38

Gerald Owen kam zur Tür der Bibliothek von Haguefort hereingepoltert.

»Eure Hoheit...«

»Ich seh’s, Owen.« Stephen Navarne stand vor dem Ostfenster und schaute auf das im ersten Morgenlicht erwachende Panorama.

An der neu errichteten Befestigungsanlage wimmelte es von bewaffneten Kämpfern, die in mörderischem Gefecht miteinander lagen. Schwarzer Rauch stieg wie eine gespenstische Fahne hinter der hohen Mauer auf.

Von den Baugerüsten vor den Wachtürmen hingen aufgeknüpfte Leichen, die in dem vom Kampf aufgerührten Wind hin und her baumelten. Der Herzog sah mit versteinerter Miene zu, wie ein Soldat von den Zinnen stürzte, im Fallen mit einem der Erhängten zusammenprallte und diesen gegen die Ziegelwand schleuderte.

»Was, im Namen des Schöpfers, geht da nur vor sich?«

Owen knickte in der Hüfte ein und verbeugte sich tief. Vor lauter Angst und Hektik war sein Kopf rot angelaufen.

»Wir werden angegriffen«, keuchte er. »Noch vor dem Morgengrauen sind sie über drei benachbarte Dörfer und den Vorposten im Osten hergefallen. Auch über die Ställe.«

»Und die Soldaten? Die Kasernen im Osten?«

Das gerötete Gesicht des Dieners wurde bleich. »In Flammen, Eure Hoheit. Soweit wir wissen, hat keiner überlebt.«

»Gütiger Allgott!« Stephen Navarne wechselte von der Bibliothek ins Speisezimmer und trat ans Fenster, das nach Süden wies, wo sich ihm ein ähnliches Bild bot. Allerdings schien es hier um die Verteidigung ein wenig besser bestellt zu sein. Er warf einen Blick über die Schulter zurück auf das an der Wand hängende Gemälde der Familie und wandte sich dann wieder Gerald Owen zu.

»Hör mir genau zu. Ich will, dass du meine ganze Leibgarde zum Schutz von Melisande und Gwydion abstellst und die beiden an einen sicheren Ort bringst. Flieht durch den Tunnel, der durch den Weinkeller zu den Ställen im Westen hinführt. Nimm auch Rosella mit und sorg dafür, dass sich die Kinder nicht allzu sehr ängstigen. Wende dich an Llauron und gib Anborn Bescheid.« Owen nickte kurz und setzte sich in Bewegung.

Der Herzog lehnte die Stirn an den Unterarm. Er konnte den Anblick des Gemetzels nicht länger ertragen.

»Owen?«

»Ja, Eure Hoheit?«

»Ein Letztes noch. Ruf den Quartiermeister und sag ihm, dass er mein Pferd satteln und zu mir bringen soll. Da uns unsere Soldaten aus den Kasernen im Osten nicht mehr helfen können, muss ich versuchen, die Dörfler für unsere Verteidigung zu mobilisieren.«

Owen war sichtlich um Fassung bemüht. »Eure Hoheit, es sind ja doch die Dörfler, die uns da angreifen.«

»Aha, hältst du es endlich für angebracht, mir Bericht zu erstatten?«

Gittelson lehnte sich zurück. Er war gespannt auf das bevorstehende Gespräch, musste sich aber in Acht nehmen, um keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Es war gefährlich genug, alleiniger Zeuge zu sein.

Der Mann im grauen Mantel verbeugte sich steif und nahm dann die Kapuze vom Kopf. Ein keckes Grinsen verzog das Gesicht; die blauen Augen strahlten heiter.

»Wir haben das Haus verloren«, sagte er in munterem Tonfall.

Die Luft in dem kleinen Raum wurde plötzlich wärmer. Gittelson atmete möglichst flach, um nur ja nicht entdeckt zu werden.

Die rot geränderten Augen seines Herrn blieben unverwandt auf den Rakshas gerichtet. Die Stimme, mit der er nun zu sprechen anhob, klang ruhig und gefasst; doch es schwang unverkennbar ein drohender Unterton mit.

»Dir dürfte doch wohl trotz deiner beschränkten Auffassungsgabe klar sein, dass uns das leider weit zurückwirft, oder?«, fragte er trocken. Der Rakshas nickte, und seine rötlich goldenen Locken glänzten im Licht. »Und warum grinst du dann so idiotisch?«

Der Rakshas ließ sich in einen Sessel fallen und warf beide Beine über die Armlehne. »Ich lache über die, an die wir es verloren haben.«

»Mach keine Spielchen mit mir. Von wem sprichst du?«

»Keine Ahnung.« Der Rakshas beugte sich plötzlich vor; seine kristallblauen Augen blitzten tückisch auf. »Jedenfalls waren sie zu dritt.«

Gittelson fuhr unwillkürlich zusammen, als sein Meister aufsprang.

»Was redest du da?« Die eben noch so kultivierte Stimme war jetzt nicht mehr als ein drohendes Zischen.

Der Rakshas blieb anscheinend unbeeindruckt. »Vielleicht bin ich ja wirklich nicht der Gescheiteste, aber selbst ich kann zählen. Sie waren zu dritt, eine Frau und zwei Männer, glaube ich. Ich habe nur einen der beiden aus der Nähe gesehen. Hässlich wie sonst nichts. Sie haben uns aus dem Haus vertrieben und alle meine Männer niedergemacht. Und es sieht ganz danach aus, dass wenigstens einer von ihnen so wie ich Macht über das Feuer hat.«

»Unmöglich.«

Der Rakshas zuckte mit den Achseln. »Wie Ihr meint.«

»Wo sind die drei jetzt?«

»Weiß ich nicht.« Der Rakshas faltete die Hände hinterm Kopf und reckte sich. »Sie sind in östliche Richtung abgezogen, auf die Krevensfelder zu.«

»Canrif,« hauchte der andere in einer Tonlage, die Gittelson, versteckt in seiner Ecke, erschaudern ließ. »Sie wollen nach Canrif.«

»Vielleicht.«

Urplötzlich richteten sich die rot geränderten Augen auf Gittelson, der ganz deutlich spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf sackte.

»Gittelson, es kann sein, dass ich deine Dienste bald in Anspruch nehmen werde.«

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