Anatoli Sobtschak war nicht nur einfach der »Hausherr« der nördlichen Hauptstadt, sondern auch eine Kultfigur des demokratischen Lagers. Viele waschechte Demokraten der ersten Welle, also die Säulen der Bewegung »Demokratisches Russland« von 1990/91, waren zum Ende von Boris Jelzins erster Amtszeit mehr als enttäuscht von ihrem einstigen Idol. Die einen störte Jelzins unkontrollierter Hang zum Alkohol, der nicht selten zu Blamagen und internationalen Skandalen führte. Man erinnere sich nur daran, wie der erste russische Präsident im Sommer 1994 in schwer alkoholisiertem Zustand anlässlich der Verabschiedung der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stationierten russischen Streitkräfte in Berlin ein Militärorchester dirigierte. Vor dem Hintergrund der Trauerstimmung, in der sich an diesem Tag die Söhne des zusammengebrochenen Imperiums befanden, wirkte Jelzins Benehmen geradezu blasphemisch.
Oder 1995: Der Kremlherr wurde am Flughafen Shannon erwartet, aber er kam und kam nicht aus der Maschine und ließ das Treffen mit dem Premierminister von Irland platzen. Jelzins Leibwächter Alexander Korschakow erinnerte sich daran, dass der russische Präsident in der Luft auf dem Weg nach Shannon einen Mikroinfarkt erlitten hatte. Das russische Volk und die »progressive Öffentlichkeit« hingegen waren sich sicher, dass sein Alkoholmissbrauch das Problem gewesen war.
Nach dem Vorfall von Shannon erhielt Boris Jelzin einen besorgten Brief von sechs seiner Assistenten: Alexander Korschakow, Michail Barsukow (Leiter des Föderalen Dienstes für Bewachung, der sich um die Sicherheit aller hochgestellten Personen mit Ausnahme des Präsidenten sorgte), Viktor Iljuschin (engster Mitarbeiter, der für die wichtige Frage des Terminplans von Boris Jelzin zuständig war), Dmitri Rjurikow (Assistent und Chefanalytiker für internationale Angelegenheiten in der Kreml-Administration), Wjatscheslaw Kostikow (Pressesprecher) und Ljudmila Pichoja (Redenschreiberin). Der Hauptgedanke dieses Briefes war folgender: Der erste demokratisch gewählte Präsident der Russischen Föderation habe die Verbindung mit der Gesellschaft verloren, verschließe sich in seinem Elfenbeinturm und entferne sich von seinen wichtigsten Anhängern und Mitstreitern.
Faktisch wurde ihm damit gesagt: Hör auf zu trinken und auszuspannen, und kehre zurück zur politischen Aktivität der früheren »Blütejahre« (1990/91). Korschakow schreibt in seinen Memoiren Boris Jelzin: Von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang, der Präsident habe deutlich seine Verärgerung über den »respektlosen« Brief gezeigt, aber keinen der Beamten entlassen, die den besorgten Geheimbrief unterschrieben hatten. Allerdings ist anzumerken, dass keine der genannten Personen mehr zu Jelzins späterer Mannschaft gehörte, die sich dann zusammen mit Wladimir Putin in das neue politische Zeitalter hinüberrettete. Der erste russische Präsident, der später zu einem Mythos wurde, konnte nicht nur Größe zeigen, sondern auch Rachsucht.
Viele waren zu dieser Zeit verärgert über das Eindringen der alten kommunistischen Parteinomenklatura in Jelzins enges Umfeld. Exemplarisch dafür stand Viktor Tschernomyrdin, russischer Ministerpräsident von 1992 bis 1998. Zur selben Zeit gerieten andere, die mit der »Generation demokratischer Reformen« in Zusammenhang gebracht wurden, ins politische Abseits. Nein, die reformatorischen Ideen selbst – beginnend mit der »großen Privatisierung« bis hin zur Integration neuer Eliten in die westliche Welt – waren nicht verloren gegangen und wurden nach wie vor umgesetzt. Nur die Dividenden ihrer Umsetzung kamen häufig nicht denen zugute, die der Meinung waren, sie für sich beanspruchen zu können.
Der eigentliche Stein des Anstoßes jedoch waren selbstverständlich die Präsidentschaftswahlen 1996. Die Parlamentswahlen im Dezember 1995 hatten die Kommunisten souverän für sich entschieden, indem sie mehr als 22 Prozent der Stimmen erhielten. Die offizielle Regierungspartei »Unser Haus – Russland« erhielt fast ein Drittel weniger – nur etwas mehr als 8 Prozent der Stimmen. Und die Partei »Demokratische Wahl Russlands«, eine politische Struktur, welche die Liberalen hinter Gaidar vereinigte, schaffte es überhaupt nicht ins Parlament.
Der Anführer der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, machte damals keinen Hehl daraus, dass er bereit war, Jelzins Platz im Kreml einzunehmen. Jelzins Umfragewerte sanken auf 2 bis 3 Prozent, das russische Volk war äußerst enttäuscht von dem Mann, den es wenige Jahre zuvor noch auf Händen getragen hatte. Jelzins Demokratie hatte sich nicht als Paradies auf Erden erwiesen, woran die Russen Ende der 1980er-Jahre aufrichtig geglaubt hatten. Stattdessen hatte sich das Lebensniveau jäh verschlechtert, und vor allem war das sowjetische Sozialsystem, das zuvor eine Selbstverständlichkeit gewesen war, in sich zusammengefallen.
In dieser Situation sank die Wahrscheinlichkeit, dass Jelzin auf demokratischem Weg die Wahlen gewinnen würde, gegen null. Im »demokratischen« Lager fing man an, über Alternativen nachzudenken. In diesem Zusammenhang fiel der wohlklingende Name Sobtschak, und auch der Bürgermeister der Stadt Sankt Petersburg selbst, ein äußerst ambitionierter Mann, der noch nie an Selbstunterschätzung gelitten hatte, war eigentlich nicht dagegen.
Die Apokryphen besagen, dass Sobtschak im Januar 1996 von Jelzin vorgeladen und ganz direkt gefragt wurde: Sollte der Präsident (Jelzin sprach des Öfteren in der dritten Person über sich) für eine zweite Amtszeit kandidieren? Die Antwort auf diese Frage war dem Präsidenten durchaus bekannt, aber er wollte Sobtschak mit dieser Heuchelei auf die Probe stellen. Wäre Sobtschak ein erfahrenerer Apparatschik gewesen und hätte er weniger an sich selbst gedacht, dann hätte er mit »Ja« geantwortet und wäre das Oberhaupt von Petersburg geblieben. Zusammen mit ihm wäre auch Putin der nördlichen Hauptstadt erhalten geblieben, und wir würden heute jemand völlig anderen auf der Bühne der russischen Politik des 21. Jahrhunderts sehen.
Aber Sobtschak beging vom Standpunkt der Logik des Staatsapparats gesehen einen schicksalhaften Fehler. Er gab Jelzin klar zu verstehen, dass dessen Chancen auf einen Wahlerfolg minimal seien und er, solange es noch nicht zu spät sei, bei den Wahlen besser auf … den Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin setzen solle, den altgedienten Kameraden des Petersburger Bürgermeisters in der Regierungspartei »Unser Haus – Russland«. (In seinem tiefsten Inneren meinte Sobtschak natürlich sich selbst und hoffte, Jelzin würde Vernunft annehmen.)
Und das tat dieser dann auch. Als er begriffen hatte, dass der Petersburger Bürgermeister ein unzuverlässiges Glied in der Kette war, beauftragte Jelzin seinen nächsten Vertrauten in dieser Zeit, den Chef des präsidialen Sicherheitsdienstes Alexander Korschakow, sowie den ersten Stellvertreter des Regierungschefs Oleg Soskowez, bezüglich der anstehenden Wahlen in Sankt Petersburg für Sobtschak einen starken Konkurrenten zu finden und einen Machtwechsel in der Stadt sicherzustellen.
Korschakow und Soskowez engagierten Wladimir Jakowlew, Sobtschaks ersten Stellvertreter, der für die Wirtschaft und die Bauvorhaben der Stadt verantwortlich war. Und auch wenn die liberalen Kreise aus Petersburg wie ein Mann hinter Sobtschak standen, verlor der Bürgermeister die Wahl. Die alleinige Verantwortung für diese ungeheuerliche, vielsagende Niederlage musste der formelle Leiter des Wahlkampfstabs, Wladimir Putin, auf sich nehmen.
Zu diesem Zeitpunkt brach über Putin erneut das Unglück herein. Seine Datscha bei Sankt Petersburg brannte ab. Dabei musste der künftige Präsident mit nur einem Morgenmantel auf der nackten Haut einen Koffer mit Bargeld retten – wie einige Quellen behaupten, waren darin nicht weniger als 15 Millionen Dollar. (Schon damals traute Putin den Banken nicht recht.) Kurz darauf erlitt Putins Frau Ljudmila einen Autounfall, der sich unabänderlich auf ihre Gesundheit auswirkte – somatisch und leider auch psychisch. Eigentlich war es dieser Unfall, der die Familie zerbrechen ließ. Wladimir und Ljudmila kamen sich als Mann und Frau danach nie wieder nah. Wie schon im Jahr 1990 war es Zeit, sich die Kugel zu geben.
Aber Putin überstand auch diese schrecklichen Prüfungen und zeigte einen unverwüstlichen Überlebenswillen. Er beschloss, Sankt Petersburg zu verlassen und sich einen neuen Ort zu suchen – das unbekannte, riesige, brodelnde, machtvolle Moskau. Dort musste er neue Verbindungen erst aus dem Nichts schaffen und alle bisherigen Karriereerfolge hinter sich lassen. Liberale aus Sobtschaks Umfeld halfen Putin, Arbeit in der »wirklichen« Hauptstadt zu finden, wenn auch ohne große Begeisterung (immerhin war er ein ehemaliger KGB-Mann und noch dazu schuld an Sobtschaks Sturz).
Die Apokryphen besagen, Alexei Kudrin, der Ex-Stellvertreter des Petersburger Bürgermeisters und verantwortlich für Wirtschaft und Finanzen sowie künftiger russischer Finanzminister, habe keine geringe Rolle in dieser Frage gespielt. Schon damals nutzte Kudrin das große Vertrauen von Anatoli Tschubais, damals einer der Leiter des Wahlkampfstabs von »Jelzin 1996«, der gleich nach den Wahlen zum Leiter der Präsidialverwaltung ernannt wurde. Auch fehlte es Putin nicht an einflussreichen Geschäftsleuten in der Hauptstadt, die mit dem künftigen Kremlherren Geschäftsbeziehungen knüpfen wollten.
Zum Beispiel war da der Präsident der Alfa-Bank, Pjotr Awen. 1992, als Putin Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen im Bürgermeisteramt der nördlichen Hauptstadt war, leitete Awen das Ministerium für Außenwirtschaftsbeziehungen von Russland und kuratierte über diese Linie WWP. Es war kein Zufall, dass im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Alfa-Bank und die in ihrem Umfeld agierende Finanz- und Industriegruppe Alfa-Konsortium zu den einflussreichsten Business-Holdings von Russland gehörten.
Zunächst wurde WWP das Amt des stellvertretenden Pressesprechers Jelzins angeboten. Putin lehnte ab und wurde Stellvertreter von Pawel Borodin, der Jelzins Präsidialamt leitete. Zu diesem Zeitpunkt akquirierte das Präsidialamt größere Finanzmittel für Renovierungsarbeiten im Kreml und in den vielen Datschas und Residenzen von Jelzin. WWP bekam erneut den verführerischen Duft frischer Valuta zu spüren. Und er sah neue Perspektiven. Das Leben begann von vorn, schon zum dritten Mal.
Jelzin gewann natürlich die Wahlen, und zwar teilweise aufgrund der mutigen, kreativen Ideen seines Wahlstabs. Bei der Generierung dieser Ideen spielten Leute wie der Ex-Präsident des Fernsehsenders NTW, Igor Malaschenko, und der später in Ungnade gefallene Oligarch Boris Beresowski die Schlüsselrolle. Dennoch dankte Jelzin seinen Erfolg vor allem der schonungslosen Manipulation der Abstimmungsergebnisse und der Billigung des furchtsamen Taugenichts und Top-Kommunisten Sjuganow, der die gefälschten Ergebnisse offiziell anerkannte.
Die Architekten von Jelzins Sieg, angeführt von Anatoli Tschubais, halten heutzutage der ganzen Welt gern Vorträge darüber, wie in Russland die Demokratie etabliert und eine totalitäre Revanche verhindert wurde. Wenn Sie bereit sind, ein ordentliches Sümmchen zu bezahlen, um sich einen solchen Vortrag anzuhören, dann sollten Sie Tschubais oder seine Kollegen unbedingt Folgendes fragen:
•Stimmt es, dass Jelzin im ersten Wahlgang in Wirklichkeit nicht mehr als 32 Prozent der Stimmen erhalten hatte und hinter Sjuganow zurückgeblieben war?
•Stimmt es, dass die Wahlkampagne 400 Millionen Dollar gekostet hat und Jelzin zwei Herzinfarkte einbrachte, von denen sich der Präsident nie wieder erholte, weil er fortan Geisel seiner schweren Erkrankung und damit seines Umfelds wurde, vor allem seiner Familie, die ihm als Nachfolger Wladimir Putin bescherte?