14

»Ich geh da einfach durch«, sagte sie. Grunthor lachte laut auf.

»Ja, wenn du dir unbedingt das Leben nehmen willst?! Ich könnte dir zur Hand gehn und dafür sorgen, dass von deinem leckren Fleisch nichts vergeudet wird«, spottete er. »Im Ernst, komm zu dir.«

»Hört zu«, entgegnete Rhapsody ein wenig gereizt. »Ich werde auf keinen Fall umkehren. Das wäre auch gar nicht möglich. Ihr erinnert euch wohl, dass einige Stollen hinter uns verschüttet sind. Der Rückweg ist uns versperrt. Es bleibt uns nur der Weg nach vorn.«

»Und wie sollen wir das schaffen? Was schlägst du vor?«, fragte Achmed mit ernster Miene. Zumindest gab er sich ernst.

Rhapsody holte tief Luft. Ihr war klar, dass das, was sie sich zu sagen anschickte, verrückt klingen musste. »Wisst ihr noch, was ich über das Geheimnis der Namen verraten habe, wie sie uns zu dem machen können, was wir einmal gewesen sind?«

»Vage.«

»Nun, ich habe eine Weile darüber nachgedacht und bin mittlerweile überzeugt davon, dass wir nur eine einzige Chance haben: Wir müssen uns umhüllen mit dem Lied unserer Namen und können dann nur noch darauf hoffen, auf der anderen Seite in unseren alten Zustand zurückverwandelt zu werden.«

»Bitte nach Euch, Gnädigste«, gluckste Grunthor.

»Selbstverständlich«, beeilte sie sich zu antworten. »Darauf bestehe ich sogar.«

»Du willst wirklich raus aus diesem Tunnel«, sagte Achmed in einem Tonfall, der eine Mischung war aus Sympathie und Sarkasmus. Rhapsody nannte sie Symparkasmus.

»Hast du eine bessere Idee?«

Sie nahm auf der Wurzel Platz, schnallte den Tornister ab und holte ihre Higen daraus hervor, ein handtellergroßes Saiteninstrument in der Form einer winzigen Harfe. »Wenn ich es schaffe, mich durchzuschlagen, werde ich zurückkommen, um euch zu holen.« Sie klopfte den Schmutz von dem zerfetzten Umhang und stand auf. »Falls ich es nicht schaffen sollte, wird euch immerhin klar sein, dass ihr etwas anderes versuchen müsst.«

Grunthor schüttelte den Kopf und starrte auf das Inferno. »Das ist mir sowieso klar, dafür musst du nich dein Leben wegwerfen.«

»Lass sie doch gehen«, sagte Achmed leise.

Rhapsody lächelte. »Danke. Falls ich es nicht schaffe, seid ihr mich endlich los.«

Grunthor war merklich verärgert. »Wenn ich dich je hätte los sein wolln, wärst du schon lange nich mehr da. Ich hätte dir mit einer Hand den Hals umdrehn können, und es war um dich geschehn.«

Sie schlang ihre Arme um den Riesen und spürte, dass er zitterte. »Das dürfte dir inzwischen nicht mehr ganz so leicht sein. Immerhin habe ich zwischenzeitlich ein ziemlich gutes Schwertkampftraining absolviert.« Sie schmiegte sich enger an ihn, worauf er sie in die Arme schloss.

»Auf Wiedersehen, Grunthor. Und mach dir keine Sorgen. Ich werde zurückkommen.«

Er trat einen Schritt zurück, blickte auf sie herab und rang sich ein Lächeln ab. »Ich dachte, du dürftest immer nur die Wahrheit sagen.«

»So ist es«, sagte sie leise und tätschelte seine Wange. Dann wandte sie sich dem verhüllten Mann zu, der sie nach wie vor irritierte und gewissermaßen Schuld daran war, dass sie hier, tief in der Erde, eingeschlossen war.

»Auf Wiedersehen, Achmed.«

»Beeil dich«, antwortete er. »Allzu lange werden wir nicht auf dich warten.«

Rhapsody lachte laut auf. »Das nenne ich einen charmanten Anreiz.« Sie schulterte ihr Gepäck und marschierte geradewegs auf das Inferno zu. Die beiden Bolg schauten ihr nach und sahen ihren kleinen Schatten vor den fauchenden Flammen größer werden, bis sie schließlich in der Wand aus flirrender Hitze und licht verschwand.

Als sie die Hitze nicht mehr ertragen konnte, schloss sie die Augen und hob die Higen an ihre Brust. Die winzigen Saiten glühten und versengten ihr die Fingerkuppen, als sie an ihnen zupfte und das richtige Lied, eines, das ihr Wesen ausmachte, anzustimmen versuchte.

Sie kannte die eine Note, die in ihrer Seele widerhallte, ela, den sechsten und letzten Ton der Tonleiter. Jede Person ist auf einen bestimmten Ton eingestimmt, hatte ihr Lehrer doziert. Zu erfahren, welcher ihr Ton war, hatte Rhapsody als das sechste und letzte Kind in ihrer Familie sehr amüsiert. Im Übrigen traf die Note wirklich auf sie zu; sie erschien ihr durchaus sinnvoll. Sie stimmte diesen Ton nun an, spürte die vertrauten Schwingungen. Die Melodie wiederzugeben, die ihr Wesen beschrieb, war weniger einfach, weshalb sie mit ihrem wahren, in Musik gesetzten Namen anfing.

Aus der schlichten Phrase komponierte sie einen weiteren Refrain, eine Melodie, die in ihrem Inneren widerhallte und die Haut zum Prickeln brachte. Note für Note, Takt für Takt setzte sie das Lied zusammen, ließ ihre Stimme dazu erklingen und spielte die Higen. Dann fasste sie all ihren Mut zusammen und ging ins Feuer.

Als sie den Rand des gleißenden Infernos erreichte, kniff sie die schmerzenden Augen zusammen, ging singend weiter und betete, dass ihr, wenn sie nun doch würde sterben müssen, wenigstens erspart bliebe, lange zu leiden.

Durch das Feuer ging ein natürlicher Wind, der ihre blonden Haare aufwirbelte und wie eine Fackel zum Leuchten brachte. Zu atmen fiel ihr immer schwerer. Als sie einen ersten Blick riskierte, fand sie sich innerhalb der Flammen wieder.

Der Gesang des Feuers wurde lauter. In Harmonie dazu sang sie ihr Namenslied. Sofort ließ der Schmerz in den Augen nach, und sie sah sich umgeben von prächtig leuchtenden Farben, die in wogender Bewegung waren wie ein Getreidefeld im Wind. Ein Gefühl des Friedens und der Sicherheit überkam sie. Das Feuer hatte sie erkannt. Es würde ihr nichts zuleide tun.

Schillernde Farben – Saphirblau vor Flächen aus grellem Orange, von gelben Lanzetten durchstoßen – tanzten um sie herum. Rhapsody spürte die Schmerzen aus den Knochen und Gelenken verschwinden. Wie im Traum fragte sie sich, ob sie denn wohl vom Feuer verzehrt würde. Die Empfindung, die sie verspürte, war ähnlich der Freude – Freude darüber, mit sich und der Welt ganz und gar im Reinen zu sein. Sie sang aus voller Brust und verknüpfte die Weisen des Feuers und ihrer selbst zu einem Festgesang.

Nun konnte sie den Weg vor sich deutlicher sehen, erkannte dunklere Stellen, die für kurze Dauer in Erscheinung traten, um dann wieder spurlos zu verschwinden. Mit neuem Mut schritt sie zügig weiter. Es fiel ihr nicht leicht, den Kern hinter sich zu lassen, doch sie ahnte, dass sie sich dem hier erlebten Glücksgefühl nicht lange hingeben durfte, weil es sie sonst verschlingen würde.

Plötzlich wich die wohlige Hitze von ihrem Gesicht. Es war, als brandeten ihr kühle Meereswogen entgegen. Rhapsody öffnete die Augen und sah in ein schwarzes Loch. Die tanzenden Flammen waren an den Blickfeldrand zurückgetreten. Vor ihr öffnete sich ein Tunnel, ähnlich demjenigen, den sie mit Grunthor und Achmed hinter sich gelassen hatte. Doch war einiges an ihm anders. Obwohl noch von sengender Hitze umgeben, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hatte es bis auf die andere Seite des Kerns geschafft.

Spontan machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte singend zurück in die Flammen.

Auf der anderen Seite des Kerns starrte Grunthor ängstlich wartend in den grellen Feuerschein und schwitzte aus allen Poren seiner grau-grünen Haut. Endlich – er wähnte eine Ewigkeit vergangen – zeigte er auf die Flammen und sagte: »Da ist sie ja!«

Achmed nickte. Er hatte den Schatten schon längst gesehen, der schemenhaft zwischen den Feuerzungen auftauchte und bis unter das Gewölbe aufzuragen schien.

Die Frau, die da aus dem Inferno stieg, hatte mit Rhapsody, so wie die beiden sie kannten, nur noch wenig Ähnlichkeit. Ihre Haare waren nicht mehr blond, sondern vom Feuer honigfarben getönt worden. Sie winkte ihnen aus den Flammen zu.

»Kommt«, rief sie drängend über das Fauchen der Feuersbrunst hinweg. »Ich weiß nicht, wie lange der Weg noch offen sein wird.«

Die beiden Firbolg eilten herbei und schirmten die Augen vor der Hitze ab. Rhapsody hob die Hand, um sie aufzuhalten. Doch das war schon zu spät. Die Kapuze von Achmeds Umhang hatte Feuer gefangen, und zu ihrem Schrecken musste sie mit ansehen, wie sich Grunthor auf den Gefährten warf und die Flammen zu ersticken versuchte, indem er sich mit ihm über den weiß glühenden Boden wälzte.

Rhapsody kannte Achmeds Namen, der ja von ihr gewählt war. Sie stimmte ihn nun an und sang ihn unablässig. Grunthor half dem benommenen Partner aufzustehen und führte ihn an den Rand des Feuerwalls. Mit erhobener Hand hieß Rhapsody den Sergeanten stehen zu bleiben. Dann nahm sie den Dhrakier bei der Hand und sah, dass sich sein Blick aufgeklart hatte. Anscheinend löste sein Namenslied ein ebenso starkes Wohlempfinden aus, wie sie es selbst erlebt hatte.

Als sie sicher sein konnte, dass er aus eigener Kraft auf den Beinen stehen bleiben würde, ließ sie seine Hand los und griff zur Higen, der sie nun ein Lied entlockte, das um die Melodie seines Namens gesponnen war.

»Spürst du, wie das Lied unter der Haut prickelt?«

»Nein.« Seine Kapuze fiel in Fetzen von ihm ab und entblößte die schrecklichen Verbrennungen, die seine Stirn und die Augen verunstalteten. Mit Entsetzen erkannte Rhapsody, dass Achmed geblendet war.

Sie überlegte schnell. »Könntest du mir etwas von dir sagen, das ich deinem Lied hinzufügen könnte, sodass es dich besser beschreibt?«, bat sie, und er ließ von sich aus die Töne mit einfließen, die den Bezeichnungen Firbolg und Dhrakier entsprachen. »Soll ich dich wieder umbenennen auf deinen früheren Namen, Bruder?«

Achmed schüttelte so energisch den Kopf, dass ihm die Schweißtropfen von der Stirn flogen und in den Flammen verdampften. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das flackernde Licht des Feuers.

»Das wievielte Kind warst du in deiner Familie?«

Die Antwort machte ihm merklich Mühe. »Das erstgeborene.«

Rhapsody nickte und webte das Wort in die Melodie ein. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass dieser zusätzliche Ton sein Empfinden noch steigerte.

»Wäre da noch etwas, Achmed, etwas, das unverwechselbar zu dir gehört? Was bist du von Beruf?«

Wieder schüttelte Achmed den Kopf, als er sich seiner Verwundung bewusst wurde. Er beugte sich ihr ganz nahe ans Ohr und flüsterte: »Ein Meuchelmörder.«

Natürlich, dachte Rhapsody und sang das Lied aufs Neue, um diese Note ergänzt.

Achmeds verbrannte Augen gingen noch weiter auf. Er nickte stumm und fühlte sich offenbar – gerade so wie sie zuvor – von seinem Lied ganz und gar umhüllt. In ihrer Erinnerung sah Rhapsody plötzlich Achmed an jener Stelle stehen, von der eine Unzahl von Pfaden abzweigte, was ihn aber keinen Moment lang in seiner Orientierung verunsichert hatte. Ohne zu zögern und wie selbstverständlich hatte er den richtigen Weg eingeschlagen.

Grunthor hatte ihr einmal heimlich zugeflüstert, dass der Dhrakier dem Herzschlag der Erde folgte, ihren Puls fühlte und sich von ihren Adern und summenden Bahnen führen ließ, so wie früher von der Fährte des Wildes, auf das er Jagd gemacht hatte.

Unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder, sang sie. Achmeds Körper schien durchsichtig zu werden und reflektierte wie sein Gesicht das Licht des großen Feuers. Rhapsody streckte den Arm aus und zog ihn in die Flammen. Sie eilte mit ihm auf die andere Seite, sang und bot dabei all ihre Fähigkeiten als Benennerin auf. Kaum waren sie auf der anderen Seite angekommen, drehte sie sich wieder um und eilte zurück, um Grunthor zu holen.

Der Anblick des Riesen, wie er vor Angst zitternd und mit weit aufgerissenen Augen am Rand des brausenden Feuers dastand, rührte Rhapsody ans Herz. Er machte aus seiner Erleichterung kein Hehl, als er sie endlich kommen sah. Trotzdem blieb seine Miene voller Sorge.

»Wo ist er jetzt, Herzchen? Ist alles in Ordnung mit ihm?«, brüllte er gegen das infernalische Brausen an.

»Komm!«, rief sie ihm zu und winkte mit beiden Händen.

Grunthor rannte herbei, packte sie bei den Schultern und fragte noch einmal: »Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Mach dir keine Sorgen, wir schaffen es ...«

Ein wütendes Grollen wurde laut. Es drang durch die kolossalen Muskelpakete bis hin zu den Klauenhänden, mit denen er sie gepackt hielt und seiner Frage schmerzenden Nachdruck verlieh. »Wo ist er?«

Rhapsody riss sich von ihm los. »Auf der anderen Seite. Er ist blind, aber er lebt.« Sie sah, wie sich der wilde Ausdruck im Gesicht des Riesen entspannte, und war aufs Neue gerührt. Er hatte sich nicht um seinetwillen so sehr geängstigt. Sie langte aus und tätschelte mit bebender Hand seine Wange.

»Wie ist dein Firbolg-Name?«, fragte sie, worauf der Riese mit einer Folge von Knurr- und Zischlauten antwortete, die mit einem scharfen Konsonanten endeten. Rhapsody schloss die Augen.

»Wiederhol das bitte«, sagte sie und versuchte, die in ihr aufkommende Panik zu unterdrücken. Aufmerksam lauschte sie der Lautfolge, die nicht nur an sich schon schwer genug verständlich war, sondern zu allem Überfluss auch noch von dem Feuer übertönt zu werden drohte. Sie sprach den Namen nach, so gut sie nur konnte, und spürte nach mehreren Versuchen ein Summen von ihrem Gegenüber widerhallen. Ein Lichtkranz lag um den Sergeanten.

»Und du bist ebenfalls ein Bengard?« Grunthor nickte. Spross des Sandes unter freiem Himmel, Sohn der Höhlen und der finsteren Lande, fing sie zu singen an. Bengard, Firbolg. Sergeant Major. Mein Ausbilder und Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Oberste Autorität, der unbedingt Gehorsam zu leisten ist. Das Summen wurde lauter.

Grunthor fing an zu grinsen und zeigte seine Zähne. »Das ist es, Herzchen. Ja, jetzt prickelt’s. Jetzt könn’ wir wohl rüber zu ihm, oder?«

Rhapsody schmunzelte. »Grunthor, was bist du doch für ein treuer Freund, stark und zuverlässig wie die Erde selbst. Hier, nimm meine Hände.«

Sie führte den riesigen Bolg durch die Flammen und sang sein Lied, seinen Namen und die Eigenschaften, die ihn ausmachten, immer und immer wieder, bis sie die andere Seite erreicht hatten und wieder von Dunkelheit umgeben waren. Rhapsody presste ihr Gesicht an Grunthors Brust, um den Verlust der wonnevollen Wärme zu verschmerzen und nicht in Tränen auszubrechen.

Der Riese sah zu, als sich Rhapsody daran machte, die Augenbinde zu entfernen. Sie waren tief in den Tunnel vorgedrungen und schon weit entfernt vom flackernden Widerschein des Feuers. Ungeachtet seiner Proteste hatte sie Achmeds Augen mit Heilkräutern behandelt. Er lag mit seinem Kopf auf ihrem Schoß und murrte geduldig vor sich hin, während sie die Leinenstreifen abwickelte.

»Das war nicht nötig. Ich kann sehen.«

»Warum hast du das nicht schon gesagt, als ich dir die Binde angelegt habe?«

»Da war ich bewusstlos«, sagte er ungehalten.

Rhapsody kicherte. »Ach so. Und ich dachte schon: Seltsam, wie gefügig er auf einmal ist.« Sie wickelte die zweite Lage ab. »Wie auch immer, ich wollte dir mit der Behandlung nur die Schmerzen lindern.«

»Ich habe keine Schmerzen«, entgegnete er.

»Es wird dir aber trotzdem nicht erspart bleiben, dass wir, so bald wir in Sicherheit sind, die Wunde ordentlich verarzten ...« Sie hatte den Gedanken noch nicht ausgesprochen, als sie mit Blick auf das Gesicht des Dhrakiers feststellte, dass die Wunde verschwunden war.

»Gütiger Himmel«, flüsterte sie.

Achmed zerrte den Rest der Binde von Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich geheilt bin.«

Auch Grunthor starrte ihn entgeistert an. »0 Mann, du bist geheilter, als du glaubst.«

»Was soll das heißen?«

Grunthor zog sein Stangenbeil, eine Art Lanze mit beilförmiger spiegelblanker Schneide, eine Waffe, die er Salut oder kurz Sal nannte. »Hier, sieh selbst. Die Wunde, die du dir damals bei der Messerstecherei in Kingsten eingehandelt hast, erinnerst du dich?«

»Ja natürlich, und?«

»Die ist weg, spurlos verschwunden. Überzeug dich selbst.«

Achmed nahm die breite Klinge in beide Hände und starrte auf sein Spiegelbild. Eine Weile später hob er das Hemd und musterte seinen Bauch.

»Tatsächlich, meine Narben sind weg.«

»Meine auch«, sagte Grunthor und blickte staunend auf Rhapsody, die ihrerseits ihr Handgelenk untersuchte. Dann sah sie zu ihm auf und nickte.

»All unsere Wunden sind geheilt, die Narben verschwunden. Wie ist das möglich?«, fragte Achmed. Rhapsody lächelte. »Weißt du denn nicht mehr, was ich dir gesagt habe?«

Achmed richtete sich auf und dachte zurück an den ersten Kampf gegen das Gewürm und daran, wie sie anschließend die Wunde auf seinem Unterarm singend geheilt hatte.

Macht euch ruhig lustig. Aber es wird wahrscheinlich die Musik sein, die uns hier herausholt, Musik in der einen oder anderen Form.

Nur, wenn du uns mit deinem Geträllere so sehr auf den Geist gehst, dass ich dir ein zweites Paar Beine mache.

...So etwas kann eine Benennerin gewissermaßen von Amts wegen. Nichts, kein Begriff, kein Gesetz ist so stark wie die Kraft, die im Namen eines Dinges steckt. Mit dem Namen steht und fällt unsere Identität. Er ist unsere Essenz, unsere persönliche Geschichte und manchmal kann er das, was wir sind, noch einmal machen, egal, wie sehr wir uns auch verändert haben mögen.

»Soll das heißen, dass wir neu entstanden sind?«

Rhapsody zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, doch es könnte sein. Als ich das erste Mal durchs Feuer ging, konnte ich spüren, wie es meinen Körper verzehrte. Mir war fast so, als würde ich einen Opfertod sterben. Aber weil ich die ganze Zeit über unsere wahren Namen gesungen habe, hat sich all das, was uns in unserem früheren Leben zugestoßen ist, nicht auf unsere neuen Körper übertragen können. Das vermute ich jedenfalls. Gibt’s darauf vielleicht sonst noch irgendwelche Hinweise?«

Achmed tastete mit der Hand an der Halswurzel entlang. Die unsichtbare Kette, an die ihn der Dämon einst gelegt hatte, war gerissen, als Rhapsody ihn in den Gassen von Ostend umbenannt hatte, und längst verschwunden. Knochen, die einmal gebrochen gewesen waren, fühlten sich so kräftig und gesund an, als wären sie nie verletzt worden, doch glaubte er diesen Eindruck auch schon vor dem Gang durchs Feuer gehabt zu haben.

»Ich weiß nicht. Aber wie steht’s um deine Jungfräulichkeit? Ist die auch wieder hergestellt?«

Rhapsody wandte sich spontan ab. Gewöhnlich ignorierte sie Scherze dieser Art, aber die ganz und gar außergewöhnliche, erschreckende und zugleich ekstatische Erfahrung der Passage durch den Feuerkern der Erde hatte sie so erschöpft, dass es mit ihrer Selbstbeherrschung nicht mehr weit her war. Grunthor hatte Mitgefühl mit ihr und warf Achmed einen strafenden Blick zu. Als sich der Riese ihr wieder zuwandte, klappte ihm vor Verwunderung die Kinnlade herunter.

»Herzchen, dreh dich mal kurz zu mir um.«

»Lass mich in Ruhe«, antwortete Rhapsody. »Ich bin nicht in Stimmung für eure Witzeleien.«

»Nein, bitte«, drängte Grunthor. »Ich will nur dein Gesicht sehn.«

Zögernd drehte sie sich um, ließ aber die Augen auf den Boden gerichtet.

»Criton«, murmelte Grunthor. Achmed blickte auf, und auch ihm stand der Mund vor Staunen offen. Vor ihrem Gang durchs Feuer war Rhapsody eine wunderschöne junge Frau gewesen, woran auch die Strapazen und all der Dreck auf ihrem endlos langen Treck über die Wurzel nichts hatte ändern können. Die Wandlung aber, die sich jetzt vollzogen hatte, war nichtsdestotrotz beträchtlich. Das Feuer hatte auch den letzten Makel weggebrannt, und nun stand ein Wesen vor ihnen, das sie kaum mehr wiedererkannten. Die langen Haare leuchteten im Licht der fernen Flammen wie flüssiges Gold. Ihre Haut hatte keinen einzigen Schönheitsfehler und war so zart wie die Blütenblätter einer Rose. Selbst im Dunkeln ging ein Schimmern von ihr aus. Als sie sich wenig später in ihrer Verärgerung den beiden Gefährten zuwandte, blitzten ihre smaragdgrünen Augen auf, als sammelte sich in ihnen alles verbliebene Licht. War sie früher überaus hübsch gewesen, so war sie jetzt von außergewöhnlicher Schönheit, und das nicht zuletzt auch in den Augen der Firbolg.

»Was?«, fragte sie irritiert.

Es dauerte eine Weile, ehe Grunthor wieder zur Sprache zurückgefunden hatte. »Himmel, Gnädigste, du bist umwerfend schön.«

Rhapsodys Miene entspannte sich, und es legte sich ein Ausdruck auf ihr Gesicht, der das Blut der beiden Männer in Wallung brachte. »Schon gut, Grunthor. Ich hab dir gern geholfen«, sagte sie.

»Zumal einiges an Hilfe gutzumachen war, die du mir hast zukommen lassen.«

»Ich mein es ernst«, entgegnete Grunthor. »Du hast dich verändert.«

Rhapsody zog die Brauen zusammen. »Wie soll ich das verstehen?«

Die Antwort kam von Achmed: »Er will sagen, dass du mit deinem jetzigen Aussehen in deinem alten Gewerbe jeden Preis verlangen könntest und auch erzielen würdest, und sei es bloß dafür, dass dich die Kerle anglotzen.«

Rhapsody schüttelte unwirsch Kopf. »Ich wünschte, ihr würdet nicht immer wieder auf meine Vergangenheit anspielen«, sagte sie. »Ich reib dir doch auch nicht ständig alte Verfehlungen unter die Nase. Aber glaub mir, niemand zahlt nur fürs Sehen.«

Und ob, dachte Achmed und seufzte. »Rhapsody, du siehst besser aus als je zuvor. Du bist bildschön.«

Rhapsody musterte ihn mit kritischem Blick. Achmed hatte immer geflissentlich sein Gesicht versteckt und damit erkennen lassen, dass er sich für unansehnlich, ja, für abstoßend hässlich hielt. Jetzt, da sie ihn ohne seine Kapuze sah, konnte sie diese Scheu nicht mehr verstehen. Er war, wie sie fand, ganz und gar nicht hässlich. Im Gegenteil, sein Gesicht war auf ungewöhnliche Weise attraktiv. Es kam ihr vor wie das unvollendete Werk eines zerstreuten Schöpfergottes.

Sie konnte sich regelrecht vorstellen, wie der Demiurg diesen Kopf aus überschüssigem Ton mit fahrig schneller Hand modelliert, ihm einen kleinen Klumpen als Nase aufgedrückt und mit zwei ungleichen Daumen die Augenhöhlen eingestanzt hatte. Und das halbe Lächeln, dieses Grimassieren des schmallippigen Mundes wirkte wie mit dem Daumennagel dahingewischt.

All das zusammen ergab ein Kunstwerk der eigenen Art, nicht im klassischen Sinne, aber gleichwohl beeindruckend und einzigartig. Vielleicht, so dachte sie, sah er sie ganz ähnlich.

»Du siehst auch nicht schlecht aus«, sagte sie schließlich und lächelte.

Achmed warf Grunthor einen flüchtigen Blick zu. Die beiden schüttelten den Kopf und sahen in eine andere Richtung. Ihnen war klar, dass Rhapsody nicht verstand, was sie meinten.

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