Kapitel 7: Auf der Suche nach einem Vater Teil 2 – Putin und die Familie Jelzin

Angeblich hatte sich Boris Jelzin immer einen Sohn gewünscht. Aber es hatte sich nicht ergeben, er bekam zwei Töchter. Deswegen suchte der erste russische Präsident seine Söhne nicht selten unter seinen Mitarbeitern. Eine Zeit lang war Alexander Korschakow ein solcher »Sohn«. Jelzin machte ihn innerhalb von drei Jahren vom Major zum Generalmajor. Ein weiterer »Sohn« war Walentin Jumaschew, ehemaliger Journalist der Zeitschrift Ogonjok, seit Ende der 1980er-Jahre Präsidentenbiograf und später auch Ehemann seiner Tochter Tatjana.

Jelzin, der sich unbewusst wie ein russischer Zar fühlte, wollte den Thron an einen »Sohn« weitergeben, einen Menschen der nächsten Generation, der nicht nur durch formelle Verpflichtungen und kühle Berechnung mit dem »Vater« verbunden wäre, sondern auch durch menschliche Nähe, die man, wie der russische Volksmund sagt, »nicht vertrinken kann«. Putin wiederum brauchte nach Sobtschaks Niederlage dringend einen neuen Vater. Und nun hatte er ihn gefunden.

Im Juli 1996 wurde Korschakow von Jelzin lautstark vor die Tür gesetzt. Dies erforderte die Logik des Wahlkampfes. Die Explosion des Apparates war ausgelöst worden durch die mittlerweile fast vergessene, aber damals das ganze Land erschütternde sogenannte »Kopierpapierkarton«-Affäre. Am Sonntag, den 19. Juni 1996 wurden zwei hochrangige Mitarbeiter aus Jelzins Wahlkampfstab, Sergei Lissowski und Arkadi Jewstafjew, auf einem Korridor des Regierungsgebäudes der Russischen Föderation mit einem großen Kopierpapierkarton der Firma Rank Xerox festgenommen, in dem sich fast 500 000 Dollar Schwarzgeld befanden.

Wie die Stempel auf den Banderolen zeigten, stammte das Geld aus der Nationalen Reservenbank, die damals die finanzielle Stütze von Gazprom darstellte und offenbar einer der informellen Sponsoren von Jelzins Wahlkampf war. Jewstafjew und Lissowski wurden in einen Raum der Wachmannschaft des Weißen Hauses gebracht, wo Korschakows Leute sie einem ersten Verhör unterzogen: woher das Geld stammte und wohin sie damit wollten. Auf diese Fragen hatten die beiden Männer aus Jelzins Wahlkampfstab keine Antwort, obwohl man sie ziemlich einschüchterte: Arkadi Jewstafjews Blutdruck stieg so stark an, dass man ihm eine Spritze geben musste. Es drohte ein großer Skandal um die Aneignung und Geldwäsche von Mitteln aus dem gigantischen Wahlkampfbudget des russischen Präsidenten (zur Erinnerung: Es waren 400 Millionen Dollar).

Es ist durchaus denkbar, dass Korschakow & Co. die Geschichte mit dem Kopierpapierkarton dafür nutzen wollten, um die Leitung des Wahlkampfstabes auszuwechseln und an die Schalthebel zu gelangen. Der »liberale« Flügel des Wahlkampfstabes wiederum sah die Vorfälle im Regierungsgebäude als schicksalhafte Bedrohung für sich selbst. Man kam zu dem Entschluss, nicht nur mit allen Mitteln für die Freilassung der Inhaftierten mit ihrem Geld zu kämpfen, sondern auch für die Amtsenthebung der »Gruppe Korschakow«.

Der Plan der »Liberalen« ging auf. Sie brauchten weniger als 24 Stunden, um den Status quo wiederherzustellen und die Mitstreiter abzuschütteln. Die Geschichte im Weißen Haus nannte man von nun an »die erfolgreichste Werbeaktion von Rank Xerox im postsowjetischen Russland«. Bald darauf leitete Tschubais die Kreml-Administration.

In den Jahren seines bedrückenden Niedergangs (1998/99), als Jelzin seinem Arbeitsplatz immer öfter unter dem Vorwand des »Dokumentenstudiums« fernblieb (dieser Satz wurde sprichwörtlich und ein Euphemismus für den traditionellen russischen Quartalssuff), musste er, wenn er bei Auslandsbesuchen entweder auf Teppichläufern ausrutschte (Usbekistan 1998) oder die Sonne unumwunden als Mond bezeichnete (China 1997), immer wieder an den entlassenen Korschakow denken.

Immerhin war Jelzin eine sehr vielseitige Persönlichkeit, wenn auch intellektuell beschränkt. Er war in der Lage, Fehler zu verzeihen, auch die eigenen. Deswegen erwog der Präsident 1998, seinen »Sohn« Korschakow zu seinem Nachfolger zu machen. Es hätte eine durchaus biblische Geschichte von der Rückkehr des verlorenen Sohns werden können, der zum Gnadenbrotempfänger eines Vaters wird, welcher sich der Widerwärtigkeit der Geschichte bewusst ist.

Derartige Aussichten jagten Jelzins Familie und den ihnen nahestehenden Unternehmern Angst und Schrecken ein. Mit Korschakows Rückkehr zur Macht wären alle unweigerlich Opfer seiner teilweise sicher blutigen Rache geworden. An diesem Punkt begann die rasche Designierung Putins als »kultivierte« Alternative zu Korschakow.

Putin kam der Jelzin-Familie und dem mit ihr verbundenen Kapital durch die Art seines Denkens gerade recht. Nichts an ihm war mehr sowjetisch, und er zeigte auch kein sowjetisches Herrschaftsgebaren. Putin wusste, wozu ein Staat da ist: damit jene, die durch den Willen des Schicksal an die Macht gekommen waren, sich ausgiebig bereichern können – ohne imperiales Getöne. Genauer gesagt, es hätte imperiales Getöne geben können, aber nur als Propagandamaßnahme zur Einlullung der am Syndrom rudimentärer staatlicher Macht leidenden russischen Volksmassen. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber da war noch etwas anderes. Jelzins Familie sah, in welchem Verhältnis Putin zu seinem ersten politischen Vater Sobtschak gestanden hatte und immer noch stand. Ein solches Verhältnis stellte tatsächlich ein gewisses Risiko dar, denn Sobtschak war nicht nur Opfer des maßvoll beflissenen Korschakows, sondern auch des im Zorne schrecklichen Boris Jelzins geworden. (Wie man weiß, ist der Bär das schrecklichste aller Raubtiere: Er brüllt nicht und fletscht nicht die Zähne, sondern lächelt den Dompteur an, doch dann schlägt er unerwartet mit der Tatze zu und zerschmettert ihm den Schädel. Ein solcher Bär war Jelzin.) Die Jelzins hofften, dass alle Interessen ihres Vaters und seiner Familie, im direkten und erweiterten Sinne, voll und ganz gewahrt würden. Ihre Intuition sollte sie nicht trügen.

1998 wurde Putin Direktor des FSB der Russischen Föderation, 1999 gleichzeitig Sekretär des Sicherheitsrats, einer nutzlosen, aber angesehenen Struktur, die es ihm ermöglichte, ein Büro im Kreml zu unterhalten und für den Präsidenten aus allen möglichen nichtigen Anlässen Spickzettelchen zu schreiben.

Viele, darunter auch der Autor dieser Zeilen, sind davon überzeugt, dass Jelzin in den letzten Lebensjahren von seiner Familie absichtlich mit allen möglichen Sedativa und sonstigen Präparaten gefüttert wurde, die zu einer Medikamentenabhängigkeit führten und damit den Menschen kontrollierbar machten, der, wenn auch mit angeschlagener Gesundheit, doch immer noch einiges Porzellan zerdeppern konnte. Der vorgezogene Rücktritt Jelzins am 31. Dezember 1999 sollte Putin nicht nur den raschen Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2000 sichern, sondern auch die ewige Angst vor den Kapriolen des »Opas« bannen – dass er zum Beispiel seinen Nachfolger Putin verjagt und sich einen neuen »Sohn« sucht.

Загрузка...