Kapitel 12: Chodorkowski – mein liebster Feind

Wie wir bereits gesehen haben, war Putin nie sonderlich hart gegen seine realen und erst recht nicht gegen die imaginären Feinde. Nehmen wir Michail Kassjanow, russischer Ministerpräsident von 2000 bis 2004. Im Jahr 2006 trat er wieder mit einigen scharfen, putinkritischen Äußerungen in Erscheinung und wurde einer der Gründer der radikaloppositionellen, gesellschaftlichen Bewegung »Anderes Russland«. Deren Hauptlosung lautet »Russland ohne Putin«. Im Jahr 2012 unterstütze er offen den amerikanischen Magnitsky Act, der bei Putin einen Empörungssturm auslöste. Was war los mit Kassjanow? Er verlor seine Datscha von 11 Hektar in der Nähe von Moskau, die von Putin 2004 privatisiert wurde. Das war alles. Andere Annehmlichkeiten hingegen blieben unberührt, auch seine Freiheit und Unabhängigkeit. Oder nehmen wir Boris Nemzow, den ehemaligen Gouverneur der Provinz Nischny Nowgorod (1991 bis 1997) und ersten Vize-Ministerpräsident der föderalen Regierung Russlands (1997 bis 1998), Ex-Favorit und Beinahe-Nachfolger von Boris Jelzin. Schon viele Jahre betitelt er Putin als Diktator und Tyrann. 2008 bis 2009 folgten kritische Vorträge unter der Bezeichnung »Putin. Ergebnisse«. Folgen hatte dies keine für ihn. Vielmehr lebte er wie die Made im Speck und ist außerdem mit durchaus systemtreuen Oligarchen wie Michail Fridman oder Michail Prochorow befreundet. Chodorkowski ist die Ausnahme.

2003 wurde er verhaftet. 2005 wurde er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, 2011 zu weiteren dreizehn Jahren (unter Anrechnung der bereits verbüßten). Sein Unternehmen JUKOS meldete in juristisch zweifelhafter Weise Ende 2006 Bankrott an, und seine Aktiva gingen faktisch kostenlos an Rosneft. Chodorkowski soll angeblich im August 2014 entlassen werden, aber sicher ist das nicht.

Chodorkowski muss unter unmenschlichen Bedingungen ausharren, die ein heutiger Europäer nicht überleben würde. 2003 bis 2005 und 2009 bis 2011 saß Chodorkowski in Moskau im Untersuchungsgefängnis Matrosskaja tischina, 2005 bis 2009 in Krasnokamensk, einer mikroskopisch kleinen und halb zerstörten Stadt 9 000 Kilometer von Moskau entfernt, fast an der Grenze zu China. Mittlerweile sitzt er in Karelien, unweit der finnischen Grenze, in der Siedlung Segescha. Zusammen mit MBCh hatte außerdem ein Dutzend Manager von JUKOS zu leiden, vor allem natürlich Platon Lebedew, der wichtigste Finanzexperte der einst größten Erdölfirma Russlands. Lebedew wurde ebenfalls zu dreizehn Jahren Gefängnis verurteilt. Den gesamten unerträglichen Weg durch die Gefängnisse ist er zusammen mit Chodorkowski gegangen.

Im Jahr 2013 hatten wir zwei Jubiläen: der fünfzigste Geburtstag von Michail Chodorkowski (im Juni) und der zehnte Jahrestag seiner Verhaftung (im Oktober) sowie des Falls JUKOS überhaupt. Deswegen ist es heute sinnvoll, auf diese zehn Jahre zurückzublicken und genauer zu fragen: Was war da eigentlich los? Wie kam es zum Fall JUKOS, und welchen Gesetzmäßigkeiten unterlag (und unterliegt) er?

Einige Beobachter der Affäre sind durchaus geneigt, den Autor dieser Zeilen zu den Initiatoren der Hetze gegen Chodorkowski & Co. zu zählen, wobei sie sich auf einen Bericht des Rats für Nationale Strategien mit dem Titel »Der Staat und die Oligarchie« berufen, der im Mai 2003 veröffentlicht wurde. Der Rat für Nationale Strategien ist eine gesellschaftliche Organisation, die vom Autor dieser Zeilen zusammen mit neunzehn weiteren russischen Politologen 2002 gegründet wurde. Der Bericht »Der Staat und die Oligarchie« beschreibt das System der Beziehungen zwischen der föderalen Macht und dem Großkapital. Unter anderem ist darin die Rede von den Plänen zu einer Transformation Russlands in eine parlamentarische Republik und einer Verminderung der Präsidialmacht, zu der MBCh oder zumindest seine nähere Umgebung im Verhältnis standen. (Davon bin ich auch heute, nach zehn Jahren, überzeugt.)

Platon Lebedew wurde am 2. Juli, Michail Chodorkowski am 25. Oktober 2003 festgenommen. Das war kurz nach der Veröffentlichung des besagten Berichts, weswegen einige bis heute nicht müde werden zu behaupten, »Belkowski hat Chodorkowski hinter Gitter gebracht«. Ich betone: Diese Auffassung ist völlig falsch und wurzelt vor allem darin, dass der Bericht seinerzeit viel Lärm auslöste und verurteilt wurde, obwohl nur wenige ihn gelesen haben. Das heutige Russland kann keine langen Texte ertragen.

Dennoch: Wer, wenn nicht ich, kann eine retrospektive Analyse dessen leisten, was mit Chodorkowski und seinem Umfeld in diesen zehn Jahren geschah? Ich werde versuchen, einige häufige Fragen aufzugreifen und meine Antworten darauf zu geben.

War Chodorkowskis Verfolgung politischer Natur? Hatte MBCh deswegen zu leiden, weil er die russischen oppositionellen Parteien finanziell unterstützte, wie einige Beobachter behaupten?

Ja und nein.

Argumentiert man mit den Begrifflichkeiten der offiziellen Politik (Parlamentswahlen, Finanzierung der Opposition und so weiter), dann handelt es sich um eine unpolitische Angelegenheit. MBCh half der linksliberalen Opposition in der Partei Jabloko in Abstimmung mit dem Kreml und der rechtsliberalen Union der rechten Kräfte (SPS) sowie den Kommunisten geradezu auf Initiative des Kremls.

Dabei verkündete Chodorkowski am 18. April 2003 in einer offiziellen Erklärung, die über die Kanäle der Nachrichtenagenturen verbreitet wurde, dass er als Bürger der Russischen Föderation beabsichtige, die »Partei der Macht«, also »Einiges Russland«, zu unterstützen. Damit war gemeint, dass die Opposition (auch wenn sie innerhalb des Systems agiert und sich loyal verhält) ein nicht obligatorisches Dessert darstellt, während man das Hauptgericht, die politische Stütze des Kremls, nicht zurückweist.

Der Kreml brauchte damals diese alternative Finanzierung der rechtsliberalen SPS, um den monopolistischen Einfluss von Anatoli Tschubais auf die von ihm gegründete Partei zu unterlaufen. Und was die KP der Russischen Föderation anbelangt, so hatte die föderale Macht von Ende 2002 bis Anfang 2003 zwei ungerechtfertigte Befürchtungen gegenüber den Kommunisten.

Erstens gab es die Sorge, die Kommunisten könnten bei den Wahlen zu viele Stimmen erhalten, zum Beispiel 30 Prozent oder mehr, was der KP unerwünschte Chancen gegeben hätte, mit dem Kreml um Regierungsposten zu feilschen. Aus diesem Grund entstanden in den Köpfen der machtnahen Denker verschiedene monströse Denkgebäude wie »Putin muss die KP anführen« – im April 2003 veröffentlichte der bekannte kremlnahe Intellektuelle Witali Tretjakow einen programmatischen Artikel dieses Inhalts in der Rosskijskaja gaseta.

Die zweite Befürchtung lag darin, die Kommunisten könnten Gelder von dem in Ungnade gefallenen Oligarchen Boris Beresowski erhalten. Verhandlungen dieser Art gab es tatsächlich seit Herbst 2002. Später behaupteten die Vertragspartner, ihnen sei das verfluchte Geld von Beresowski egal gewesen, sie wollten nur den Kreml provozieren, damit der ihnen schnellstens einen »genehmigten« Sponsor schickt.

Um beide Befürchtungen zu entkräften, musste die Kontrolle über die KP hinsichtlich Organisation und Finanzen verstärkt werden. Und genau darum bat man nun MBCh, der seine Vertreter in das Lager der Kommunisten geschickt hatte und auf ihre Kandidatenliste vorgedrungen war: mit dem ehemaligen JUKOS-Präsidenten Sergei Murawlenko und dem Veteran der politischen Fahndung Alexei Kondaurow. Offiziell nannte man das: »Sie beteiligen sich aus eigener Initiative am Kommunismus und tragen die Kosten selbst.«

Von dieser Zeit an begann Alexander Prochanow, der Chefredakteuer der linksnationalen Zeitung Zavtra, Objekte von JUKOS aufzusuchen und wortreiche Artikel im Geiste von »nicht blut-, sondern ölbefleckt« zu schreiben. Es war also ursprünglich nicht nur Woloschin, sondern auch Wladimir Putin, der die Finanzierung der Kommunisten legalisierte. Andererseits zog Putin im Herbst 2003 seine Zustimmung zurück, was wiederum nicht der Grund, sondern nur der Anlass der verstärkten Attacken auf MBCh und sein Geschäftsimperium war.

Wenn man jedoch das schicksalhafte Jahr 2003 durch die Lupe des politischen Apparates betrachtet, ist der Fall Chodorkowski ein klar politischer, denn er steht in direkter Verbindung mit den Spielen der politischen Hinterzimmer – einem Schlüsselelement der russischen Politik damals und heute.

Zu Beginn des Jahres 2003 wurde denen, die Putin auf den Thron gebracht hatten (Alexander Woloschin, die Familie Boris Jelzins und andere), klar, dass einige »Tschekisten aus Petersburg«, die der zweite Präsident aus seinem Verschlag hervorgeholt hatte, gefährlich an Stärke gewannen. Anfangs hatte man diese Leute nicht sonderlich ernst genommen. An der Macht befand sich de facto ein reines »Familienkommando«. Putin spielte eher eine repräsentative Rolle und war der »mongolische Kosmonaut«, dem man eingeschärft hatte, ja nicht auf die falschen Knöpfe zu drücken, damit kein Alarm ausgelöst werde.

Dennoch kamen in Russland seit Januar 2000, als WWP die wichtigsten Büros des Kreml bezog, Dutzende »Enkel von Karl Marx« zum Vorschein: Es handelte sich um Kommilitonen, Freunde und Verwandte des neuen Präsidenten. Doch diesen Schwindlern gelang es nicht, sich durch ihren Überfall irgendetwas von Wert unter den Nagel zu reißen. Und selbst Putins Durchbruch bei den Kaderentscheidungen im März 2001 änderte wenig am Erscheinungsbild des politischen Apparats.

Ein jähes Aufleben des Lobbyismus unter Putins Mannschaft vollzog sich im Frühjahr 2002, als der Inhaber der Meschprombank, Sergei Pugatschow (bekannt für seinen langen Bart und seine Gefängnisvergangenheit als »russisch-orthodoxer Bankier«), sich im Bündnis mit dem Präsidenten der Erdölfirma Slawneft, Michail Guzerijew, diese Firma plötzlich aneignen wollte. Dabei sollte sie nach dem staatlichen Plan des Systems gar nicht ihm, sondern Roman Abramowitsch zukommen, über dessen tatsächlichen und im Laufe der Zeit unveränderten Einfluss auf Putin wir ja bereits sprachen. Es wurde schnell und hart für Ordnung gesorgt: Man ließ Pugatschow abblitzen, Guzerijew verlor seinen staatlichen Posten, und Slawneft kam in die ihr zugedachten Hände – in die von Abramowitsch.

Woloschin & Co. konnte der interne Aufstieg einiger Figuren, die für die »Familien«-Gruppe völlig nutzlos und deshalb unannehmbar waren, nicht kaltlassen. Vor allem betraf das Igor Setschin, den Chef der Präsidentenkanzlei. Dieser Mann hatte als langjähriger Vertrauter Putins und dessen engster Mitarbeiter in den Jahren der Bürgermeisterschaft in Sankt Petersburg den Präsidenten immer mehr in seine verführerischen Netze gelockt. Oder Juri Saostrowez, stellvertretender Direktor des FSB für wirtschaftliche Sicherheit, der es zu diesem Zeitpunkt ernsthaft auf den Posten des Vorsitzenden des Staatlichen Zollkomitees (GTK) der Russischen Föderation abgesehen hatte.

Auf diese Weise entstand die Idee für einen Spielzug, der Wladimir Putin zwingen würde, seine übereifrigen Vertreter staatlicher Machtorgane aus dem großen Spiel zu entfernen. Ihr unverändert induktives Denken hatte der Kreml-Leitung einen üblen Streich gespielt: Wenn jemand in der Vergangenheit gut gearbeitet hat, dann tut er es auch jetzt. Schließlich wurde das Szenario von 1996 gewählt, das unter dem Arbeitstitel »Kopierpapierkarton« in die Geschichte eingegangen ist: Zunächst wird die Situation hochgekocht, es entsteht die Gefahr einer Diskreditierung des Präsidenten im Einzelnen und der Macht im Ganzen, wonach das Staatsoberhaupt die einzig richtigen Kaderentscheidungen fällt.

Aber zur Realisierung dieses Spielzugs brauchte man einen neuen Kopierpapierkarton, genauer gesagt, einen Rammbock. Man musste einen starken Spieler finden, der die Aufmerksamkeit Putins und der Welt auf die Unannehmbarkeit der neuen Träger verborgener Macht richtet und sich damit dem Beschuss stellt. Für die Rolle des Rammbocks wurde Michail Chodorkowski ausgewählt.

Ich meine keineswegs, dass MBCh von der Mannschaft Woloschin/Abramowitsch ganz bewusst hinter Gitter gebracht wurde. Natürlich nicht. Sie waren aufrichtig davon überzeugt, Chodorkowski würde nichts geschehen, denn das war nach den Spielregeln einfach nicht möglich. Auf jeden Fall würde er nicht ohne Woloschins Zustimmung hinter Gitter kommen, er war schließlich an allen Entscheidungen dieser Größenordnung beteiligt. Was daraus wurde, wissen wir. Man wollte den Eigentümer von JUKOS als Schwergewicht benutzen, das Igor Setschin niederreißen sollte. Aber es kam ein wenig anders: Setschin konnte sich ducken, das Gewicht schnellte über seinen Kopf hinweg, schlug mit großem Krach gegen die Wand und traf beim Rückschlag Woloschin.

Das jedoch geschah erst im Herbst 2003. Anfang des Jahres sah für MBCh und seine Freunde alles viel rosiger und optimistischer aus. Man bereitete die Übernahme des von Abramowitsch kontrollierten Sibneft durch JUKOS vor. Parallel dazu wurde entschieden, dass Chodorkowski von kremlnahen Freunden belastendes Material über Putins engstes Umfeld erhalten und es veröffentlichen sollte. Unter anderem sollte er es dem Präsidenten direkt ins Gesicht schleudern.

Der Machtapparat würde die Zähne fletschen, und dann ginge es nach dem Szenario von 1996 weiter: Putin müsste wählen zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Fortschritt und Korruption, zwischen der »transparentesten« Firma des Landes und den düsteren Geschäftemachern von Rosneft und dergleichen – im Großen und Ganzen also zwischen der Festigung seines guten Rufs bei den Eliten und damit gleichzeitig auch auf internationaler Ebene und dessen hoffnungsloser Schädigung. Putin ist klug, er musste das Erste wählen. Der Sieg gehört uns.

Zu Chodorkowski passte die Rolle des Rammbocks geradezu ideal. Jung, gutaussehend, reich, mit offensichtlich aufkeimenden, aber noch nicht ausgereiften politischen Ambitionen. Von Politik verstand er gar nichts, wollte sich aber bereits ins Gefecht stürzen. Ein solcher Mensch war über seine Bereitwilligkeit gut zu lenken.

Wäre es nicht auch ohne Rammbock gegangen? Nein, er war technisch notwendig. Es gibt Fragen, die im direkten Dialog unter vier Augen weder erörtert noch gelöst werden können. Woloschin und Abramowitsch konnten ihre Freundschaft mit Putin nicht aufs Spiel setzen. Sie mussten auf dem Höhepunkt des Konflikts aus dem Hinterhalt gesprungen kommen, nicht früher.

Verschiedene Beobachter haben davon gesprochen, dass MBCh Opfer seiner Pläne einer Umwandlung Russlands in eine parlamentarische Republik geworden ist. Ich denke, dass die Bedeutung dieses Faktors stark überschätzt wird. Dennoch bin ich von zwei Dingen überzeugt:

•Derartige Pläne wurden unter den Fittichen von JUKOS tatsächlich ausgearbeitet. Auf jeden Fall gingen bis zum 2. Juli 2003, dem Tag der Verhaftung von Platon Lebedew, Dutzende der Firma eng verbundene Vertreter durch Moskau und erzählten überschwänglich von einer kommenden Mehrheit im Parlament und Chodorkowski als Ministerpräsidenten. Nach dem 2. Juli wurden derartige Gespräche sofort eingestellt.

•Die Idee, dass Chodorkowski Ministerpräsident in einer halbparlamentarischen Republik werden könnte, stammte auch von der damaligen Präsidentenadministration – man musste die Idee an einem Versuchskaninchen ausprobieren.

Die Situation spitzte sich am 19. Februar 2003 zu, als Chodorkowski bei einer Zusammenkunft des Russischen Industrie- und Unternehmerverbandes mit dem Präsidenten im Kreml völlig durchschaubar auf die Rückläufe (Schmiergelder) anspielte, die im Zusammenhang mit dem Aufkauf von Rosneft durch die vergleichsweise kleine Erdölfirma Sewernaja Neft geflossen waren. Als Käufer war der Senator Andrei Wawilow in Erscheinung getreten.

Bei einem Marktpreis von etwa 150 Millionen Dollar ging Sewernaja Neft für ganze 400 Millionen über den Tisch, was verständlicherweise einige Gerüchte und unschöne analytische Einschätzungen aufkommen ließ. Putin reagierte geradezu rasend auf MBChs Worte. Denn Wladimir Putin ist ja ein durchaus gerechtigkeitsliebender Mensch, er lebt nach »Grundsätzen« (was dem Begriff der Moral im Gaunerjargon gleichkommt) und bemüht sich, diese nie zu verletzen. Faktisch gab er Chodorkowski folgende Antwort:

Verehrter Michail Borissowitsch! Sie machen die Andeutung, meine Leute hätten etwas gestohlen. Das kann schon sein. Aber haben Sie Ihr JUKOS etwa bei einer ehrlichen Auktion nach marktüblichen Preisen ersteigert? Nein! Ihr JUKOS ist mittlerweile 40 Milliarden Dollar wert. Und wenn meine Leute etwas stibitzt haben, dann waren es lächerliche 200 bis 250 Millionen. Wir befassen uns hier aber nicht mit einer Revision der »großen Privatisierung«. Wir wachen über unsere gemeinsamen Interessen. Auch über Ihre, Michail Borissowitsch. Wenn ich mich nicht irre, hat Ihnen in den drei Jahren meiner Präsidentschaft niemand vorgeschlagen, Sie mögen mich an Ihrem Besitz teilhaben lassen. Ich habe mich nicht in Ihre Geschäfte eingemischt, oder? Warum stecken Sie dann Ihre Nase in meine Geschäfte, mit denen Sie nicht das Geringste zu tun haben? Lassen Sie uns Klartext reden. Entweder sind wir alle ehrliche Leute: Sie, ich und auch Setschin. Und wir schauen dem anderen nicht auf die Finger. Oder wir sind alle Diebe und Gauner. Aber dann werde ich beweisen können, dass auch Sie ein Dieb und Gauner sind, diese Möglichkeiten habe ich.

Das war die Message, die er aussandte. Sie wurde nicht gehört, weder von Chodorkowski noch von denen, die ihn als Rammbock gebrauchten. Sie alle waren Geiseln ihres wohlklingenden Szenarios und glaubten, alles würde gut gehen. Denn es schien, als hätten sie Geist und Moral auf ihrer Seite. Wie sich aber dann herausstellte, ist es nicht immer gut, wenn man den Geist auf seiner Seite hat. Ein entwickeltes Gehirn drückt nicht selten auf das Entscheidungszentrum. Und was die Moral betraf, war Putin der gegenteiligen Auffassung. Im Unterschied zu Jelzin war Putin kein alter sowjetischer Parteiarbeiter, sondern ein junger, gieriger Geschäftsmann. Er wollte nicht auf derart primitive Weise manipuliert werden.

Chodorkowski kam ins Gefängnis und wurde Opfer des Kampfes um die Macht zwischen den zwei einflussreichsten Gruppierungen des russischen Machtapparats in seiner Zusammensetzung des Jahres 2003. In diesem Sinne ist der »Fall JUKOS« zweifellos ein politischer.

Warum kam MBCh eigentlich ins Gefängnis?

Aus meiner Sicht hat er einfach nichts dagegen unternommen, dass man ihn einsperrt, obwohl er Schlimmeres hätte verhindern können.

Nach der ersten Zuspitzung des Konflikts am 2. Juli 2003, dem Tag der Verhaftung von Platon Lebedew, hatte Chodorkowski noch unbestimmt lange Zeit (mindestens einige Monate), um eine Einigung zu erzielen und den politischen Konflikt in eine Art Wirtschaftspakt innerhalb des Machtapparats zu verwandeln.

Aber offenbar war MBCh nicht an einer Einigung interessiert. Erstens schätzte er die Wahrscheinlichkeit seines Sieges in diesem Konflikt sehr hoch ein, und zwar wiederum kraft des Gefühls der geistigen und moralischen Überlegenheit. Aber das war es nicht allein. Wenn man sein jahrelanges Verhalten berücksichtigt, ist Chodorkowski ein Mensch, der bei seiner Vorgehensweise stets überdenkt, inwieweit seine physischen und sonstigen Kräfte für einen Sieg ausreichen. Auf seiner Seite standen damals der Leiter der Präsidentenadministration Woloschin und der Ministerpräsident Kassjanow. Das war eine ausreichend starke Rückendeckung, um den Kampf fortzusetzen.

Außerdem herrschte in MBChs Umgebung eine andauernde journalistische Hysterie zum Thema: Kein Schritt zurück! Der Feind wird besiegt! Die Atmosphäre, die diese Hysterie hervorgebracht hatte, spielte ebenfalls eine Rolle für das, was dann mit JUKOS geschah, sowie für die Entscheidungen der Noch-Eigentümer.

Zweitens schien sich Chodorkowski wirklich nicht vorstellen zu können, dass man einen Mann mit seinen Einflussmöglichkeiten und seinem Bekanntheitsgrad hinter Gitter bringen kann. Auf jeden Fall so lange nicht, wie Woloschin im Kreml bliebe. Man muss Chodorkowski deswegen auch nicht den Vorwurf der Naivität machen: Die meisten Vertreter der russischen Elite dachten damals so. Chodorkowski und Woloschin hatten den Gegner ein wenig unterschätzt, nicht hinsichtlich seines Verstands oder seiner Weisheit, sondern was seine Fähigkeit anbelangte, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.

Igor Setschin und der ihm in dieser Zeit nahestehende Generalstaatsanwalt Russlands, Wladimir Ustinow (Setschins Tochter war mit Ustinows Sohn verheiratet), wussten genau: Man musste Putin nicht fragen, ob Chodorkowski hinter Gitter sollte oder nicht. Zunächst musste man die Sache hinter sich bringen, dann konnte man das Ergebnis verteidigen. Denn die defensive Vorgehensweise ist für den zweiten Präsidenten der Russischen Föderation psychologisch viel organischer als die offensive.

So kam es zu der Situation vom 25. Oktober 2003. Die Verhaftung fand nicht zufällig am frühen Samstagmorgen am Flughafen der Stadt Nowosibirsk statt, deren Zeitzone um vier Stunden von der Moskaus abweicht. Man musste MBCh festnehmen, wenn in Moskau tiefe Nacht und Wochenende war, er also kaum eine Möglichkeit hatte, sich mit jemandem in Verbindung zu setzen und etwas zu ändern.

Hätte sich Chodorkowski nach seiner Verhaftung mit dem Kreml verständigen und das Gefängnis wieder verlassen können?

Theoretisch ja. Praktisch nein.

Indem er ihm den härtesten Schlag verpasste, war Setschin einfach verpflichtet, die Sache zu Ende zu führen, das heißt bis zur völligen Vernichtung von JUKOS und seinem Besitzer. Er handelte streng nach Machiavelli (auch wenn er ihn nicht gelesen hatte): »Man soll den Menschen entweder schmeicheln oder sie sich unterwerfen, denn wegen leichter Demütigungen rächen sie sich, wegen schwerer vermögen sie es nicht. Also muss der Schaden, den man jemand anderem zufügt, so groß sein, dass man keine Rache zu befürchten hat.«

Außerdem wurde Chodorkowski der Weg unfreiwillig durch einen anderen Oligarchen mit politischen Ambitionen versperrt – Wladimir Gussinski. Wie wir uns erinnern, hatte er 2000 im Butyrka-Gefängnis das geheime »Protokoll Nr. 6« über die Übergabe aller seiner Medienaktiva an den Staat im Tausch gegen die Freiheit und eine nicht unbedeutende Summe von 300 Millionen Dollar unterschrieben. Nach seiner Freilassung distanzierte er sich umgehend von dieser Absprache, machte das Geheimprotokoll allgemein bekannt und beschuldigte den Staat der Russischen Föderation faktisch der Abzocke. Und dann gewann er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch noch den Prozess gegen Russland. Putins Leute wollten im Fall JUKOS also nicht in dieselbe Falle tappen wie bei Gussinski.

Selbstverständlich tauchte bald nach MBChs Verhaftung eine Zahl von Vermittlern auf: Sie erdachten verschiedene Möglichkeiten, wie man die Situation entschärfen könne (auf der Grundlage feingesponnener politischer Intrigen innerhalb des Apparats). Zu ihnen zählten nicht nur kleine Gauner, sondern auch einflussreiche, reiche oder zumindest bekannte Leute. Zum Beispiel Wladislaw Surkow, der damals für die Innenpolitik des Kreml verantwortlich war und noch Ende 2003 ernsthaft meinte, er könne Putin zu einem Akt des Erbarmens bewegen (wofür er nur 30 Prozent von JUKOS beanspruchte, nicht mehr). Ebenso gehörte Wladimir Gussinski dazu, der MBCh riet, zu schweigen, nichts aufzuschreiben oder öffentlich zu verlautbaren und vor allem nicht den Politiker herauszukehren, damit man eine geheime Intrige spinnen konnte, die zu seiner Freilassung geführt hätte.

Um eine Entschärfung der Situation bemühten sich auch absolut ehrliche und gewissenhafte Leute, zum Beispiel der ehemalige Vorsitzende der russischen Zentralbank Viktor Geraschtschenko, der 2004 Vorsitzender des Direktorenrats von JUKOS geworden war. Er hatte diesen Posten nicht einfach so angenommen: Der Bankier bekam seinen Segen von einem seiner alten Kreml-Freunde, der ihm zu verstehen gegeben hatte, dass eine glückliche Wendung möglich sei (sprich: die Freilassung Chodorkowskis und die Rettung der Firma im Tausch gegen etwas anderes). Aber Geraschtschenko hatte nicht berücksichtigt, dass in den heutigen Zeiten auch Kreml-Freunde unverantwortliches Geschwätz von sich geben können und dass Setschin fähig war, sich von ihnen zu distanzieren. Schließlich gelang es weder ihm noch irgendjemand anderem, JUKOS zu retten und die Gefangenen zu befreien.

Natürlich hatten Setschin & Co. von Chodorkowski nicht diese intellektuelle und lebenskräftige Widerstandsfähigkeit erwartet. Man meinte, der Ex-Oligarch würde nach seiner Verlegung nach Krasnokamensk irgendwo im Schnee des unendlichen Sibirien verschwinden und endgültig vergessen werden. Auf jeden Fall war eine PR-Kampagne ins Leben gerufen worden, um dem Volk und der Welt diese Botschaft zu übermitteln.

Dass Chodorkowski zehn Jahre nach seiner Verhaftung und acht Jahre nach dem ersten Urteil immer noch auf der russischen und internationalen Bühne steht, ist das große Verdienst des Häftlings und stellt für den Kreml einen Tiefschlag dar. Deswegen ist Putin auch immer so nervös, wenn er – schon seit mehreren Jahren – auf ein und dieselben Fragen zum Fall JUKOS antworten muss.

Aber es kann auch heute keine Einigung zwischen Chodorkowski und dem Kreml zum gegenseitigen Vorteil geben. Das Wichtigste, was Chodorkowski besaß – JUKOS –, hat man ihm schon weggenommen. Ansonsten verfügt Chodorkowski über nichts, was für den Kreml von Interesse wäre. Eine Entscheidung kann nur von einer Seite kommen – aus dem Kreml. Falls die russische Macht es für politisch vorteilhaft hält.

Welches Verhältnis hatten und haben die russischen Eliten zu Chodorkowski?

Wenn man unter Eliten diejenigen Menschen versteht, die an den wichtigsten Entscheidungen beteiligt sind, dann ist ihr Verhältnis wohl eher negativ. Die Meinung des großen Kapitals über MBCh wurde 2005 recht genau von Alfred Koch formuliert, dem ehemaligen Vorsitzenden des Staatlichen Komitees Russlands zur Verwaltung des staatlichen Vermögens, einem der Ideologen der »großen Privatisierung« der 1990er-Jahre und enger Mitstreiter von Anatoli Tschubais:

»… was Chodorkowski betrifft. Warum die Business-Community ihn verriet. Es ist ja so, dass ein erheblicher Teil des Establishments, insbesondere des intellektuellen Establishments, … erst nach Chodorkowskis Inhaftierung davon erfuhr, dass er Demokrat ist. Davor hatte man ihn (mit verschiedenen Abstufungen von Emotionalität) für einen erfolgreichen Geschäftsmann oder für einen geschickten Schwindler gehalten. Die Formulierungen waren unterschiedlich, aber im Prinzip meinte jeder ein und dasselbe. Deswegen war der Business-Community wohl bekannt, was die Menatep Group darstellte, die sich dann in Rosprom verwandelte und später in JUKOS. Wenn wir, zum Beispiel, mich nehmen, so habe ich zu genau den Genossen gehört, die Chodorkowski mit ihrer Anteilnahme unterstützt haben. Mehr noch, die Zeitschrift Newsweek betrieb eine Art ›Planspiel‹ – ein Prozess gegen Chodorkowski, in dem ich die Rolle des Verteidigers spielte und Michail Jurjew die Rolle des Anklägers. […] Ich kann sagen, dass Chodorkowski immer gegen unsere Mannschaft gekämpft hat. Ein bekanntes Beispiel für diesen Widerstand war das Jahr 1997. Nachdem sie Swjasinwest nicht bekommen hatten, wurde gegen uns eine Hetzjagd ausgerufen, und Chodorkowski ergriff für Beresowski und Gussinski Partei. Und auch später nahm er immer die Position derjenigen ein, die gegen unsere Mannschaft waren. Erst bei den Wahlen 2003 fand er eine Möglichkeit, mit uns zu kooperieren und uns zu unterstützen.

Deswegen hält niemand innerhalb der Business-Community, die zu Chodorkowski als Geschäftsmann ein sehr, sehr schlechtes Verhältnis hat, ihn für einen Menschen, der einer Unterstützung würdig wäre. Chodorkowski riskierte immer zwei Thesen. Die erste These: ›Wenn wir einen Staat hätten, säße ich schon längst hinter Gittern.‹ Und die zweite: ›Was mir gehört, das gehört mir, und was dir gehört, darüber ist noch zu reden.‹ Wir als Business-Community wollen jetzt nicht unsere schmutzige Wäsche vor anderen Leuten waschen – das sind unsere internen Querelen –, und vor allem wollen wir nicht über jemanden herfallen, der im Gefängnis sitzt. Die Russische Union der Industriellen und Unternehmer hat ihn unterstützt, die Union der rechten Kräfte ebenfalls. Dazu noch Tschubais, Nemzow, Koch und Gaidar persönlich. Er aber schreibt in seinen Briefen, wir hätten die liberale Idee zugrunde gerichtet usw. Wie uns M. B. Chodorkowski lehrt, sollte man sich rational verhalten. Jegliches Gejaule ist sinnlos. Was wäre denn geschehen, wenn die Business-Community ihn unterstützt hätte, woran ich kaum glauben kann? Sowohl aus den von mir aufgezählten Gründen, die meines Erachtens ehrenwert sind, als auch deswegen, weil es sinnlos ist, sich mit der Staatsmacht wegen Chodorkowski zu zerstreiten, der dieser Business-Community nicht nähersteht als irgendjemand sonst.«

Heute meint man üblicherweise, Dmitri Medwedew hätte zur Zeit seiner Präsidentschaft (2008 bis 2011) Chodorkowski auf freien Fuß setzen können, aber der verfluchte und allmächtige Wladimir Putin habe das nicht zugelassen. Ich denke, alles ist viel einfacher und zugleich komplizierter.

Medwedew hätte MBCh zusammen mit Platon Lebedew vielleicht freigelassen, aber es hätte so aussehen müssen, als ob er sich in nichts eingemischt und keine individuellen Entscheidungen getroffen hätte. Eine Entlassung auf Bewährung oder eine Entscheidung des Höchsten Gerichts über eine Strafverkürzung im zweiten Fall um einige Jahre wären hier denkbar gewesen. Eine direkte Demonstration der politischen Macht des Präsidenten in dieser konkreten Frage nicht.

Man sollte sich jedoch nicht ausschließlich auf Putin versteifen, auch wenn sein Einfluss auf das Schicksal des ehemaligen Oligarchen tatsächlich sehr hoch war. Innerhalb der Elite gibt es einige Leute, die kein besonders hohes Interesse daran haben, Chodorkowski auf freiem Fuß wiederzutreffen. Zu ihnen gehören nach meiner Ansicht die einflussreichsten Geschäftsleute des heutigen Russland und die Stützen der »Familie« von Boris Jelzin: Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska. Abramowitsch hat bislang keinen Finger gerührt, um Chodorkowskis Freilassung zu bewirken. Er wollte die strategisch wichtige Freundschaft mit Putin nicht gegen etwas so Unsicheres wie die Freiheit für MBCh tauschen. Wozu auch?

Überdies gibt es da eine sensible finanzielle Frage. Abramowitsch standen mehr als vier Jahre (vom Frühjahr 2003 bis zum Sommer 2007) 3 Milliarden Dollar zur Verfügung, die von JUKOS stammten, als es mit Sibneft fusionierte. Selbst bei einer konservativen Anlage dieser Summe auf dem russischen Finanzmarkt, der sich damals in einer wilden Wachstumsphase befand, muss sich die Summe mindestens verdoppelt haben.

Mitte 2007 wurden diese 3 Milliarden Dollar den anderen Aktiva von JUKOS zugeschlagen und gelangten in den Gemeinschaftstopf von Rosneft. Um diese hohe Summe zu legalisieren, fand ein Deal über eine gewisse LLC Prana statt, bei der das Moskauer Hauptquartier von JUKOS für eine Riesensumme verkauft wurde.

Eine noch dramatischere Rolle hatte auch Deripaska für das Schicksal von JUKOS gespielt. Ausgerechnet zu Beginn des Jahres 2006, als JUKOS unter Beobachtung gestellt wurde, entschied sich Oleg Deripaska, ins Ölgeschäft zu gehen. Er hätte dafür keine besseren Bedingungen haben können, als einen Teil der Aktiva von JUKOS zu übernehmen, an deren baldigem Bankrott kein Zweifel bestehen konnte. Natürlich hielten viele Geschäftsleute ein solches Szenario für übermäßig riskant, nicht jedoch Deripaska. Und dabei lag es nicht nur daran, dass der wichtigste Aluminiummagnat der Russischen ­Föderation an derartige Manöver am Rande eines Fouls und darüber ­hinaus gewöhnt war.

Denn 2001 hatte Deripaska geradezu einen Schutzbrief erhalten, als er die wohl weiseste Geschäftsentscheidung seines Lebens traf: Er heiratete Polina Jumaschewa und wurde auf diese Weise Teil der Familie Jelzin. Und alles, was mit dem ersten Präsidenten der Russischen Föderation zu tun hat, war und bleibt für den Kreml unantastbar – unter Putin, unter Medwedew und dann wieder unter Putin. Deswegen hatte Deripaska nicht die geringste Angst, er könne Verluste erleiden oder müsse gar das Schicksal von Chodorkowski teilen, und er tat recht daran. Die Frage war eine andere: Wie konnte er bei JUKOS einsteigen, um bei der Verteilung der verbleibenden Aktiva Einfluss nehmen zu können?

Es wurde folgender Plan erarbeitet: Man nehme einen ambitionierten Mitarbeiter von JUKOS aus dem oberen bis mittleren Segment, der den Ruf als »Manager eines Pleiteunternehmens« nicht gebrauchen kann und bei dem riskante Unternehmungen einen Adrenalinschub auslösen. Mit dem Versprechen, man werde denen das Leben erleichtern, die wegen des Falls JUKOS bereits einsitzen, wird dieser Mitarbeiter zum Leiter des Unternehmens gemacht, bevor es Bankrott anmeldet. Und dann beginnt der Handel, jedoch nicht zwischen diesem Mitarbeiter und der Staatsmacht, sondern zwischen Deripaska und Setschin. Damit geht JUKOS nicht auf einen über, sondern wird durch zwei geteilt. Ist das etwa ungerecht? Wenn einer der großen Nutznießer des Falls JUKOS ein wahrhaft treuer Putin-Anhänger ist, der zusammen mit dem zweiten Präsidenten aus den Tiefen des Petersburger Erzes stammt, dann muss der zweite logischerweise ein Familienmitglied des ersten Präsidenten sein.

Als Opfer wählte man, wie wir uns schon denken können, den Justitiar von JUKOS, Wassili Aleksanjan – Chodorkowskis Liebling, Absolvent von Harvard, ein Hätschelkind des Schicksals. Von seinen Ambitionen und seinem psychologischen Typus her passte er ideal. Damals sagte man, er rechne damit, durch seine Mitwirkung am JUKOS-Finale eine ganze Milliarde Dollar einzustreichen. Ich meine jedoch, dass das Geld nicht die wichtigste Rolle in seiner Wahl spielte. Wichtig war der Zugang zu freiem Manövriergelände.

Soweit es sich beurteilen lässt, fand das historische Treffen zwischen dem JUKOS-Justitiar und Oleg Deripaska Ende März 2006 statt. Im Verlauf dieser Zusammenkunft bekräftigte der VIP-Schwiegersohn die Ernsthaftigkeit seiner Absichten und garantierte, Aleksanjan befände sich in völliger Sicherheit, alles sei mit dem Kreml und der Generalstaatsanwaltschaft abgestimmt. Aleksanjans Aufgabe bestehe darin, den Prozess einer sanften JUKOS-Insolvenz zur allgemeinen Zufriedenheit und mit dem Resultat zu gewährleisten, dass die Familie von Boris Jelzin ein gleichwertiger Spieler auf dem so ungestüm anwachsenden Ölmarkt werden könne. Als Preis winkten die ersehnte Milliarde Dollar und der internationale Ruhm, was noch viel wichtiger war.

Am 1. April (ein übler Scherz!) 2006 gab der JUKOS-Vorstandsvorsitzende Steven Theede die Anweisung, Wassili Aleksanjan zum Vizepräsidenten des Unternehmens mit faktischer Vollmacht des Präsidenten zu ernennen – und gestand damit ein, dass er, Theede, an London gefesselt war und nicht nach Russland konnte, um den schwer verletzten Ölgiganten operativ zu lenken. Chef von JUKOS – als Letzter aus den eigenen Reihen – wurde Aleksanjan.

Der neue geschäftsführende Vizepräsident mit den Vollmachten eines Präsidenten machte sich eifrig an die Arbeit. Oberste Aufgabe war die Wiederherstellung der Lenkbarkeit des Unternehmens JUKOS-RM, das sich um den gesamten Absatz und die wesentlichen Finanzströme des Erdöl- und Gasunternehmens innerhalb des Landes kümmerte. Der Präsident von JUKOS-RM, Anatoli Nasarow, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begriffen, dass jeglicher Widerstand gegen Setschins Daumenschraube sinnlos war und eine Loyalität gegenüber Chodorkowski noch sinnloser. Er arbeitete offen im Interesse von Rosneft und bereitete sich auf die Übergabe von JUKOS-RM an die Angreifer vor.

Aleksanjan versuchte, diesen Prozess aufzuhalten. Unter Ausnutzung seiner neuen Vollmachten ernannte er innerhalb von JUKOS-RM Roman Chomenko zum ersten Vizepräsidenten für kommerzielle Fragen – er war einer der letzten Manager, die noch nicht auf Setschins Seite gewechselt waren. Verständlicherweise musste die Entlassung Nasarows der nächste Schritt sein. Der Präsident von JUKOS-RM ging in den Untergrund und rechnete sich aus, dass die neue exzentrische Geschäftsleitung nicht lange durchhalten würde.

Die Rechnung ging auf. Am 6. April wurde Wassili Aleksanjan vor das Simonowski-Gericht geladen, wo er angeklagt war, sich Aktien von zwölf JUKOS-Töchtern, vor allem von Tomskneft, angeeignet zu haben. Im Gericht hatte man schon alles für seine Verhaftung vorbereitet, was man mit bloßem Auge erkennen konnte. Nachdem er von seinem Anwalt ein Warnsignal erhalten hatte, verschwand Aleksanjan. Von nun an war sein Mobiltelefon gesperrt. Er begann zu verstehen, dass Deripaskas Sicherheitsgarantien nichts taugten. Setschin betrieb wie 2003 ein Vabanquespiel. Für ihn war es wichtig, den Gedanken im Keim zu ersticken, außer ihm selbst könne sich noch jemand anderer im Recht wähnen, sich an den JUKOS-Aktiva vergreifen zu dürfen.

Aleksanjan wurde am nächsten Tag, dem 7. April, in einer Wohnung am Semljany wal verhaftet, wo er, der die Hoffnung auf einen Karrieresprung noch nicht ganz aufgegeben hatte, mit Deripaskas Boten das weitere Vorgehen besprechen wollte. Als die Polizisten kamen, um Aleksanjan zu verhaften, blieb die Tür verschlossen, als ginge man in der Wohnung davon aus, die Polizisten könnten den ganzen Tag warten und auch die Nacht ausharren. Die Tür wurde von einer Truppe des Katastrophenministeriums aufgebrochen. Vom Semljany wal aus begab sich der geschäftsführende Vizepräsident von JUKOS direkt ins Gefängnis Matrosskaja tischina. Deripaska wusch allem Anschein nach seine Hände in Unschuld und unternahm keinen Versuch, Aleksanjan aus dem Gefängnis zu holen. Na, dann hatte es eben nicht geklappt mit JUKOS, das konnte schon mal vorkommen. Der verhinderte JUKOS-Präsident erkrankte schließlich an Aids sowie an Tuberkulose und erblindete. Unter großer Anstrengung gelang es Aleksanjan, zunächst aus seiner Zelle ins Gefängniskrankenhaus verlegt zu werden, wo man ihn mit Handschellen ans Bett kettete. 2008 ließ man ihn schließlich auf Kaution frei. Erst 2010 wurde der Fall Aleksanjan eingestellt – nicht aufgrund einer Rehabilitation natürlich, sondern im Zusammenhang mit seinem Ableben.

Ein Jahr später unternahm Jelzins Schwiegersohn Walentin Jumaschew einen zweiten Versuch, in das Ölbusiness einzusteigen, und zwar durch den Ankauf von Russneft. Auch Guzerijew versuchte, sich kleine Brocken vom verwüsteten, doch immer noch reich gedeckten Tisch des Chodorkowski-Imperiums zu schnappen – was wiederum Deripaska und seinen zur Unzeit erwachten Ambitionen für den Ölsektor von Nutzen war.

Wieder einmal war Setschin kategorisch dagegen. Dennoch erwirkte Deripaska dank der Mitwirkung von engen Familienangehörigen Putins formales Einverständnis für den Megadeal. Aber das half ihm nicht. Guzerijew musste nach London fliehen. Doch das ist eine andere Geschichte …

Die schöngeistige Rhetorik der Elite darüber, dass die gesamte russische Geschäftswelt sich nichts mehr wünsche als Chodorkowskis Freilassung, ist nur für Investmentkonferenzen in London und ähnliche Anlässe gedacht. Diesseits der russischen Grenze sieht die Realität ein wenig anders aus.

Welche Perspektiven für eine politische Karriere hat Michail Chodorkowski?

Ich meine, man sollte sie nicht zu hoch ansetzen. Als MBCh Politiker wurde – und gleichzeitig eine wichtige, selbstständige politische Figur –, saß er bereits im Gefängnis. Bis zum 25. Oktober 2003 mag er sich als Politiker gesehen haben, war jedoch wohl eher ein Instrument der Manipulationen anderer.

Chodorkowskis Politik in zehn Jahren Gefängnis hat gezeigt: Er ist ein systeminterner Spieler geblieben, der stets von seinen Möglichkeiten ausgeht. Man sollte aus Chodorkowski keinen systemfeindlichen Revolutionär machen, der das Volk zum Sturm auf den Kreml bewegen kann. Die Sprache der heutigen Eliten ist für ihn nach wie vor annehmbarer als eine radikale Rhetorik, egal wie sie beschaffen ist. In diesem Sinne ist Chodorkowski kein Nelson Mandela, der bereit ist, ewig im Gefängnis zu sitzen, weil seine Sache sowieso den Sieg davontragen wird. Und er ist auch nicht vergleichbar mit Julia Timoschenko, für die das Gefängnis nur ein weiterer Beweis ihrer Genialität ist, während sie alle anderen im Großen und Ganzen für Idioten hält. Seiner Mentalität nach ist Chodorkowski eher ein Manager als ein politischer Anführer. Aber Chodorkowski hat uns in diesen zehn Jahren eine unschätzbare Lektion in Tapferkeit und Würde erteilt. Als Symbol für Moral und als Bastion ist er unersetzlich.

Das alles kann man jedoch nicht mit Politik gleichsetzen. Deswegen möchte ich all jenen, die bereits an Websites »Chodorkowski for president« basteln, den Ratschlag geben, sich ein wenig zu beruhigen. Diese Übereiltheit täuscht uns und hilft ihm nicht im Geringsten.

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