Die aktive Suche nach einem Nachfolger begann Anfang 1999, als offensichtlich wurde, dass Jelzin aus gesundheitlichen Gründen eine dritte Amtszeit nicht mehr durchstehen würde. Ein Tandem Primakow–Luschkow als Kollektivnachfolger war unannehmbar, weil sie sich Jelzin nicht verpflichtet gefühlt und seine Familie (im weiten Sinne dieses Wortes) vernichtet hätten – wirtschaftlich und dann vielleicht auch physisch.
Zunächst schlug Roman Abramowitsch, der zu diesem Zeitpunkt Boris Beresowski aus der Nische des Schatzmeisters des Jelzin-Clans verdrängt hatte, den Verkehrsminister Nikolai Aksjonenko als Nachfolger vor. Aber Aksjonenko passte aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht. Einer von ihnen war, dass der Nachname eines russischen Präsidenten nicht auf »o« enden darf, denn dieser verräterische Buchstabe zeigt zumeist eine ukrainische Herkunft an. Daraufhin tauchte der erste Vize-Ministerpräsident und Innenminister der Russischen Föderation Sergei Stepaschin auf, der Jelzin den Großteil seiner Karriere innerhalb der Föderation zu verdanken hatte.
Aber Stepaschin, der im Mai 1999 Ministerpräsident und damit der Fast-Nachfolger geworden war, erlaubte sich grobe Verstöße gegen die Konventionen der Jelzin-Familie. Er stand in engem Kontakt zu Primakow, Luschkow und dem sie unterstützenden Medien-Magnaten, dem Inhaber des Fernsehsenders NTW Wladimir Gussinski. Damit gab er zu verstehen, dass er großzügige Ansichten vertrat und bereit war, sich mit allen zu einigen. Das gefiel dem Kreml und der Jelzin-Familie ganz und gar nicht.
Obwohl Stepaschins Umfragewerte im August 1999 20 Prozent überstiegen, was es durchaus ermöglichte, den damaligen Anführer des virtuellen Wahlrennens Primakow herauszufordern, ernannte Jelzin am 9. August 1999 Wladimir Putin – den unbekannten Tschekisten mit seinen betont bescheidenen Manieren und dem Hundeblick – zum neuen Ministerpräsidenten und rief ihn bereits offiziell zu seinem Nachfolger aus.
1998/99 hatte Wladimir Putin der Familie Jelzin mehrmals bewiesen:
a) seine einmalige Ehrenhaftigkeit (gemessen an seiner Umgebung und deren bestialischen Spielregeln);
b) seine Zuverlässigkeit, die fast an einen Verlust des Selbsterhaltungstriebs grenzt.
Als die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation 1998 unter Duldung von Jelzin beschlossen hatte, Sobtschak zu verhaften, organisierte Putin für ihn einen Privatjet und brachte ihn nach Paris, wo er bis zum Herbst 1999 in aller Ruhe abwartete, wann man ihn nach Russland zurückholen würde, um ein Vertrauter des Präsidentschaftskandidaten WWP zu werden.
Doch die höfische Geschichtsschreibung unterschlägt eine andere Tatsache. Anfang 1999 beschloss Jelzin, Generalstaatsanwalt Juri Skuratow seines Amtes zu entheben. Dieser hatte ein allzu freies Spiel begonnen und sich insbesondere für die Auslandskonten von Familienmitgliedern des russischen Präsidenten interessiert, und zwar in der Hoffnung, der neue Präsident der Russischen Föderation könne der bereits gealterte, doch immer noch muntere und beliebte Ministerpräsident Jewgeni Primakow werden. Skuratow wurde heimlich in einer konspirativen Wohnung mit Prostituierten gefilmt, aber selbst in dieser Situation wollte der von Primakow und dem Sprecher des Föderationsrats Jegor Strojew ermutigte Generalstaatsanwalt seinen Posten nicht räumen.
Es war Putin, der Skuratow zum Rücktritt zwang, indem er ihn persönlich mit einem Revolver bedrohte. Später bat Putin in seiner Funktion als Ministerpräsident – anstelle des alten, kranken und (in jederlei Hinsicht) tödlich nervenden Jelzin – den Föderationsrat, Skuratow zu entlassen, und der Senat stimmte glückselig zu.
Diese Heldentaten erhöhten Putins Chancen auf Jelzins Nachfolge erheblich. Alle Figuren, die sich auf demselben Niveau befanden wie er, versuchten zwischen den verschiedenen Machtzentren zu lavieren und hatten dabei den über Russland dräuenden, mächtigen Alten Primakow und seinen Partner, den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, im Sinn. Nicht so Putin. Er blieb seinen politischen Vätern uneigennützig treu und erhielt dafür den Hauptpreis, einen Preis, den er vielleicht gar nicht wollte, weil er stattdessen von etwas Bescheidenerem, aber dafür weniger Schrecklichem geträumt hatte.
Viele einflussreiche Vertreter der Landeselite, zum Beispiel der mächtige informelle Anführer des »liberalen« Lagers Anatoli Tschubais, stellten sich gegen Putins Kandidatur und versuchten Jelzin bis zum Schluss zu überreden, auf Stepaschin zu setzen. Aber die Jelzin-Familie, die Putin endgültig durchgesetzt hatte, erwies sich als stärker. Ihnen war das Hemd näher als der Rock.
Dennoch blieb Tschubais unter Putin nicht nur ein Mitglied der Elite, sondern auch ein einflussreicher, dem Staat nahestehender Geschäftsmann. Bei der Privatisierung vergoldete er das Energiemonopol von Unified Energy System, danach leitete er Rosnano, das für die Ableitung von Finanzmitteln aus den durch Erdöleinnahmen gemästeten föderalen Budgets gedacht war, und zwar unter dem Vorwand der Entwicklung und Einführung der sogenannten Nanotechnologien.
Auch das zeigt, dass Putin durchaus nicht so blutrünstig und rachsüchtig ist, wie ihn seine Freunde und die meisten seiner Feinde darstellen.
Am 9. August 1999 rollte die Lawine eines Sommergelächters durch Moskau. Niemand glaubte, dass Putin als Nachfolger irgendwelche Chancen habe. Die Mehrheit der staatlichen und gesellschaftlichen Vertreter äußerte gegenüber den Medien, Jelzin habe Putins politische Karriere aufgegeben. Seine Entscheidung über den Nachfolger wurde als trunkenes Gefasel gewertet, das zum Symbol und Maß der letzten Jahre seiner Herrschaft geworden war.
Mein Gott, wie sie sich irrten!
Am 16. August bestätigte die Staatsduma ohne Probleme Putin für den Posten des Ministerpräsidenten. Der glamouröse Weg von WWP in der neueren Geschichte des Landes und der Welt hatte seine wichtigste und brillante Wendung genommen, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht allen klar war.
Übrigens war die Operation »Nachfolger« keine leichte Übung gewesen. Denn ursprünglich hatte Putin bei den Umfrageergebnissen deutlich hinter Primakow gelegen, der wirklich gedacht hatte, er könne mit der Unterstützung von Luschkow und einer Reihe anderer einflussreicher Gouverneure Präsident werden. Der Vorschlag, den Primakow Jelzin machte, lautete so: eine Amtsperiode für mich, einen betagten, nicht sonderlich gesunden, aber immer noch vom Volk geliebten Mann, und dann ist Stepaschin an der Reihe (den der erste Präsident ebenfalls bereits abgelehnt hatte). Jelzin war beleidigt. Und er war fest entschlossen, Putins Kandidatur durchzudrücken.
Dafür geschah Folgendes:
•in Moskau wurden Häuser in die Luft gesprengt;
•der Zweite Tschetschenien-Krieg wurde entfesselt;
•man holte den anrüchigen Geschäftsmann Boris Beresowski aus der französischen Verbannung, der damals einen großen informellen Einfluss auf den Ersten Fernsehkanal (ORT) ausübte. Beresowski sollte mithilfe des bekannten »Fernsehkillers« Sergei Dorenko die Reputation des Duos Primakow/Luschkow schädigen. (Später, als man Beresowski nicht mehr brauchte, wurde er wieder aus Russland vertrieben – diesmal für immer.)
Als Putins Umfragewerte Anfang Dezember 1999 die heiß ersehnten und unabdingbaren 52 Prozent erreichten, stand die Entscheidung fest: Jelzin geht am 31. Dezember vorzeitig in den Ruhestand, die Präsidentschaftswahlen finden entsprechend nicht im Juni 2000, sondern drei Monate früher im März statt. Warum wurde das getan? Erstens, um nichts »zu verschütten«: Unter dem Einfluss unvorhersehbarer Faktoren hätten die Umfrageergebnisse des Nachfolgers leicht fallen können, und der ewige Sjuganow musste unbedingt im ersten Wahlgang besiegt werden, damit an der Legitimität des Novizen Wladimir Putin in der großen Politik niemand zu zweifeln wagte – weder in Russland noch im internationalen Maßstab. Zweitens – und das ist meiner Meinung nach der Hauptgrund – sollte Jelzin, der immer auf den politischen Erfolg anderer neidisch gewesen war, keine Gelegenheit mehr bekommen, es sich anders zu überlegen und einen anderen Nachfolger auszugraben, der für die Familie weniger annehmbar gewesen wäre.
Putin wurde am 14. März 2000 Präsident, und er ist es bis zum heutigen Tag. Eine halbe Ewigkeit!