52

Hinter dem wenige Schritte breiten, sandigen Ufer war der Grund mit Gras bewachsen. Von der leicht erhöhten Warte aus ließ sich die gesamte Insel überblicken. Außer dem kleinen Haus waren da noch die Reste von inzwischen verödeten Blumenbeeten zu sehen sowie eine Art Gartenlaube aus marmornen Säulen, die wie das abseits stehende Haus zusätzlich zu der Patina aus Staub und Schmiere Spuren eines verheerenden Feuers zeigten. Eine Seite der Laube war besonders stark von Ruß befleckt.

Von dem Augenblick an, da sie den Fuß auf die Insel gesetzt hatten, spürten beide einen klagenden, pulsierenden Ingrimm, der diesem Ort eigen zu sein schien, eine Wut, die nicht von Boshaftigkeit, sondern vielmehr von tiefem Kummer zeugte. Rhapsody rückte unwillkürlich näher an Achmed heran, der seinerseits einen völlig ungerührten Eindruck machte. Ihm waren solche Orte des Hasses und der Wut offenbar alles andere als fremd.

Schnell hatten sie die Insel erkundet, denn es gab nicht viel auf ihr zu entdecken. Dass das Haus unbewohnt war, war schon auf dem ersten Blick zu sehen. Achmed untersuchte den Kamin und die Mauersteine, die der uralte Mörtel immer noch fest zusammenhielt. Er nickte in Richtung Eingangstür. Rhapsody folgte ihm nach innen.

Im Flur lag ein schwerer Geruch von verlorener Zeit, von Schimmel, Moder und Fäulnis. Rhapsody zog ihr Schwert und trug es wie eine Fackel vor sich her. Sie hatte die Augen weit aufgesperrt. Rechter Hand lag das Wohnzimmer; auf der linken Seite führte eine Treppe ins Obergeschoss. Achmed ließ ihr mit dem glühenden Schwert den Vortritt und sah sich aufmerksam um. Die Bauweise des Hauses und das Mobiliar erinnerten stark an Formen und Stile, wie sie auch auf der Versunkenen Insel gepflegt worden waren. Daran, dass es noch aus der Zeit der Cymrer stammte, hatte Achmed keinen Augenblick lang gezweifelt. Die Bolg waren gewiss nie an diesem Ort gewesen. Er öffnete die Tür so weit wie möglich, um ein bisschen Höhlenluft hereinzulassen, die im Vergleich zur Luft im Innern des Hauses geradezu frisch wirkte.

Das Wohnzimmer schien früher einmal recht gemütlich gewesen zu sein und hatte an der Außenwand eine offene Feuerstelle mit schön geschnitztem Kaminsims, auf dem eine fingerdicke Staubschicht lag. Nebenan lag die Küche, die den ganzen rückwärtigen Bereich in Anspruch nahm.

Neugierig inspizierte Achmed den großen Herd und die Vorratskammer. Der gesamte Haushalt war sehr viel besser ausgestattet als das, was man gegenwärtig in diesem Land als Standard vorfand, ja besser und ausgeklügelter auch als vergleichbare Einrichtungen in Canrif. So war der Herd zum Beispiel mehrfach unterteilt, um gleichzeitig verschiedene Speisen darauf zubereiten zu können, und vom See führte ein Kanal ins Haus, aus dem Wasser zum Gebrauch in der Küche und zur Kühlung der Vorräte gepumpt werden konnte. Über kupferne Steigrohre hatte man sogar das Obergeschoss mit fließendem Wasser versorgt.

Rhapsody war hinten um die Treppe herumgegangen und ins Esszimmer gelangt, in dem ein kleiner, noch sehr gut erhaltener Eichentisch und vier Stühle standen. Ein großes Fenster aus durchsichtigen Glasblöcken, die am Rand zu Prismen geschliffen waren, öffnete den Blick auf den imposanten Wasserfall, der, wie sich zeigen sollte, auch ein Lichtspiel besonderer Art zu bieten hatte. Die untergehende Sonne warf nämlich ihre Strahlen durch den Felsspalt, aus dem das Wasser hervorsprang, und sorgte einen kurzen Augenblick lang für eine phantastische Illumination, die sich dank der Prismen und der von ihnen aufgefächerten Regenbogenfarben umso prachtvoller entfalten konnte.

Durch die zweite Tür des Esszimmers kehrte Rhapsody in den Flur zurück, wo sie auf Achmed traf, der sich gerade anschickte, über die Treppe nach oben zu gehen. Sie folgte ihm und wischte das Spinngewebe beiseite, das zwischen Decke und Wänden hing-

Oben angekommen, wandten sie sich nach links und kamen in das kleine runde Zimmer eines Türmchens, das ihnen von außen gar nicht aufgefallen war. Vor dem gebogenen Fenster stand eine halbrunde Bank mit verrotteter Polsterung. Das Fensterglas aber war noch völlig intakt. Obwohl es keine konkreten Hinweise darauf gab, vermutete Rhapsody, dass dieser Raum als Studierzimmer genutzt worden war.

Auf der anderen Seite des Treppenabsatzes befand sich ein größerer Raum, darin ein großes Bett. Das Kopfteil des Gestells bestand aus dunklem Holz, dessen Schönheit und meisterliche Bearbeitung selbst der viele Staub und die Jahre der Abnutzung keinen Abbruch tun konnten.

An der Wand gegenüber gab es einen Kamin, der sich mit dem im Wohnzimmer ein und denselben Rauchabzug teilte. Der Kaminsims war hier sehr viel schlichter gehalten. Das Fenster wies auf den See hinaus, war aber vor lauter Dreck undurchsichtig geworden. Die Bodendielen hatten zu faulen begonnen und drohten unter den Schritten der beiden zu zerbrechen.

Der Raum hatte noch zwei weitere Türen; hinter der einen war ein begehbarer Wandschrank, in dem nichts anderes als eine kleine Mahagonitruhe mit kunstvollem Schnitzwerk stand. Darin fand Rhapsody ein winziges Gewand aus feiner weißer Spitze und mit bunter Stickerei. Der Größe nach war es anscheinend für einen Säugling gedacht. Vorsichtig legte sie es in die Truhe zurück. Achmed steckte bereits seinen Kopf durch die andere Tür. Sie eilte herbei und lugte ihm über die Schulter.

Die beiden schauten in ein Badezimmer, das mit seiner großen Wanne und den marmornen Fliesen am Boden ähnlich eingerichtet war wie diejenigen im Kessel. Hier gab es auch einen Abort und ein Waschbecken die beide an kupferne Rohre und Pumpen angeschlossen waren. Wo das Wasser über viele Jahre hingetropft war, zeigte sich jetzt an der oberflächlichen Verfärbung.

»Genug gesehen?« Achmeds Stimme zerriss die steinalte Stille und ließ Rhapsody vor Schreck zusammenfahren.

»Fürs Erste«, antwortete sie. Widerstrebend folgte sie ihm über die Treppe nach unten und vor den Eingang, wo sie einen letzten sehnsüchtigen Blick in den Flur zurückwarf, ehe sie die Tür hinter sich zuzog.

Die kleinen Gärten waren, wie Rhapsody feststellte, auch schon vor ihrer letztendlichen Verödung lange Zeit nicht gepflegt worden. Reste an den Hauswänden und am Boden zeigten, dass an mindestens zwei Stellen Kletterrosen und wilder Wein ins Kraut geschossen waren.

Was für eine Schande, dachte sie und malte sich in ihrer Vorstellung aus, wie es hier einmal ausgesehen haben mochte, als die gesamte Anlage noch gepflegt worden war, liebevoll, mit Sinn für Ausgewogenheit und einem Blick für die besonderen Lichtverhältnisse unter Tage. Doch noch während sie sich ein Bild davon zu machen versuchte, dämmerte ihr auch, dass hier eigentlich nichts wachsen konnte, da ja an diesem Ort alles durch und durch verkehrt zu sein schien, in seiner eigentlichen Natur von Grund auf zerrüttet und durcheinander gebracht von jenem bereits empfundenen Ingrimm, der den Grund verseuchte und alles Wachstum vereitelte.

Achmed ging auf die Gartenlaube zu. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe auf der anderen Seite der Insel, und das hatte wahrscheinlich seinen besonderen Grund, der ihm aber auf Anhieb nicht ersichtlich war.

Er ging um die Laube herum und glaubte feststellen zu können, dass sie an Ort und Stelle aus einem großen Marmorblock herausgemeißelt worden war, was ihn in Erstaunen versetzte. Der. Steinmetz musste wahrhaftig ein Meister seines Faches gewesen sein, was auch ein Laie sofort erkannte. Die sechs Säulen waren makellos behauen und poliert, das kleine Kuppeldach, das sie trugen, mit wunderschönen Gravuren verziert.

Rhapsody stieg über zwei marmorne Stufen auf die kleine Plattform in der Mitte. Darauf standen zwei halbkreisförmige Bänke, die so zueinander ausgerichtet waren, dass sie im Zentrum des Runds eine S-Form bildeten. Auch sie waren aus demselben Stein, ja, es schien, dass sie wie alles andere in einem Stück aus dem rohen, riesigen Block herausgeschlagen worden waren. Ein Vogelkäfig mit zerbrochener Tür lag am Rand der Plattform, gleich neben dem, was sein Ständer gewesen zu sein schien. Beide Teile waren von bemerkenswert edler Machart und aus einem Material getrieben, das wie Gold aussah.

Der Ständer überragte Rhapsody um mehr als eine Handbreit, und der Käfig selbst war so groß, dass ein kleines Kind darin Platz gefunden hätte. Wie auf dem Marmor der Rotunde so hatte sich auch auf dem Käfig eine dicke Patina aus Ruß und Staub gebildet. Angetan von der Schönheit dieses Kunstwerks, das ihr hier im Land der Bolg so fehl am Platz zu sein schien, streckte Rhapsody die Hand aus und berührte die kleine Tür.

Doch plötzlich schrak sie zurück. Die Zeit verlangsamte sich auf einen quälend schleppenden Gang, und sie sah die Laube wie vordem, mit weiß leuchtenden Säulen im Halbdunkel des Gartens. Vor ihr stand ein Mann, ein Mensch, mit dichtem grauem Bart und buschigen dunklen Brauen. Er trug ein leinenes Gewand mit goldenen Bordüren. Sein Gesicht war wutverzerrt, die Augen schienen zu glühen.

Rhapsody musste reglos mit ansehen, wie dieser Mann ganz langsam mit dem Arm zu einem wuchtigen Fausthieb gegen sie ausholte. Die Luft schien zu zersplittern. Sie spürte den Aufprall, den Schmerz, der durch alle Fasern ging, und ihr war, als gerieten die Säulen ins Wanken. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, die starr unter das bewölkte Firmament gerichtet waren. Rechtzeitig herbeigesprungen, konnte Achmed verhindern, dass sie der Länge nach zu Boden schlug.

Er führte sie vor eine der beiden Bänke, auf der sie ächzend Platz nahm. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte und der Schwindel abgeklungen war.

Dann sagte sie: »Tja, jetzt weiß ich, woher dieses Gefühl der Wut rührt.«

»Was hast du gesehen?«

Sie massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Ich hatte die einmalige Gelegenheit, Gwylliam zu sehen, und zwar durch Anwyns Augen in dem Augenblick, als er sie schlug. Erinnerst du dich, wie Llauron davon sprach, dass er sie geschlagen hat?«

»Ja.«

»Nun, das war nicht bloß eine ausgerutschte Hand. Mir dröhnt der Schädel noch immer.«

»Dann wundert’s auch nicht, dass sie versucht hat, ihn zu vernichten.«

»So schlimm der Schlag auch war, halte ich ihre Reaktion dennoch für leicht übertrieben. Zugegeben, auch ich wäre wütend gewesen, hätte aber mit Sicherheit deswegen nicht ein Heer aus zehntausend Soldaten ins Verderben geschickt. Ich hätte ihm wahrscheinlich stattdessen Gift unter den Hirsebrei gerührt.«

»Wie ich die Sache verstehe, haben die Cymrer der Ersten und Dritten Flotte nur auf einen Vorwand gewartet, um übereinander herfallen zu können. Die von der dritten Emigrantenwelle hatten nach eigener Einschätzung die größten Opfer bringen müssen, dadurch nämlich, dass sie bis zuletzt zurückgeblieben sind und die Stellung gehalten haben, während sich die anderen schon aus dem Staub machen konnten. Und als sie dann endlich ihre neue Heimat erreichten, mussten sie sich den Weg frei kämpfen, im Unterschied zur Ersten Flotte, die nirgends auf Widerstand gestoßen ist und keine Probleme hatte, sich in den Wäldern niederzulassen. Mir ist natürlich bewusst, dass meine Informationen zu Gwylliams Gunsten gefärbt sind. Aber ich würde sagen, dass sein kleiner Schlagabtausch mit Anwyn gewissermaßen der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

Rhapsody stand auf und sah sich um. »Hier also ist der Krieg ausgebrochen, genau hier auf dieser Insel, in dieser Laube. Kein Wunder, dass dieser Ort verwunschen ist.«

Achmed kicherte und gab einen seltsamen Laut von sich, der Rhapsodys Blick sofort auf sein Gesicht lenkte. »Hast du etwa Angst vor Gespenstern, Rhapsody?«

»Von wegen«, entgegnete sie brüskiert. »Die haben allenfalls Angst vor mir.«

»Also, das würde mir auch unmittelbar einleuchten«, sagte der König der Firbolg in spöttischem Ton. »Du bist in der Tat zum Fürchten.«

Schmunzelnd holte Rhapsody wieder ihre Flöte zum Vorschein. Sie setzte sich zurück auf die Bank, machte die Augen zu und lauschte dem lauen Wind über dem Wasser.

Sie nahm die Geräusche und Schwingungen in der Grotte in sich auf, suchte nach Missklängen und fand auch welche. Dann hob sie die Flöte an ihre Lippen und spielte eine zarte Melodie. Sie erfüllte die Luft und hallte wider, verstärkt durch den weiten Höhlenraum, wo sie, als Rhapsody das Instrument wieder abgesetzt hatte, eine Weile nachklang. Sichtlich erregt, wandte sich die Sängerin Achmed zu.

»Jetzt ergibt alles einen Sinn!«, rief sie und sprang auf. »Wir haben diesen Ort so lange nicht finden können, weil er von mehreren Schwingungsebenen auf natürliche Weise überlagert wird. Da ist zum einen der tiefe, von Felsen umringte Einschnitt, über den der Wind hinwegpfeift, dann das Grundwasser und schließlich der tosende Wasserfall, der mit seinem Sprühnebel die Höhle verhüllt. Und diese Laube wirkt wie ein Schalltrichter, der so platziert ist, dass hier produzierte Laute um ein Vielfaches verstärkt werden. Was du auf diesem Podium sagst, kann überall in der Höhle gehört werden. Kurzum, all der Hass, der diesem Ort anhaftet, wird durch die verschiedenen Schichten nach draußen übertragen. Das spüren auch die Firbolg, weshalb sie diese Schlucht so sehr fürchten und einen großen Bogen um sie machen.«

Achmed nickte, hielt sich aber mit einem Kommentar zurück. Auch ihm war hier ganz und gar nicht wohl zumute. Wasser war ihm und seinem Spürsinn immer schon zuwider gewesen. In der alten Welt hatte, wer sich vor ihm verbergen wollte, nur die eine Chance gehabt, auf, im oder nahe an einem Gewässer Zuflucht zu suchen.

»Dieses Rätsel wäre also gelöst. Kehren wir um.«

»Warte. Ich will noch etwas versuchen.« Rhapsody ignorierte seinen mimischen Einspruch und fing wieder an, auf der Flöte zu spielen. Dabei konzentrierte sie sich auf die schmerzlichen Klänge, auf das Trauerlied, das in der Höhle schwang, begleitete sie mit helleren Tönen und webte daraus ein Lied der Versöhnung und des Friedens. Die Wirkung war zwar nicht von Dauer, aber sie konnte doch eine leichte Besserung verspüren, als sie ihr Flötenspiel beendete.

»Kann ich diesen Ort ganz allein für mich haben? Bitte?« Sie achtete nicht auf seinen ungläubigen Blick und drängte weiter: »Ich könnte das Haus wieder herrichten. Es wären nur ein paar kleine Ausbesserungsarbeiten am Holz zu tun und viel zu putzen. Und ich würde am Lied dieses Ortes arbeiten, ihn wieder gesund machen und all die schlimmen Erinnerungen vertreiben, die Gwylliam und Anwyn hier zurückgelassen haben. Könnte dieser Orte nicht vielleicht meine, nun, meine ...«

»Deine Grafschaft?«

»Was?«

»Grafschaft. Grunthor nennt dich doch schon Gräfin oder Euer Liebden. Wir sollten wirklich eine aus dir machen. Gratuliere. Du wirst dem Firbolg-Hochadel angehören.«

Rhapsody überhörte seinen Spott. »Schön. Dann kann ich als deine Botschafterin auftreten, und der Titel wird mich dazu legitimieren.« Sie lachte über Achmeds süffisantes Grinsen. »Ja, so soll es sein. Ich hatte nie einen Ort für mich allein; im Gegenteil, mich haben immer nur andere in Besitz genommen.«

»Ich übereigne ihn dir hiermit für immer und ewig, vorausgesetzt, wir können jetzt gehen.«

»Abgemacht.« Ein Händedruck besiegelte den Handel. Dann eilten sie zum Boot zurück.

»Und wie willst du diesen Ort nennen?«, fragte Achmed, der auf der Ruderbank saß und sich stärker als auf dem Hinweg in die Riemen legte.

»Darüber denke ich gerade nach«, antwortete sie mit freudestrahlendem Blick. »Es sollte ein Name aus der alten Welt sein, einer, der für Macht oder für Königswürde steht. Das wäre doch wohl angemessen, oder?«

Er seufzte. »Ganz wie du willst. Du bist die Gräfin. Nebenbei bemerkt: Du wirst mir Steuern zahlen müssen. Ich bin an all deinen Einnahmen beteiligt.«

Sie wusste, dass er scherzte, blieb aber selbst ernst. »Einverstanden. Allerdings wirst du dich mit Naturalien begnügen müssen. Ich habe nicht vor, mit Geld zu handeln.«

Achmed hob die Brauen fast bis zum Haaransatz. »Wie bitte? Ich dachte, du hättest dich aus deinem alten Gewerbe zurückgezogen.«

Sie strafte ihn mit ihren Blicken. »Du verstehst mich absichtlich falsch. Ich spreche natürlich von Kräutern und Gewürzen, vielleicht auch Blumen. Du kannst manchmal ein richtiges Schwein sein.«

»Es war nur ein Witz.«

»Ich weiß. Es ist immer nur ein Witz.« Ihr starrer Blick war auf den Wasserfall gerichtet, der in der Ferne entschwand. Sein Lied verklang, und gleichzeitig trübte sich Rhapsodys Stimmung.

Achmed musterte ihre Miene. »Es tut mir Leid.« Sie winkte mit der Hand ab. »Was ist los mit dir?«, fragte er.

Ohne ihn anzusehen, antwortete sie: »Ich weiß nicht, wie ich’s nennen soll, vielleicht ist es Neid. Mir fehlt das richtige Wort dafür.«

»Du und neidisch?« Achmed kniff die Brauen zusammen. »Worauf?«

Endlich richtete sie die grünen Augen auf ihn. Von ihrem Strahlen von vorhin war nicht mehr viel zu sehen. »Nein, ich bin nicht neidisch. Ich bin verloren. Aber wie könnte ich dir das erklären? Du hast kein schlechtes Gewissen, das dich nachts nicht schlafen lässt, du musst nicht trauern um Verluste in der alten Welt. Du hast hier deinen Lebenszweck gefunden, eine Aufgabe. Man braucht dich. Dir ist die Möglichkeit gegeben, eine Leistung von historischer Dimension zu vollbringen. Hier lebst du erst richtig auf.«

Er schluckte. Über solche Dinge unterhielt er sich nicht gern. »Du bist Teil dieses neuen Lebens. Du hast einen Beitrag zu dieser Leistung zu bringen. Das ist auch deine Chance.«

Sie schüttelte den Kopf. »Versteh mich bitte nicht falsch. Ich möchte dir helfen, den Bolg und vor allem auch den Kindern. Aber das ist nicht meine eigentliche Aufgabe.«

»Was denn?«

Rhapsody ließ die Schultern hängen. »Wenn ich das wüsste, käme ich mir nicht so verloren vor.« Sie tauschte den Platz mit ihm und setzte sich auf die Ruderbank.

»Meine Mutter hat mich immer dafür gerügt, dass ich die Tür auflasse. Wir wohnten auf freiem Feld, und der Wind, der von den Hügeln herunterkam, konnte mitunter ziemlich heftig sein. Ihre Stimme klingt mir immer noch im Ohr – ›Mach die Tür zu!< Und ich musste immer wieder aufs Neue dazu aufgefordert werden. Seltsam, meine Vergangenheit ist ein Korridor mit Türen, die ich habe offen stehen lassen. Doch jetzt ist das Haus verschwunden, selbst verweht in alle Winde. Ich glaube, dass ich diesen Verlust nie verwunden habe. Ich versuche es, doch selbst nach so langer Zeit empfinde ich ihn noch in aller Schärfe. Ich werde damit irgendwie zurande kommen müssen. Dazu brauche ich, was du schon hast: ein Zuhause, ein Ziel und die Chance, etwas Gutes zu tun. Und jemanden, der mich braucht – Jo, meine Enkelkinder, in geringerem Maße auch die Bolg und vielleicht sogar dich und Grunthor. Womöglich kann ich mit diesem Ort, mit dieser Grafschaft, einen Anfang machen.«

Achmed stieß einen Schwall Luft aus, erleichtert darüber zu sehen, dass ihre Augen wieder ein wenig heller strahlten und seinen Kummer vertrieben, den er ihretwegen empfunden hatte. Was ist das bloß für eine sonderbare Macht, die das Feuer ihr verliehen hat?, fragte er sich im Stillen. Sie ergriff allmählich auch von ihm Besitz.

»Welchen Namen also soll dein neues Gut bekommen?«, fragte er laut.

Rhapsody dachte an das serenische Königsschloss, das sie selbst nie gesehen hatte, von dem sie aber wusste, dass es auf einem Fels hoch über der Meeresbrandung thronte.

»Ich werde es Elysian nennen.«

Drei Wochen später wurde im ganzen Bolgland verkündet, dass der neue Kriegsherr und König die Dämonen von Kraldurge aufsuchen werde, um ihnen ein Opfer zu bringen. Ein großer Wagen wurde mit den Geschenken für die bösen Götter beladen nd mit einer Plane zugedeckt, um die Geschenke vor den neugierigen Blicken der Bolg zu verbergen, obwohl niemand auftauchte, der dem König eine gute Reise gewünscht hätte. Die Geschenke waren nach einer von der Sängerin aufgestellten Liste aus Bethe Corbair und Sorbold herbeigeschafft worden.

Rhapsody, die landein, landaus als die Erste Frau des Königs geachtet wurde, hatte sich an diesen Titel inzwischen gewöhnt, obwohl er sie zugleich amüsierte und verärgerte. Aber solange er uns Sicherheit bietet, soll’s mir recht sein, hatte sie Jo gegenüber erwähnt, die selbst als des Königs Zweite Frau rangierte. Eine Frau hatte einen fremden Bolg nur dann zu fürchten, wenn dieser den Mann, dem sie angehörte, herauszufordern gedachte. Keiner würde es wagen, sie, Rhapsody oder Jo, zu belästigen. Von Elysian hatte Rhapsody ihrer jungen Freundin noch nichts gesagt. Sie wollte das Geheimnis erst dann lüften, wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sein würden.

Der riesige Opferkarren setzte sich in der Nacht in Bewegung, rollte auf die Inneren Zahnfelsen zu und wurde bald von der Dunkelheit verschluckt. Am übernächsten Tag kehrten der König und sein Hauptmann zurück, müde nach ihrer Begegnung mit den Dämonen, aber wohlbehalten.

Die Dämonen, so verkündete der Hauptmann, akzeptierten die Herrschaft des Königs. Sie wollten sein Volk verschonen, wenn sich denn die Bolg von ihrem Reich fern hielten. Falls die Bolg aber dieses Abkommen verletzen sollten, hätten sie Schrecken zu gewärtigen, gegen die sich die einschlägigen Berichte der Vergangenheit harmlos ausnähmen. Achmed schmunzelte beim Anblick des kollektiven Schauers, der die Versammlung ergriff, als Grunthor zu Ende gesprochen hatte.

Rhapsody blieb in Elysian zurück und erfreute sich an den vielen Gaben, mit denen sie sich nun gut einrichten konnte. Als Achmed und Grunthor mit den Möbeln, Haushaltsgegenständen und Lebensmitteln angekommen waren, hatte sie ihnen sogleich in der blitzblank geputzten Küche ein Festmahl zubereitet.

Als sie im Esszimmer beisammen saßen, wurde ihnen vor dem Panoramafenster ein fulminantes Schauspiel aus Licht und Farben geboten. Die Strahlen der untergehenden Sonne zersprühten im geschliffenen Glas und tanzten schillernd durch den Raum. Rhapsody lächelte. Der Friedensgesang tat seine Wirkung, die Setzlinge fingen zu wachsen an, und sie besaß nun einen Ort für sich und ihre Freunde.

Fröhlich begleitete sie die beiden an den Wasserrand und winkte ihnen nach, als sie in einem der zwei neuen Boote davonruderten. Sie schaute ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und wandte sich dann ihrem Haus zu, über dem weißer Rauch aus dem Kamin aufstieg und aus dessen Fenstern ein Licht strahlte, das im dunklen Höhlenraum Behaglichkeit verbreitete.

Ins Haus eingetreten, machte sie die Tür leise hinter sich zu.

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