbewahrung bekam, denn er verwaltete das Geld und alle Wertsachen – sowie ein kleines Notizbuch, eine versiegelte Schriftrolle und ein großer Messingschlüssel mit einem eigentümlichen, vierteiligen Bart.

Behutsam rollte er das Pergament auseinander und stellte fest, dass es mit alten Schriftzeichen beschrieben war, die ihm nichts sagten, obwohl sie ihm dem Bild nach irgendwie vertraut vorkamen. Offenbar handelte es sich bei diesem Schriftstück um einen Vertrag. Er rief Rhapsody zu sich. Sie hatte alle Kinder im Schlepp, als sie die Bibliothek betrat. Es waren insgesamt fünfzehn an der Zahl, und die meisten schienen jünger als zwölf Jahre zu sein. Das jüngste versteckte sich hinter Rhapsody aus Angst vor den beiden unheimlichen Männern, denen die Kinder ihre Rettung verdankten.

»Keine Angst, Feldin«, sagte Jo zu dem Lirin-Jungen, der um die sieben Jahre alt war. »Die sehen zwar schrecklich hässlich aus, haben uns aber gerettet und werden bestimmt nichts Schlimmeres mit uns anstellen als das, was uns bevorgestanden hat.«

Rhapsody sagte: »Wir werden euch nach Hause bringen, das ist alles.« Sie strahlte übers ganze Gesicht, und die Kinder glaubten ihr.

»Sieh dir das mal an«, sagte Achmed und kam auf Rhapsody zu. Hastig wichen die Kinder vor ihm zur Seite aus.

Rhapsody nahm die Schriftrolle zur Hand und studierte, was darauf zu lesen stand. Ein Schatten ging über ihr Gesicht, war aber bald wieder verschwunden. »Das ist Alt-Serennisch. Merkwürdig, nicht wahr? Die Sprache, die ich auf Llaurons Wunsch hin lernen soll. Ich hab darauf verzichtet, ihm zu sagen, dass ich schon ein bisschen davon verstehe. Es ist eine tote Sprache. Ich meine, sie war schon tot, als viele die Insel verlassen haben. Sie war die Sprache der Erstgeborenen, der alten Seren, also der Ureinwohner der Insel. Doch seht euch diese Rolle an. So alt ist dieses Pergament doch gar nicht.«

»Kannst du lesen, was darauf steht?«, fragte Achmed.

»Ich denke schon«, antwortete Rhapsody. »Mein Mentor hat mir die Grundzüge der Sprache beigebracht... Augenblick mal. Nein, der erste Eindruck war wohl doch nicht ganz richtig. Die Schriftzeichen sind in der Tat sehr alt, doch der Text scheint in der Alltagssprache der Bewohner dieser Region verfasst zu sein. Lass mir einen Augenblick Zeit. Ich will erst einmal alles lesen.«

Sie ging an einen der Schreibtische, setzte sich und legte zwei Bücher zur Beschwerung auf die Ränder des ausgerollten Pergaments. Dann nahm sie das Gepäck vom Rücken, holte daraus ein Stück grobes Papier hervor und fing an, sich Notizen zu machen.

Die Kinder hingen wie eine Traube an ihr. Nur Jo stand abseits und beobachtete Grunthor dabei, wie er die toten Wachen in eine Ecke bugsierte und dort zusammenlegte. Rhapsody dachte daran, mit den Kindern in ein anderes Zimmer zu gehen, doch dann fiel ihr ein, dass ihnen nur hier in der Bibliothek der Anblick der geschlachteten Kinder im Hof erspart bliebe.

Am Vortag erst hatte sie die Kinder des Herzogs über den Verlust ihrer Mutter hinwegtrösten müssen. Jetzt galt es, Kindern zu helfen, die ein unvorstellbares Trauma erlitten hatten, und sie fürchtete, dieser Aufgabe nicht gerecht werden zu können.

Achmed blätterte durch das kleine Notizbuch. Die darin enthaltenen Aufzeichnungen schienen in der landesüblichen Schrift verfasst zu sein. Die Briefe waren ganz ähnlich geschrieben, und so konnte er, wenn auch mit Mühe, einiges daraus in Erfahrung bringen.

Was er da in der Hand hielt, war allem Anschein nach ein Tagebuch, wie es von gebildeten Leuten geführt wurde. Es ging darin, wie er entziffern zu können glaubte, unter anderem um eine verlorene Stadt. Mehr als der Text interessierte ihn aber die in dem Buch skizzierte Landkarte und der Hinweis auf den Messingschlüssel.

Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht, als er den Namen Gwylliam erkannte und auf der Karte ein besonders markiertes Gebiet entdeckte, das als Firbolg-Länder ausgewiesen war. Canrif. Sie hatten jetzt tatsächlich eine Karte zur verlässlichen Orientierung!

»Achmed, Grunthor, ich bin so weit«, sagte Rhapsody und hielt ihre Übersetzung in die Höhe. »Es handelt sich um einen Vertrag. Er wurde in der ersten Stunde der Tagundnachtgleiche im Jahre 1396 nach Ankunft der Flotte unterzeichnet. Wahrscheinlich ist die Flotte der ersten Auswandererwelle gemeint. Die Vertragspartner sind Cifiona – ich schätze, das ist die Frau mit dem großen Dolch – und eine Person namens Rakshas, die aber nur als Mittelsmann für einen Herrn in Erscheinung tritt, dessen Name interessanterweise unerwähnt bleibt. Der Frau wird für gewisse Dienste, die sie zu leisten hat, ›ein Leben ohne Ende‹ zugesichert, was wohl Unsterblichkeit heißen soll.« Rhapsody warf einen Blick auf die Freunde und sah ihnen an, dass sie an das Gleiche dachten wie sie. Der Charakter des Vertrags und seiner Urheber wurde allmählich klar. »Sie verpflichtet sich, dem nicht genannten Meister treu ergeben zu sein. Vielleicht sind die beiden eine Art Heiratsvertrag eingegangen.«

»Das bezweifle ich«, sagte Achmed, der selbst einmal unfreiwillig an einen ähnlichen Vertrag gebunden gewesen war.

Grunthor wurde ungeduldig, als er die angewiderte Miene Rhapsodys zu deuten versuchte. »Na los, was steht denn sonst noch da?«

»›Zu diesen Pflichten gehört der Vollzug der Blutopferung von dreiunddreißig unschuldigen Herzen und unberührten Körpern menschlicher Abstammung sowie von Lirin oder Halb-Lirin in gleicher Zahl‹«, las Rhapsody vor. Sie blickte zu Achmed auf. »Ich habe drei im Hof gesehen. Glaubst du, es gab noch andere?«

»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete er. »Alle Spuren deuten daraufhin, dass die Einrichtung ziemlich neu ist. Wahrscheinlich war das der Anfang überhaupt.«

Rhapsody zeigte sich erleichtert und wandte sich wieder dem Vertragstext zu, ohne von Grunthors skeptischer Miene Notiz nehmen.

»Da ist noch von einem bestimmten Vorhaben die Rede, auf das aber nicht näher eingegangen wird. Es hat anscheinend mit der Frage zu tun, wie das geopferte Blut verwendet werden soll. Ich glaube, das Wort ›Nahrung‹ ist hier entscheidend. Darüber hinaus sind die verlangten Dienste befristet, und zwar auf den Zeitpunkt der Patriarchenfeier im Folgejahr. Als Erfüllungsort ist das Haus der Erinnerung eingetragen, das offenbar diesem Rakshas untersteht. Kaum zu fassen. Ich frage mich, was die erste Cymrer-Generation davon gehalten hätte.«

»Tja, als Cymrer, der ich selbst einer bin, kann ich nicht behaupten, besonders angetan davon zu sein.«

»Und hier ist unterschrieben, mit Cifiona Soundso – den Namen kann ich nicht entziffern. Und dann steht da noch schlicht und einfach ›Rakshas‹. Dazu gehören diese Symbole.«

Rhapsody machte auf zwei Zeichen aufmerksam; das eine sah aus wie ein Buchstabe aus einer anderen Sprache, die aber weder Achmed noch Grunthor kannten.

»Dieses meine ich schon einmal gesehen zu haben«, sagte Rhapsody und zeigte auf einen Kreis, der aus einer Spirallinie gezeichnet war.

»Wo?«, fragte Achmed in einem plötzlich so wütenden Tonfall, dass sie vor Schreck zusammenfuhr.

»Über der Eingangstür zu Llaurons Haus. Es ist dieses Hexenzeichen.«

Der Anblick des Symbols hatte Achmed merklich verstört. Er nahm das Pergament und legte es in die kleine Truhe zurück. Rhapsody warf ihre Übersetzung mit hinein.

»Gehen wir«, sagte Achmed.

»Wartet kurz, ich habe noch was zu erledigen«, sagte Rhapsody und holte ihre Higen und einen kleinen Beutel, den sie von Llauron hatte, aus ihrem Gepäck.

»Was? Willst du etwa ein Lied komponieren über die herrlichen Dinge, die wir heute gesehen haben?«

»Nein«, antwortete Rhapsody ungehalten. »Ich will versuchen, diesen Baum zu heilen.«

»Warum?«, wunderte sich Achmed.

»Weil er eine sagianische Eiche ist. Hast du das nicht gesehen? Für mich ist er heilig. Stephen sagte, dass er als Setzling von den Cymrern aus Serendair mitgebracht worden sei. Damit wäre er ein Ableger der Sagia. Obwohl es mir Leid tut, die Insel verlassen zu haben, bin ich dem Baum doch dankbar, dass er uns hat fliehen lassen, ehe sie untergegangen ist. Seinem Kind zu helfen ist das Wenigste, was ich tun kann.«

»Ich will nich despektierlich sein, Herzchen, aber das ist doch kein Kind, sondern nur ein Baum.«

»Nein«, sagte Achmed und schaute in den Garten hinaus. »Geh vor.«

»Danke«, antwortete Rhapsody, überrascht von seiner Zuvorkommenheit. »Ich bin gleich wieder zurück; kümmert euch inzwischen um die Kinder.«

»Wie bitte?«

»Nun, ich kann sie doch nicht mit in den Garten nehmen, oder?«, flüsterte Rhapsody. »Mir schaudert selbst davor, die toten Kinder...«

»Ist recht, Herzchen, wir werden uns um sie kümmern.«

Achmed warf Grunthor einen empörten Blick zu, sagte aber nichts. Als Rhapsody den Raum verließ, setzte er sich auf den Rand eines der Tische und blätterte wieder in dem kleinen schwarzen Notizbuch. Grunthor durchsuchte die Toten nach Wertgegenständen und legte sie in der Ecke zu einem Haufen aufeinander. Bis auf das älteste Mädchen standen die Kinder eng beieinander und starrten auf die Tür, durch die die Sängerin verschwunden war.

Rhapsody drohte sich der Magen umzustülpen, als sie durch den Garten auf den Baum zuging, der in der Mitte stand. Obwohl verwelkt und in einem erbärmlichen Zustand, war seine silbrig weiße Rinde unverkennbar. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie an das eine und einzige Mal zurückdachte, dass sie die Sagia, die Mutter dieses Baumes, gesehen hatte.

Vor der großen Eiche angelangt, untersuchte sie ihre Rinde und die Zweigspitzen. Schnell war ihr klar, dass in dem Baum noch Leben steckte. Summend stimmte sie ein Lied an, das mit den melodischen Klängen harmonierte, die – wenn auch ganz leise aus seinem kranken Herzen tönten. Es war die gleiche, vertraute Melodie, die ihr während der gesamten Reise über die Wurzel im Ohr geklungen hatte. Sie öffnete den Beutel, den man ihr in Gwynwald gegeben hatte, holte eine winzige Salbentube daraus hervor und machte sich ans Werk.

Sobald sie die drei Hauptwurzeln gefunden hatte, folgte sie einer durch den halben Garten bis hin zu ihrem fein verästelten Ausläufer. Dabei musste sie schwer an sich halten, um den schauderhaften Anblick der geopferten Kinder zu meiden. Als sie das Wurzelende erreichte, bestrich sie das haarfeine Geflecht sowie das Erdreich ringsum mit der Salbe aus der Tube. Während sie Gleiches auch an den anderen Wurzelrändern wiederholte, wurde ihr Lied immer rhythmischer und melodiöser. Schließlich sang sie mit kräftiger Stimme und in einer Sprache, die eine Mischung war zwischen dem Alt-Cymrischen, ihrer Muttersprache, und jenem Idiom, das hier und jetzt gesprochen wurde.

Devli protar hin elenin, Hoffnung ist ein sicherer Anker, Lang währte die Reise auf See Vidsuol hin yl gornit marbeth, Zeit heilt wie nichts anderes, Und auch du wirst wieder gesunden. Calenda o skidoaun, Calenda o verdig, Ein Jahr voll Schnee, ein Jahr der Fülle, Du littest Kälte und Düsternis Ovidae tullhin kaf san; ni wyn bael faerborn, Manchmal bleibt der Sommer aus, doch immer wird es Frühling werden, Und im Frühling wirst du wieder blühen. A fynno daelik, gernal federant, Wer gesund ist, der sei fröhlich, Drum bewahr dies Lied in deiner Seele Yl airen er iachäd daelikint, Dies Lied der frohgemuten Heilung, Sing es, bis du wieder ganz gesundest.

Es war das erste Mal, dass Rhapsody ein Heillied aus dem Stegreif sang, und sie wand sich innerlich, so ungehobelt kamen ihr die eigenen Verse vor. Sie waren im Wesentlichen aus Sprichwörtern zusammengesetzt, Sprichwörter, die noch aus der alten Welt stammten und zum Teil immer noch verwendet wurden und Gültigkeit hatten. Das Lied schien durch die Wurzeln zu fließen, im Stamm aufzusteigen und bis in die unbelaubten Zweige vorzudringen.

Rhapsody griff nun zur Higen und fuhr mit den Fingerkuppen über den geschwungenen Holzrahmen. Die Higen war ihr größter Schatz, das erste Instrument, das sie zu spielen gelernt hatte, und es hatte ihr beim Studium der Namensgebung geholfen. Sein Holz stammte noch, wie auch der Baum, aus der alten Welt.

Rhapsody begleitete ihr Lied nun auf der Higen. Die Melodie blieb einfach und klar und entsprang den zupfenden Fingern wie selbstverständlich. Und dann zeigte der Baum tatsächlich erste Reaktionen. Sie konnte buchstäblich spüren, wie die Säfte in Bewegung kamen und Leben in die Äste brachten, die abzusterben drohten. Auch die kleinsten Zweige resonierten mit dem Lied, das winzige grüne Knospen als Vorboten von Frühlingslaub entstehen ließ.

Rhapsody langte mit der Hand so hoch wie nur möglich und stellte ihre Higen in eine Astgabel. Das Instrument spielte von sich aus weiter, zum Schwingen gebracht vom Lied des Baumes, der wieder erweckt geworden war. Lächelnd kehrte Rhapsody zu den Freunden und Kindern zurück.

Auf halbem Weg kam sie an einem langen, flachen Tisch vorbei, der, von Schnee bedeckt, kaum auszumachen war. Als sie zum Baum hin geeilt war, hatte sie ihn für eine Art Gartenbank gehalten. Jetzt fühlte sie sich gedrängt, etwas genauer hinzusehen, und als sie davor stehen blieb, wurde ihr plötzlich angst und bange.

Sie zitterte am ganzen Körper, als in ihrer Vorstellung der Schnee schmolz und eine schwarze Tischplatte darunter zum Vorschein kam, die im Licht eines Vollmonds auf schaurige Weise glänzte. Auf dem Tisch lag ein Mann, so reglos, als wäre er tot; der Körper schien aus Eis geformt zu sein, das sich aus dem Schmelzwasser des Schnees gebildet hatte. Einzelheiten waren nicht zu erkennen. Rhapsody wusste nicht einmal mit Bestimmtheit zu sagen, ob es sich tatsächlich um einen menschlichen Leichnam handelte.

Im dunklen Luftraum über der starren Gestalt glaubte sie plötzlich eine Bewegung ausmachen zu können und versuchte sich mit aller Macht auf ihre traumähnliche Vision zu konzentrieren. Geisterhafte Hände, deren Besitzer nicht zu sehen waren, schwirrten in der Luft umeinander und schienen eine weihevolle Handlung auszuführen. Dann falteten sie sich wie zum Gebet, um schließlich wieder zu einer Gebärde des Segnens auseinander zu gehen. Blut tropfte von ihnen herab auf die leblose Gestalt, die sich rot verfärbte.

Und wie von fern drangen stimmlose Worte an ihr Ohr.

Kind aus meinem Blut.

In ihrer Trance völlig entrückt, sah Rhapsody zu, wie ein kleiner glühender Gegenstand in den Händen auftauchte und ein Stern zu blinken begann. Er leuchtete so hell, dass sie genötigt war, die geblendeten Augen abzuschirmen.

Vorsichtig legten die Hände den glänzenden Gegenstand in die blutige Form auf dem Tisch. Der Körper fing zu glühen an, leuchtete dann hell und immer heller, bis die Hände, die darüber schwebten, nicht mehr zusehen waren.

Jetzt wird sich die Prophezeiung erfüllen. Aus diesem Kind werden meine Kinder hervorgehen. Das Licht wurde weniger, und während es allmählich verlosch, nahm die Gestalt eine feste, eigene Form an.

Das Donnern von Pferdehufen zerschlug die Trance. Rhapsodys Beine gaben unter ihr nach; sie fiel auf die Knie, in den rosafarbenden Schnee, und schluchzte über den Verlust der Vision. Mit wild pochendem Herzen raffte sie sich auf, eilte zur Gartenmauer und blickte nach unten in den Hof. Achmed merkte kurz auf, als aus dem Garten Musik an sein Ohr drang. Doch dann widmete er sich wieder der Lektüre des Notizbuches, das sich als sehr aufschlussreich erwies.

Dem mit großer Sorgfalt geschriebenen Text zufolge, war Canrif, die von Gwylliam gegründete Hauptstadt der Dritten Cymrerflotte, nach dem Tod des cymrischen Herrschers verlassen worden, denn die Kriegsschäden und die ständige Bedrohung durch barbarische Firbolg hatten ein geordnetes Leben darin unmöglich gemacht.

Schweren Herzens hatte man die Stadt evakuieren lassen und alles, was zu sichern war, gesichert in der Hoffnung eines Tages zurückkehren zu können. Dazu war es aber anscheinend nie gekommen, und so lag nun diese Stadt mit all ihren verborgenen Schätzen und der großen Bibliothek irgendwo im Herzen der Bolgländer.

Interessant zu erfahren war auch, dass Anborn, der für die Evakuierung verantwortliche General, den Schüssel zu Gwylliams Grotte im Haus der Erinnerung zurückgelassen hatte. Aus einigen Bemerkungen schien hervorzugehen, dass die Regenten von Roland, also die Vorfahren von Herzog Stephen und seinen Amtskollegen, cymrische Generäle der Ersten und Dritten Auswandererwelle gewesen waren, doch war sich Achmed nicht sicher, ob er den Text an diesen Stellen auch richtig verstand. Das würde Rhapsody überprüfen müssen.

Plötzlich fiel ihm auf, wie sich das ältere Mädchen anschickte, einer toten Wache heimlich einen Dolch zu entwenden. Es stellte sich sehr geschickt dabei an und so unauffällig, dass Grun-thor, der über die Kinder Aufsicht führte, nichts davon bemerkte. Mit einem leisen Zungenschnalzen machte Achmed seinen Partner auf sich aufmerksam und nickte bedeutungsvoll in Richtung auf das Mädchen.

»Holla, was machst du denn da, kleines Fräulein?«, fragte der Riese.

»Nichts«, antwortete das Mädchen mit zu Boden gesenktem Blick und scharrte mit dem Fuß. Achmed schmunzelte. Jo gab sich den Anschein schüchterner Verlegenheit, was aber in Wirklichkeit nur eine List war, mit der sie hoffte, den Dolch besser unter ihrem Kleid verstecken zu können. Auch darin war sie so geschickt, dass sich Achmed fragte, ob Grunthor wohl auf sie hereingefallen sein mochte. Das aber war offenbar nicht der Fall.

»Na, was ham wir denn da?«, fragte der Sergeant.

Er langte mit der mächtigen Pranke zu und zog den kleinen Dolch hinter dem Rücken des Mädchens hervor. Jo war von der Schnelligkeit des Riesen sichtlich überrascht und zitterte vor Angst, da sie beim Stehlen und Lügen ertappt worden war. Ihr nervöser Blick huschte zur Tür, wohl, wie Achmed vermutete, in der Hoffnung auf Hilfe in Gestalt von Rhapsody.

»Sieht ganz nach einem Messer aus«, antwortete sie.

»Und was hat ein Mädchen wie du damit vor?«, fragte Grunthor mit gespielt grimmiger Miene und zog aus seinem Arsenal eine lange, gefährlich aussehende Klinge. »Wenn du eine Waffe zur Hand nimmst, sieh zu, dass sie was taugt. Das hier ist ein Dolch, der sich zu tragen lohnt.« Er reichte ihr den Dolch, den sie zögernd und sichtlich überrascht entgegennahm.

»Der hat ’ne wirklich gute Schneide. Und siehst du den bronzenen Grat? Damit lassen sich die Attacken des Gegners besonders gut parieren. Und wenn dir so eine Parade gelingt, kannst du im Handumdrehn zum Gegenangriff ansetzen. Siehst du?«

»Ja«, sagte das Mädchen und lächelte zaghaft.

»Dann üben wir das jetzt mal. Abwehr und Gegenstoß, verstanden?« Grunthor machte ihr die Aktion mit dem kleinen Dolch vor und sah sich plötzlich von Achmed mit missbilligenden Blicken bedacht.

»Was hast du?«, fragte Grunthor irritiert. Der Dhrakier nickte auf das Mädchen, worauf Grunthor mit den Achseln zuckte. »Na und? Schadet doch nichts.«

Kopfschüttelnd setzte Achmed seine Lektüre fort. In diesem Augenblick kam Rhapsody ins Zimmer zurückgeeilt. Sie war außer Atem und sichtlich alarmiert.

»Da nähert sich ein Trupp Reiter«, sagte sie.

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