»Sie sind schnell, sie sind schon fast an der Pforte.« »Was?« Achmed stand die Überraschung ins frostige Gesicht geschrieben. Er eilte durch die Tür der Bibliothek in den Flur hinaus. Vom Fenster aus sah er zehn Männer in den Garten eindringen und vorsichtig durch den blutbefleckten Schnee stapfen.
An der Spitze ging ein Mann in schwerem grauem Kapuzenmantel, flankiert von weißen Wölfen. Als er den Baum in der Mitte des Gartens erreichte, blieb er stehen, schaute ins Geäst auf und ging dann interessiert um den Stamm herum.
Beim Anblick dieses Mannes drang ein schwaches Summen an Achmeds inneres Ohr, ein Summen, das er weniger zu hören als zu fühlen meinte. Er wich vom Fenster zurück, schwang mit einer einzigen Bewegung der Schulter die Cwellan vom Rücken und fing sie mit den Händen auf.
Selbst durch die dicken Mauern des Turms hindurch spürte er die Schwingungen, die von dem Mann in Grau ausgingen. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und das Summen wurde immer lauter. Achmed kehrte in die Bibliothek zurück und warf die Tür ins Schloss.
»Haben sie dich gesehen?«, fragte er Rhapsody.
»Nein«, sagte Rhapsody, »ich glaube nicht. Kaum dass ich einen Blick von ihnen erhascht habe, bin ich hier herauf gerannt, um euch zu warnen. Hast du eine Ahnung, was sie wollen? Ob sie mit Cifiona im Bunde sind? Oder sind sie der Kinder wegen gekommen?«
»Jedenfalls nicht, um ihnen zu helfen«, sagte Achmed. »Ihr Anführer löst das gleiche Ekelgefühl in mir aus wie der Anblick des Hauses.«
»Prächtig«, sagte Grunthor und zückte seinen Langdolch. »Zu dumm, dass ich mein Stangenbeil draußen zurückgelassen habe.«
»In den engen Räumen hier kannst du sowieso nichts damit anfangen«, entgegnete Rhapsody.
»Darum geht’s mir nich, Herzchen. Aber wenn es den Mistkerlen ins Auge fällt, wissen sie, dass wir hier sind.«
»Na prima«, stöhnte Achmed. »Rhapsody, bring die Kinder nach oben. Grunthor, verbarrikadiere die Tür hier, sobald ich draußen bin.«
»Du wirst doch wohl nicht allein nach draußen gehen?«, sagte Rhapsody, die einem Jungen, der zu schluchzen angefangen hatte, einen Arm um die Schultern legte.
»Doch. Ganz auf mich gestellt bin ich am besten. Und jetzt bring sie bitte nach oben.«
Achmed öffnete die Tür. Die Wachsoldaten hatten den Flur, in dem die Kinder eingesperrt gewesen waren, noch nicht betreten. Schnell schlüpfte er durch die Tür, die von Grunthor gleich darauf geschlossen wurde. Nachdem der Riese sie auch noch mit dem Querbalken verriegelt hatte, machte er sich daran, die Lesepulte der Bibliothek zu einer Barrikade zusammenzustellen.
Rhapsody führte die Kinder über die Treppe nach oben. Nicht so sehr die Miene, wohl aber ihre Stimme verriet, dass sie sich große Sorgen machte.
Wie eine Katze schlich Achmed durch die Schatten, unbemerkt von den Banditen, die in den langen Flur eindrangen, noch ehe er ihn vollständig durchquert hatte. Sie bewegten sich wie gut ausgebildete Kämpfer und waren schwer bewaffnet. Bis auf den Anführer hatten sich alle mit Kettenhemden gepanzert. Manche trugen eine Armbrust.
Ungesehen in einer Ecke kauernd, schloss Achmed die Augen und lauschte. Er zählte fünfzehn Kämpfer, ausgenommen den Anführer und jene neun, die vor der Pforte Posten bezogen hatten. Es fuchste ihn, dass Rhapsody und die Kinder im Turm eingesperrt waren, doch hatte sich keine bessere Möglichkeit ergeben. Immerhin war Grunthor bei ihnen, der die Angreifer aufhalten würde, bis er, Achmed, einen nach dem anderen von hinten unschädlich gemacht hätte.
Genau damit würde er nun beginnen. Er schlüpfte durch die Tür, die Grunthor aus den Angeln gebrochen hatte, und huschte in den langen, blutverschmierten Gang hinaus zu. Die neun Männer vor der Pforte starben, ehe ihr Anführer den Garten verlassen hatte.
In der Bibliothek wartete Grunthor hinter der behelfsmäßigen Barrikade aus Lesepulten geduldig ab. Er hatte einen Pfeil auf die Sehne seines Langbogens gelegt und die Spitze des Langdolchs griffbereit vor sich ins Holz gerammt. Eine Weile später hörte er ein Rütteln an der Tür, gefolgt von wuchtigen Stößen. Da versuchte jemand mit Gewalt einzudringen.
Grunthor schmunzelte. Ohne die Hilfe eines Rammbocks wäre es selbst ihm kaum möglich gewesen, die massive Tür niederzureißen. Plötzlich riss der Ansturm ab; stattdessen klopfte es an der Tür.
»Hallo? Ist da jemand?«, meldete sich eine freundliche, angenehme Stimme mit schalkhaftem Unterton. »Dass ihr mich aus meinem eigenen Hause aussperrt, ist wirklich nicht nett. Seien wir doch vernünftig, ja? Lasst mich rein. Ich weiß, dass ihr da drin seid.«
»VERZIEHT EUCH!«, röhrte Grunthor.
Plötzlich flog mit lautem Krachen die Tür auf. Qualmende Holzsplitter schössen durch den Raum, schwarze Flammen loderten auf, und die Luft füllte sich mit Rauch.
Sechs oder sieben Männer stürmten herbei. Grunthor ließ einen Pfeil nach dem anderen von der Sehne schnellen. Er hörte Armbrustbolzen dicht neben sich in das Eichenholz der Lesepulte einschlagen und erwiderte den Beschluss. Einer der Angreifer stürzte getroffen zu Boden. Zwei andere hatten in Deckung gehen können.
Von größerer Gefahr als diese beiden waren jedoch drei Schwertkämpfer, die mit gezogenen Klingen über ihn herzufallen versuchten. Einen brachte er mit einem Pfeil in den Schenkel zu Fall, ehe die beiden anderen auf die Barrikade sprangen. Weitere Männer drangen durch die Tür. Den ersten wehrte Grunthor mit einem Pfeil ab, den er ihm von Hand durch die Brust stieß. Den zweiten stoppte er mit seiner gewaltigen Faust. Als er sich von den übrigen vier Kämpfern rechts und links der Barrikade eingezingelt sah, griff er zum Langdolch. Er musste auf die Knie gehen, um den Bolzengeschossen der Armbrust auszuweichen, die in die Treppenstufen und die Holzpulte vor ihm einschlugen. Mit einem schnellen, gezielten Hieb erdolchte er den ersten, doch ihm schwante, von den anderen bald überwältigt zu werden.
Er parierte deren Attacken so gut es ging und bemerkte plötzlich, dass einer der Angreifer mit einer rauchenden Wunde in der Stirn zu Boden ging.
Dann sah er Rhapsodys schlanke Gestalt durch sein Blickfeld huschen und über den nächsten Eindringling herfallen. Schmunzelnd wandte sich Grunthor demjenigen zu, der ihm zu nahe rückte, und staunte nicht schlecht, als dieser seinen Hieb abzuwehren vermochte, ohne dass ihm das Schwert aus der Hand gerissen wurde. Grunthor setzte nach, stach und schlug mit dem Langdolch zu, musste aber selbst eine tiefe Fleischwunde im Unterarm hinnehmen, ehe es ihm endlich gelang, den gut trainierten Gegner außer Gefecht zu setzen.
»Tüchtig, tüchtig«, sagte er anerkennend mit Blick auf den toten Kämpfer.
Dann eilte er Rhapsody zu Hilfe, gerade noch rechtzeitig, denn sie wurde soeben mit einem Tritt in die Knie von den Beinen geholt. Er erschlug ihren Widersacher mit einem gewaltigen Hieb und half ihr vom Boden auf.
»Schön, dich zu sehn, Herzchen.«
Rhapsody lächelte. »Das beruht auf Gegenseitigkeit«, antwortete sie.
Kaum hatten sie sich in Erwartung weiterer Angriffe dem Eingang zugewandt, explodierte abermals dunkles Feuer, das die beiden zu Boden schleuderte und die vielen Bücherregale in Flammen aufgehen ließ.
Achmed ging hinter dem Altar im Garten in Deckung und sah, wie der Mann mit den Wölfen die Hand hob. Ein Blitzstrahl aus schwarzen Flammen sprang aus seinem Handteller und zertrümmerte die schwere Pforte zum Turm, die gleich darauf von Teilen seiner Mannschaft gestürmt wurde. Achmed legte seine Cwellan an und nahm seine Ziele ins Visier. Als Erste fielen jene beiden Posten, die vor den Türen zum Garten Wache standen. Der nächste Schuss galt dem Mann im grauen Mantel. Der drehte sich um, als die Silberscheiben auf seinen Kopf zusausten, ihr Ziel jedoch verfehlten. Stattdessen flackerten sie plötzlich auf und verglühten dicht vor den Augen des Mannes. Lachend hob er die Hand, aus der ein schwarzer Flammenball fuhr, durch die Luft flog und vor dem Sockel des steinernen Altars explodierte. Der Untergrund bebte merklich, die Holzgestelle, an denen die toten Kinder hingen, krachte zu Boden, und der Altar zerbrach, doch konnte Achmed in letzter Sekunde unbeschadet zurückweichen.
Als er hörte, dass etliche Kämpfer in den Garten gelaufen kamen, trat er sofort wieder in Aktion und ließ einen tödlichen Hagel seiner Scheibengeschosse auf die Banditen hereinprasseln. Deren Anführer aber war außerhalb der Schusslinie. Ein Wall aus dunklen Flammen versperrte den Weg zur Eingangshalle. Fluchend eilte Achmed auf das Haupttor zu, dem, soweit er wusste, einzigen anderen Zugang zum Turm. Dass die Flammen schwarz waren, bestürzte ihn zutiefst. Offenbar hatte das Wissen um diese dunkle Kraft den Untergang der Insel überlebt.
Grunthor und Rhapsody sprangen vom Boden auf, als die Flammen und ätzender Rauch um sich griffen. Im Türausschnitt sahen sie die Silhouette eines Mannes. Grunthor langte nach einem der Beile, die in seinem Waffengurt steckten, und schleuderte es auf die Gestalt zu. Doch ehe die Waffe ihr Ziel fand, verschwand sie in einer dunklen Feuerzunge.
»Gebt euch geschlagen«, tönte eine Stimme. »Ihr steckt in der Falle. Legt die Waffen ab, und ich werde die Flammen zurücknehmen. Weigert ihr euch, bin ich gezwungen, euch zu Asche zu verbrennen.«
Die Stimme, die aus dem dunklen Feuer tönte, klang voll und süß wie Honig an einem warmen Tag. Rhapsody fühlte sich durch sie an die Zeit unmittelbar nach dem Aufstieg aus der Wurzel erinnert.
Und dann wäre da das Feuer.
Was soll damit sein?
Komm her. Leg das Schwert ab und lass es hier.
Sei’s drum. Und nun?
Und jetzt sieh dir das Feuer an.
Ich sehe es.
So. Und nun geh langsam darauf zu Himmel, wie ist das möglich?
Die Ursache bist du. Siehst du, wenn du dich nicht schnell wieder beruhigst, geht unser hübsches kleines Nest noch in Flammen auf und womöglich der ganze Wald.
Rhapsody schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Sie richtete all ihre Konzentration auf das Feuer.
»Gib Frieden«, sagte sie.
Die Flammen reagierten sofort. Das von Büchern und Schriftrollen gespeiste Feuer ging zurück und verlosch.
Als ein wütendes Fluchen von der Tür aus laut wurde, ließ sie in ihrer Konzentration nach, worauf das Feuer wieder aufflammte.
Sie geriet in Panik, und die Flammen loderten noch höher auf als zuvor. Dass sie einsah, einen Fehler gemacht zu haben, ließ das Feuer wieder zurückgehen. Gleichzeitig spürte sie, wie eine fremde Kraft gegen ihren Willen ankämpfte. Sie umklammerte das Heft ihres Schwertes und versuchte, ihre Gedanken und Gefühle von der Klinge ableiten zu lassen. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Das Feuer ging aus, was von der Tür her mit einem wütenden Aufheulen quittiert wurde. Rhapsody trat vor die Barrikade und stellte sich dem Feind, der das schwarze Feuer hervorgerufen hatte. Vor lauter Rauch konnte sie ihn nur in Umrissen erkennen. Er blieb eine Weile vor ihr stehen und war dann plötzlich verschwunden. Dass er sie deutlicher gesehen hatte als sie ihn, war nicht anzunehmen, obwohl ihre Kapuze zurückgefallen war und das Gesicht und die im Licht des verlöschenden Feuers schimmernden Haare freigelegt hatte. Wahrscheinlich, so vermutete sie, hatte ihn der Anblick ihres Schwertes in die Flucht geschlagen. Zusammen mit Grunthor eilte sie zur Tür, doch die Schattengestalt war schon nicht mehr zu sehen. Im Obergeschoss hörte sie die Kinder jammern.
Achmed hatte gerade die lange Eingangshalle durchquert, als er den grau bemäntelten Mann auf sich zuhasten sah. In der Linken hielt er ein Langschwert, auf dessen schwarzer Klinge ein dünner weißer Streifen verlief. Von der Waffe strahlte eine Kraft aus, die Achmed als ein Prickeln auf der Haut wahrnahm. Die Gestalt selbst machte ihn ekeln.
Der Mann blieb kurz stehen und bedachte den Dhrakier mit flüchtigem Blick. Achmed konnte nicht viel von ihm erkennen, sah aber hinter dem Visier des Kriegshelms erstaunlich blaue Augen grinsen. Achmed warf seine Cwellan über die Schulter und zog blitzschnell das lange dünne Schwert, auf das er nur in den seltensten Fällen zurückgriff, nämlich als letztes Mittel, wenn er mit der Cwellan nichts mehr auszurichten vermochte. Der Anführer der getöteten Kämpfer grinste breit, nickte kurz mit dem Kopf und sprang durchs Fenster nach draußen.
Ihm nachsetzend, ließ der Dhrakier das Schwert fallen, brachte die Cwellan wieder in Anschlag und spähte durch die zerborstene Scheibe. Der Flüchtende hatte sich nach harter Landung schon wieder aufgerafft, als Achmed auf ihn anlegte. Doch zum Schuss kam er nicht, denn plötzlich tauchten die weißen Wölfe in der Halle auf und zwangen ihn zur Selbstverteidigung. Sie hetzten auf ihn zu, doch ehe sie über ihn herfallen konnten, hatte er sie mit der Waffe seiner eigenen Erfindung zur Strecke gebracht.
Als er sich wieder dem Fenster zuwandte, war der Mann in dem langen grauen Mantel verschwunden.