Vom ersten Tag seiner Regierungszeit an tat der Kreml alles, um das Image des neuen Präsidenten Putin gegen das seines Vorgängers abzusetzen. Während Jelzin ein alter Trümmerhaufen gewesen war, der jederzeit den Löffel abgeben konnte, wurde Putin zu einem Macho und geradezu zu einer Sexbombe stilisiert. Die Frage war umso aktueller, als die Ideologen im Kreml eine Lektion besonders gut gelernt hatten: Noch im September 1999 war der 70-jährige Jewgeni Primakow ungeachtet des Altersunterschieds von 23 Jahren um einiges beliebter gewesen als Putin. Als dann jedoch in einer bekannten Fernsehsendung gezeigt wurde, wie man Senioren die Hüftgelenke operiert, sanken Primakows Umfrageergebnisse dramatisch.
Die Sendung war gut gemacht und überzeugte Millionen von Zuschauern, dass auch Primakow schon recht alt war und krank wie Jelzin, es also sinnlos wäre, ein Übel gegen ein anderes zu tauschen. Mit Putin im Hintergrund, der den Tschetschenien-Krieg geradezu höchstpersönlich zu kommandieren schien (diesen Eindruck vermittelten unzählige Reportagen der wichtigsten Fernsehkanäle, auch wenn Putin in Wirklichkeit nur einige Male an der Front war, und auch das in vollkommener Sicherheit und ohne mit den Aufständischen in irgendeiner Form zusammenzukommen), wollte das Volk keinen Mann mehr an der Spitze sehen, der wie Jelzin seine Tage mit »Aktenstudium« in einem Sanatorium zubringt.
Man wollte etwas Junges, Frisches, man wollte Muskeln sehen. Man wollte, dass der Mann an der Spitze andere mit einem festen Händedruck begrüßt. Selbstverständlich kam die Vorstellung vom schönen, jungen, gesunden Mann nicht ohne eine gewisse sexuelle Mythologie aus. Aber mit Putins Ehefrau Ljudmila Alexandrowna eine solche Mythologie aufzubauen und am Leben zu halten war, gelinde gesagt, schon recht schwierig.
Ljudmila ist sechs Jahre jünger als ihr Gatte (sie wurde 1958 geboren), und die offizielle Legende besagt, dass die beiden sich Anfang der 1980er-Jahre kennenlernten, als die junge Dame Stewardess bei einer Kaliningrader Fliegerabteilung war. Archivfotos bezeugen, dass Ljudmila in der Anfangsphase ihrer Ehe mit dem künftigen Herrscher über ein Siebtel der Erde gut gebaut und attraktiv war. Doch zum Jahr 2000 hin war sie ziemlich füllig und welk geworden. Es ist überaus wahrscheinlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits ernsthafte Alkoholprobleme hatte. Sie sah nun älter aus als ihr Mann, manchmal hätte man sie fast für seine Mutter halten können. Dafür gibt es viele Ursachen.
Soweit es sich den Erinnerungen von Irene Pietsch und einigen unveröffentlichten Materialien anderer ehemaliger Freunde und Bekannte des Ehepaars Putin entnehmen lässt, hörte die sexuelle Beziehung zwischen den Eheleuten bereits Ende der 1980er-Jahre in Dresden auf, als WWP sich emotional auf »echte Männerfreundschaften« einstellte – mit Klaus Zuchold und Matthias Warnig. (Heute ist Warnig eine der Schlüsselfiguren des Energiesektors in Putins Russland, Mitglied von Aufsichtsräten einiger großer Energiekonzerne, einschließlich Transneft und der Nord Stream AG. Im Unterschied zu vielen seiner Mitstreiter und Opponenten weiß unser Held, wie man sich erkenntlich zeigt.)
Nach Rückkehr der Familie nach Leningrad kümmerte sich Ljudmila im Wesentlichen um die Erziehung und Ausbildung der Töchter Maria und Jekaterina, und Wladimir wurde vollständig von seiner Arbeit vereinnahmt, zuerst bei Sobtschak, dann bei Jelzin. Auch wenn ihre Ehe in Auflösung begriffen war, gab es keinerlei Gerüchte über Verbindungen oder gar anhaltende Affären von Putin – selbst die bunteste Regenbogenpresse der beiden russischen Hauptstädte kann nicht mit diesbezüglichen Erinnerungen aufwarten, und seien sie noch so unwahrscheinlich.
In ihrem Buch Heikle Freundschaften behauptet Irene Pietsch, Ljudmila habe Wladimir als Energieräuber charakterisiert, der ihr alle Kräfte aussauge, darunter auch den wichtigsten Lebenssaft – die sexuelle Energie. WWP seinerseits äußerte gegenüber Irene, mit seiner Frau auch nur zwei Wochen unter einem Dach zu leben sei eine Heldentat, die einen Orden verdiene.
Übrigens sind die Erinnerungen von Ljudmila Putina-Schkrebnjowa über das Erblühen und die Entwicklung ihrer Beziehung und die Ehe mit dem künftigen Präsidenten um einiges beredter. 2002 erschien kurz vor dem 50. Geburtstag des zweiten russischen Präsidenten das Buch des Journalisten Oleg Blozki Wladimir Putin: Der Weg zur Macht. Es war als absolut putinfreundliches Jubiläumsbuch konzipiert und geschrieben worden.
Am Vorabend des 7. Oktober 2002, als Russland mit nicht unerheblicher Begeisterung sein noch junges Oberhaupt feierte (zu seinem 60. Geburtstag war von dieser Begeisterung keine Spur geblieben, der Jahrestag verlief in einer seltsamen Atmosphäre verärgerter Gleichgültigkeit mit einer Duftnote von offenem Hass), trat Blozki in vielen russischen Fernsehsendungen auf, wo er in Debatten und Talkshows seinen Helden und Götzen in Schutz nahm: vor dem boshaften Stimmengewirr in Person anerkannter Liberaler sowie vor den von Putin enttäuschten, selbst ernannten Nationalpatrioten wie zum Beispiel dem Schriftsteller Alexander Prochanow, der zum Geburtstag noch schnell den putinfeindlichen Politthriller Herr Hexogen veröffentlicht hatte.
Dennoch verschwand Blozkis Apologie des Präsidenten recht bald aus den Buchläden. Die einzige Erklärung: Der Autor hatte unvorsichtigerweise ein Exklusivinterview mit Ljudmila Putina in das Buch aufgenommen, das dem Gatten überhaupt nicht gefiel. Es folgen einige Fragmente, die wahrscheinlich dafür verantwortlich sind, dass Blozkis Buch aus dem Verkauf genommen wurde.
»… Verabredungen – das war ein besonderes Thema. Ich kam nie zu spät, Wladimir Wladimirowitsch jedoch ständig. Eine halbe Stunde – das war vollkommen normal. Ich wusste das zwar, brachte es aber selbst nicht fertig, später zu kommen. Und wenn er nun heute plötzlich pünktlich ist, dachte ich. (Nebenbei bemerkt, kann ich mich mit Wladimir Wladimirowitschs Unpünktlichkeit bis heute nicht abfinden.)
Ich erinnere mich daran, wie ich einmal in der Metro stand. Die ersten fünfzehn Minuten, die er sich verspätete, ertrug ich mit Fassung, die erste halbe Stunde auch. Aber nachdem eine Stunde vergangen und er immer noch nicht da war, kamen mir die Tränen vor Gekränktheit. Nach anderthalb Stunden fühlte ich dann überhaupt nichts mehr …«
Wladimir Putin – weniger als Mann denn als Bürokrat und Staatsmann – verspätet sich nicht nur leicht, er kommt zu allen Zusammenkünften und Veranstaltungen, die ihm in seinem tiefsten Inneren unangenehm sind, stets deutlich zu spät. In der Psychologie nennt man das Erledigungsblockade: eine betonte Unlust, rechtzeitig eine Sache zu erledigen, die man nicht machen will, aber unbedingt machen muss.
Ganz ähnlich verhält sich Putin zu Staatsangelegenheiten. Eine Stunde Verspätung zu einer wichtigen Besprechung ist wahrscheinlich noch das Günstigste, worauf Beamte und Geschäftsleute hoffen können, die mit erstorbenen Herzen auf ihren Patron warten. Zu Wirtschaftsforen kommt der Präsident gewöhnlich um zwei bis drei Stunden zu spät. Wie die in Russland bekannte Society-Journalistin Boschena Rynska es zutreffend formuliert hat, »entschuldigt er sich dabei nicht einmal übermäßig«, sondern gibt dem Auditorium zu verstehen, dass seine Verspätung ganz in Ordnung sei, und wenn jemand trotzdem endlos warten will und kann, dann solle er das tun. Offensichtlich hat er auch zu seinen formalen Pflichten als Familienoberhaupt schon länger eine derartige Einstellung.
»Einmal gingen wir auf eine Party, wo ich mich wohl etwas ungezwungen benahm: Ich tanzte, hatte Spaß und lachte. Wladimir Wladimirowitsch gefiel das gar nicht, und er sagte mir klipp und klar, dass wir nicht länger zusammenbleiben können. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich ausziehen sollte. Ich ging weg. Das war sehr schwer, das will ich nicht verhehlen. Als ich zwei Wochen später einmal nach Hause kam, hing an der Tür ein kleiner Zettel: »Ja, Herzchen, ich bin es.« Daneben stand eine Telefonnummer … .«
Was kann man über einen Menschen sagen, dem es nicht gefällt, wenn die geliebte Frau in guter Stimmung ist und Spaß hat? Besonders, wenn es sich nicht um einen fernöstlichen Menschen handelt, sondern um jemanden, der mehr oder weniger im europäischen Geist erzogen wurde? Ganz zu schweigen von dem Satz »Ja, Herzchen, ich bin es«, der in Russland schon lang ein Aphorismus ist. Er wird oft zitiert, wenn Rechtsorgane in staatliche oder kommerzielle Strukturen eindringen und das von Putin zwar gebilligt wird, aber aus Sicht der erbärmlichen russischen Gesetzgebung der Verdacht einer unkorrekten Amtsführung besteht.
»Dreieinhalb Jahre nach unserem Kennenlernen heirateten wir am 28. Juli 1983. Nebenbei bemerkt haben wir seither nie unseren Hochzeitstag gefeiert …
Obwohl ich nie auf eine Heirat angespielt habe, wussten wir genau, dass wir das früher oder später klären müssen …
Aber Wladimir Wladimirowitsch konnte es nicht ertragen, wenn ihn eine Frau unter Druck setzte, Andeutungen machte oder in Gesprächen das Thema Ehe berührte. Selbst wenn das Thema völlig zufällig aufkam, schnitt Wladimir Wladimirowitsch dem anderen augenblicklich das Wort ab. Er hatte zu solchen Themen ein ironisches Verhältnis und meinte, eine solche Entscheidung müsse vom Mann getroffen werden … Wladimir Wladimirowitsch machte mir nach allen Regeln einen Heiratsantrag, auf ganz klassische Weise: Er erklärte mir seine Liebe und schlug vor, das Hochzeitsdatum auf Juli zu legen. Alles lief in der entsprechenden Form ab, es war sogar ein wenig künstlich.«
Jeder, der weiß, wie Putin seine Entscheidungen als Präsident trifft, kann bestätigen: Er zweifelt bis zum Letzten, aber wenn die Entscheidung nicht mehr aufschiebbar ist, dann fackelt er nicht länger und lässt sich selbst, der von Zweifeln zerfressen ist, auch kein Hintertürchen offen. Außerdem mag er es ganz und gar nicht, wenn man ihn unter Druck setzt oder antreibt. Eine Entscheidung soll erst dann gefällt werden, wenn es nicht anders geht – das ist Putins Prinzip. Und im Privaten hält er es offenbar genauso.
»Ich erinnere mich noch, wie das alles war. Ich saß bei Wladimir, und auf einmal sagt er zu mir: »Also, Herzchen, du kennst ja meinen Charakter. Mit mir hat man es nicht leicht. Und du musst jetzt im Prinzip entscheiden, was du willst.« Mir wurde eiskalt ums Herz. Als Wladimir Wladimirowitsch so das Gespräch anfing, war mir klar, dass er beschlossen hatte, unsere Verbindung zu lösen. Aber selbst in diesem Moment antwortete ich so, wie ich dachte: »Du weißt, dass ich mich entschieden habe. Ich brauche dich.«
Daraufhin sagte Wladimir: »Wenn das so ist, dann bitte ich dich, mich zu heiraten. Ich liebe dich. Bis du einverstanden?«
»Ja«, antwortete ich.
»Wenn du nichts dagegen hast«, schloss Wladimir Wladimirowitsch, »findet unsere Hochzeit am 28. Juli statt, in drei Monaten.« So machten wir uns Ende April eine Liebeserklärung …
Ich weiß wirklich nicht mehr, ob auf unserer Hochzeit »Küssen, küssen!« gerufen wurde. Wahrscheinlich schon, warum auch nicht … Aber ich erinnere mich nicht daran, wie wir uns geküsst haben.«
Warum auch nicht! Das ist der ganze Putin. Etwas zu tun, weil man selbst es will – das ist nichts für ihn.
»Eigentlich habe ich mich immer den Wünschen von Wladimir Wladimirowitsch untergeordnet. Er war es, der mir riet, nach der Arbeiterfakultät Spanisch zu belegen … Dann sagte er: »Gleichzeitig solltest du noch Maschineschreiben lernen.« Die Hand an den Mützenschirm und ab zum Kurs für Maschineschreiben. Und das war im vierten Studienjahr, als ich mit Maria schwanger war … Als Maria geboren wurde, rief ich ihn am zweiten oder dritten Tag an, um mich mit ihm wegen eines Namens zu beraten. Ich wollte immer, dass wir ein Mädchen Natascha nennen. Ich hatte eine Freundin Natascha, und überhaupt gefiel mir dieser Name sehr. Wladimir Wladimirowitsch sagte: »Nein, sie soll Maria heißen.« Ich brach in Tränen aus. Ich wollte, dass sie Natascha heißt. Doch dann wurde mir klar, dass ich keine Wahl hatte und unser Töchterlein auf jeden Fall Maria heißen würde. Und ich dachte: ›Na gut, meine Lieblingstante hieß auch Maria …‹«
Übrigens behauptet die offizielle Putin-Geschichtsschreibung, dass die ältere Tochter nach der Großmutter väterlicherseits – Maria Petrowna – benannt wurde. »Kompensation« für Ljudmila wurde der Name der jüngeren Tochter Jekaterina, sie wurde nach der Großmutter mütterlicherseits benannt.
»Als ich nach Dresden kam, war ich im siebten Monat schwanger. Dabei war ich noch gar nicht beim Arzt gewesen, immer hatte die Zeit dafür gefehlt. Ich erinnere mich, wie ich dann beim Arzt war und er mit mir schimpfte. Wie sich herausstellte, war mein Hämoglobinspiegel sehr niedrig. Wie hätte es auch anders sein können? Das müssen Sie sich mal vorstellen: Ich bin mit Jekaterina im siebten Monat schwanger, trage Maria auf einem Arm und in der anderen Hand eine Tasche mit Lebensmitteln, und so steige ich zum fünften Stock hoch. Und da kommen im Treppenhaus im ersten Stock ein Mann und seine Frau aus der Tür, und sie sehen, wie ich mich die Treppe hinaufquäle. Eine stumme Szene. Der Mann macht ganz große Augen und kann nur seufzen: »Ljudmila, das geht doch nicht!« Dann nimmt er Maria und die Tasche und bringt sie zum fünften Stock hinauf. Aber das war ja nur einmal so. Ich hatte jeden Tag mindestens drei solcher Gänge zu machen. Wie ich später erfuhr, hat sogar unser Nachbar mehrmals zu meinem Mann gesagt: »Wladimir, du musst ihr helfen!« Das änderte aber nichts, weil Wladimir Wladimirowitsch seine Prinzipien hatte: Eine Frau muss im Haushalt alles allein machen. Deswegen nahm er nie irgendwelchen Anteil an der Hauswirtschaft.«
Das ist ein allgemeines Prinzip, das sich auf den Staat, die Wirtschaft und die Familie erstreckt: Putin mischt sich nie in das ein, was ihn nicht direkt und unmittelbar betrifft. Deswegen ist es einigermaßen komisch, wenn man sich die Ausführungen der Analytiker und Beobachter durchliest, wonach Putin allen großen Geschäftsabschlüssen im Lande oder den Verläufen der großen Strafsachen nachspüre. Sein Prinzip ist es, sich nicht in irgendwelche Abläufe einzumischen. Alles muss seinen eigenen Gang gehen. Wenn man seine Finger einer Werkbank zu nahe bringt, können sowohl die Finger als auch die Werkbank verlustig gehen.
»Was das Schwarze Meer betrifft, so waren Wladimir Wladimirowitsch und ich 1981 das erste Mal in Sudak … Ich erinnere mich daran, dass ich dort gekocht habe, weil Wladimir Wladimirowitsch partout nicht in den Kantinen essen wollte. Zu dieser Zeit gab es in den Läden nichts zu kaufen, und man musste sich die Lebensmittel auf dem Markt besorgen, wo die Preise ziemlich hoch waren. Ich musste es schlau anstellen, um dort etwas zu kaufen und dafür nicht zu viel Geld auszugeben.
Ich kochte für zwei, aber von Zeit zu Zeit kamen seine Jungs vorbei [Wladik und Viktor, die Freunde von Wladimir Wladimirowitsch – Anm. d. Verf.]. Unsere Wirtin war verstimmt, denn normalerweise wurden die Zimmer in den Wohnungen ohne das Recht vermietet, sich in der Küche etwas zu brutzeln …
Auf die Reise nahm Wladimir Wladimirowitsch ein Unterwassergewehr, Schwimmflossen, eine Tauchermaske und eine Matratze mit. Das Meer war weit von unserem Haus entfernt, ungefähr eine halbe Stunde Fußweg. Wie ich mich erinnere, gab es dort eine kleine Halbinsel. Es war schwer, vom Ufer aus dorthin zu gelangen, besonders mit dem Gewehr. Leichter konnte man schwimmend dorthin gelangen. Ich konnte mich zu diesem Zeitpunkt gerade so über Wasser halten, und auch das nur mit großer Mühe. Schwimmen habe ich erst später gelernt. Eigentlich riskierte ich mein Leben, als ich auf dieser Matratze zur Insel hinübergelangte. Wladimir schwamm neben mir her.
Tagsüber brannte die Sonne unbarmherzig, und man konnte sich nirgendwo verstecken – ringsum waren nur Steine. Ich bekam damals einen starken Sonnenbrand, dann ist mir die Haut auf den Schultern geradezu abgeblättert. Wladimir Wladimirowitsch blieb mit dem Gewehr länger als eine Stunde unter Wasser, bis er vor Kälte fast erfroren war. Die ganze Zeit versuchte er, einen Fisch zu schießen.
Auf einmal sah ich, wie er völlig glücklich aus dem Wasser kam und in den Händen einen Pfeil hielt, an dem ein kleiner Fisch von etwa zwanzig Zentimetern zappelte. Sein Gesichtsausdruck war geradezu triumphierend. Aber unter Wasser scheint ein Fisch ja immer fast zweimal so groß, als er in Wirklichkeit ist. Ich habe dann aus diesem Fisch eine Suppe gemacht. Das war also unsere Beute.
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber ich schwamm allein zurück. Am ehesten war es wohl so, dass Wladimir Wladimirowitsch am Ufer entlangging, ich aber Angst hatte, weil es dort nur einen sehr engen Durchgang im Felsen gab. Offenbar habe ich gesagt, ich schwimme zurück. Da gab mir Wladimir das Gewehr und fragte: »Schaffst du das?« Im Wasser schien mir das Gewehr recht leicht zu sein. »Ja«, sagte ich. Aber als ich dann so ungeschickt schwamm, mit dem Gewehr über dem Kopf, merkte ich erschrocken, dass es für mich sehr schwer ist und ich es wahrscheinlich nicht schaffe. Mir ist völlig unklar, wie ich trotzdem am anderen Ufer angekommen bin.«
Nun ja, das sagt vieles! Gleichzeitig ist anzumerken, dass Putins Leidenschaft für riskante Sportarten schon sehr viel früher geweckt wurde und seine heutigen Experimente zu diesem Thema durchaus kein PR-Gag für das russische Volk sind, wie viele Beobachter meinen, sondern ein echtes Bedürfnis. Umso mehr, als der konservative Teil des russischen Volkes, an den sich der russische Präsident als öffentliche Person vor allem wendet, derartigen Eskapaden völlig gleichgültig gegenübersteht. (Ja wirklich, es steigen die Preise für Strom und Gas, für Lebensmittel und Benzin, und der Präsident, schaut her, kümmert sich um wichtige Angelegenheiten unter Wasser und in der Luft.)
Putin taucht am Meeresgrund und fliegt mit den Kranichen durch die Luft, weil er unter einem katastrophalen Adrenalinmangel leidet. Und der kommt daher, weil er sich sein Leben lang mit ungeliebten Dingen befassen muss und psychologisch in der Klemme steckt. Aber er kann den Teufelskreis nicht durchbrechen. Das ist wohl sein Schicksal.
Doch kehren wir zurück zu den Themen Liebe und Sex. Allem Anschein nach ist WWPs Desinteresse an seiner Gattin sogar ein wenig demonstrativ. Doch gleichzeitig bemerkten die nach Gerüchten süchtigen Gesellschaftskreisen der zwei Hauptstädte nichts von einem Interesse an anderen Frauen. Was ist los mit ihm? Liegt da eine Sublimierung vor?
Oder gibt es ein rein ästhetisches Interesse an einem Objekt des gleichen Geschlechts, ohne jeglichen sexuellen Hintersinn, etwa wie bei dem Protagonisten von Marcel Proust, Charles Swann, der sich in eine Frau verliebt, die ihn an Botticellis Madonna erinnert, die er seit seiner Kindheit nicht vergessen konnte? Eine klare Antwort gibt es nicht.
Kommen wir auf die berüchtigte Erledigungsblockade zurück. Wir haben ja schon erörtert, wie und warum Putin sich immer verspätet. Zu Wettkämpfen der Mixed Martial Arts oder den Bikern im Club Notschnye wolki (Wölfe der Nacht) kommt er geradezu auf die Minute genau. Bei Treffen mit anderen Staatsoberhäuptern, einschließlich des befreundeten Viktor Janukowitsch, sowie zur eigenen Braut kommt er Stunden zu spät. Auf diese Weise schiebt Putin das vor sich her, womit er sich nicht befassen möchte. Oder womit er sich befasst, weil man ihn dazu zwingt. Wer ihn dazu zwingt – ein Chef, das böse Schicksal, der Herrgott –, ist eine andere Frage.
Wie wir uns erinnern, hatte die Familie Putin 1996 drei schreckliche Schicksalsschläge auf einmal zu verkraften. Der erste war die Niederlage von Anatoli Sobtschak bei den Bürgermeisterwahlen in der nördlichen Hauptstadt Russlands und das nicht ganz ehrenvolle Ende der Petersburger Etappe in der Karriere unseres Helden. Dann brannte seine Datscha. Erinnern Sie sich – der nackte Putin mit einem Koffer, in dem 15 Millionen lagen? Schließlich der schreckliche Verkehrsunfall von Ljudmila Alexandrowna.
An jenem schicksalhaften Tag wollte Ljudmila Putina zusammen mit ihrer jüngeren Tochter Jekaterina zu einem Schulfest der älteren Tochter Maria fahren. In ihrem Buch Ot pervogo liza behauptet Wladimir Putins Gattin, sie sei bei Grün gefahren, als ihr Auto mit einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern einen Pkw rammte.
Nach diesem Zusammenstoß verlor Ljudmila Putina für eine halbe Stunde das Bewusstsein, und als sie wieder zu sich kam, merkte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Unter größter Anstrengung gab sie einer zufälligen Unfallzeugin die Telefonnummer des Empfangszimmers ihres Mannes und bat die Frau, die verschreckte Jekaterina, die während des Unfalls auf dem Rücksitz geschlafen hatte, zu Wladimir Wladimirowitsch zu bringen.
Und dann kam das Schrecklichste. Da Ljudmila Putina nun keine Kraft mehr hatte, den Ärzten des Notfallwagens zu sagen, wer sie ist, kam sie in das schlimmste Krankenhaus von Sankt Petersburg, wo Menschen vor allem starben – auf den Fluren standen fahrbare Liegen mit Toten oder Sterbenden. Die Ärzte dieser medizinischen Einrichtung beschränkten sich darauf, der künftigen First Lady das Ohr anzunähen, wobei sie nicht bemerkten, dass sie eine Rückgratfraktur und einen Schädelbasisbruch hatte.
Wäre Ljudmila Putina in diesem Krankenhaus geblieben, dann wäre sie einfach verstorben, zum Beispiel an einer posttraumatischen Meningitis. Doch davon erfuhr sie erst später, als ihr alarmierter Mann Doktor Juri Schewtschenko anrief, den Chefarzt der Militärmedizinischen Akademie. Schewtschenko sandte augenblicklich den besten Chirurgen seiner Akademie, Waleri Parfenow, zu Ljudmila Putina. Der Chirurg untersuchte das Unfallopfer, nahm sie mit und führte einige virtuose Operationen an ihrem Rückgrat und ihrem Schädel durch. Soweit man es beurteilen kann, fuhr WWP selbst nicht ins Krankenhaus zu seiner Frau. Ihn hielten wichtige Staatsgeschäfte ab.
Juri Schewtschenko, der Ljudmila Putinas Leben gerettet hatte, wurde später Gesundheitsminister Russlands – von 1999 bis 2004. Vermutlich hat sich das Verhältnis zwischen dem Arzt und seinen kaiserlichen Patienten erst 2011 verändert. Der Patriarch von Moskau und ganz Russland, Kirill Gundjaew, ein Nachbar von Doktor Schewtschenko, reichte bei Gericht eine Klage gegen den Arzt ein. Er wollte beweisen, dass aufgrund von Renovierungsarbeiten seines Nachbarn seiner Privatbibliothek ein Schaden von 666 000 Dollar (sic!) zugefügt wurde. Der Patriarch gewann den Prozess. Die endgültige Entscheidung fällte das Gericht im November 2011. Putin half dem Arzt nicht, obwohl der an einer onkologischen Erkrankung zugrunde gehende Juri Schewtschenko versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen.
Nun ja, WWP war offenbar der Meinung gewesen, er habe seine Pflicht und Schuldigkeit bereits getan, indem er Schewtschenko für fünf fette Jahre zum föderalen Minister gemacht und ihm erlaubt hatte, das große private medizinische Zentrum im gepflegten Moskauer Nordwesten unter seine Kontrolle zu nehmen.
Es kann auch sein, dass der Präsident sich doch eingemischt hat, aber zugunsten der Gegenseite. Die Interessen des Patriarchen Gundjaew vertrat bei Gericht niemand anderes als Jelena Sabralowa, Putins persönliche Rechtsanwältin. Sie hatte kurz zuvor, im Februar 2011, beim Sawelowski-Gericht von Moskau die persönliche Ehre und Würde des russischen Präsidenten gegen einigermaßen bekannte russische Oppositionelle wie Boris Nemzow, Wladimir Milow und Wladimir Ryschkow verteidigt, die Autoren des für WWP nicht sonderlich schmeichelhaften Vortrags »Putin. Ergebnisse«.
Darin ging es um die aus Sicht der Oppositionellen trostlosen Resultate von Putins langjähriger Regierungszeit. Rechtsanwältin Sabralowa ist dafür bekannt, dass sie fast nie einen Prozess verliert. Vielleicht liegt es an ihrer Nähe zum ersten Mann im Staat. Juri Schewtschenko kommentierte den Ausgang des Prozesses folgendermaßen: »Ich bin schwer krank, nach dem Essen stehe ich selten aus dem Bett auf. Ich hätte kaum auf irgendetwas Einfluss nehmen können. Im Gegenteil, ich möchte meine weltlichen Dinge abschließen. Meine Wohnung hatte ich auf meine Tochter Xenija und ihre vier Kinder überschrieben, von denen zwei adoptiert sind. Und nun ist die Schenkung annulliert.«
Als Putin gerade Präsident geworden war, versuchte die Mannschaft von Jelzin, die mit der Kreml-Administration identisch ist, aus Ljudmila Alexandrowna eine Figur des öffentlichen Lebens zu machen. Auf Rat alter Bekannter der Putins aus Petersburg wurden Ljudmila zwei bekannte Imageberater zur Seite gestellt. Aber das war vergebliche Liebesmüh. Im Jahr 2000, während des Staatsbesuchs des russischen Präsidenten in Kanada, überschüttete Ljudmila Putina ihren Mann mit lautstarken Vorwürfen, und zwar im Zimmer des Fünf-Sterne-Hotels, wo das Paar abgestiegen war. Der Lärm drang bis zur Gastgeberseite, so dass man die Teilnahme von Ljudmila Alexandrowna an den Veranstaltungen innerhalb des Staatsbesuchs absagte.
Von diesem Zeitpunkt an tauchte die offizielle Ehefrau Putins immer seltener in der Gesellschaft ihres rechtmäßigen Gatten auf, im Wesentlichen nur noch bei religiösen Festen und »nationalen Zeremonien« wie der Volkszählung. Und auch allein war Ljudmila nur noch selten zu sehen. Es gab unbestätigte Gerüchte, sie sei in ein Kloster gegangen.
Die tatsächliche Lage der Dinge trat mehr oder weniger am 6. Juni 2013 zutage. An diesem Tag erschienen der Präsident und seine offizielle Ehefrau unerwartet zusammen im Kreml-Palast, um eine Ballettvorstellung von Esmeralda zu besuchen. In der Pause traten sie vor eine angeblich zufällig aufgestellte Fernsehkamera des staatlichen Nachrichtensenders Rossija 24 und teilten einer erstaunten jungen Korrespondentin mit: »Wir lassen uns scheiden. Unser offizielles Familienleben ist beendet.«
Die 55-jährige Ljudmila erklärte die Scheidung ganz einfach: »Mein Mann ist so beansprucht von den Staatsgeschäften, dass er selten zu Hause ist, und das kann einer treuen Hausfrau und Gattin, die sich nur hin und wieder mit den Problemen der Entwicklung der russischen Sprache im Land befasst, überhaupt nicht gefallen.« Der 60-jährige Wladimir Wladimirowitsch hatte gegen die Argumente seiner Frau nichts einzuwenden und fügte nur hinzu, dass die Scheidung ein gemeinsam gefasster Beschluss sei. Also ohne Überredung oder gar Gewaltanwendung.
Für die Mehrheit der Vertreter der russischen Elite, ganz zu schweigen von den breiten Volksmassen, kam die Nachricht über die Veränderung des Familienstands des unabsetzbaren russischen Anführers gelinde gesagt unerwartet. Der treu ergebene Pressesprecher des Präsidenten, Dmitri Peskow, beeilte sich zu erklären, man solle keine Phantasien bezüglich Putins Privatleben hegen, das Staatsoberhaupt habe dafür einfach keine Zeit, und um einen Ausspruch der englischen Königin Elizabeth I. zu paraphrasieren: Er sei mit Russland verheiratet.
Doch wenn man von den Mächtigen gebeten wird, sich bei einem derart delikaten Thema keine Phantasien zu erlauben, wird damit der gegenteilige Effekt erreicht: Die Phantasie bricht von allein in den ungehörigen russischen Kopf hinein. Sofort entstanden unzählige Theorien, was mit Wladimir und Ljudmila gleich nach der Scheidung passieren würde. Heute können wir folgende Ansichten für einigermaßen überzeugend und nachgeprüft gelten lassen:
•Die Scheidung ging von Ljudmila Putina aus, die den formalen Stand der Dinge mit dem faktischen in Übereinstimmung bringen wollte – nachdem das Paar seit fünfzehn Jahren praktisch getrennt lebte.
•Möglicherweise gibt es in Ljudmilas Leben einen neuen Mann, einen älteren Geheimdienstgeneral, worüber sich der Präsident von Russland nur freuen könnte; denn die beste Methode, um sich von den Ansprüchen seiner Frau freizuhalten, ist es, sie mit einem neuen Objekt der Aufmerksamkeit zu beschäftigen.
•Die Töchter der Putins haben mittlerweile ein eigenes Familienleben, sie brauchen keine tägliche elterliche Fürsorge mehr.
Putin hatte keine Angst vor den Folgen der Scheidung in der Öffentlichkeit, weil er einen psychologischen Wendepunkt durchschritten hat; in einer bestimmten Lebensphase in unmittelbarer Nähe der sechzig Jahre hatte er klar erfühlt, dass niemand mehr zwischen ihm und dem Herrgott steht, und »nach dem Tod von Mahatma Gandhi gibt es niemanden mehr zum Reden«. Ihm ist es egal, was die Eliten sagen, für die er sowieso der (noch) unauswechselbare Moderator bleibt, und erst recht, was das Volk meint, das entgegen aller slawophilen Bodenständigkeit und Einfachheit stets ein recht kühles Verhältnis zu den wahrhaften familiären Werten hatte.
Für einen Russen ist die wirkliche Härte des Lebens, der Grundstein des sozialen Lebens nach wie vor der Staat mit allen seinen Instrumentarien und Attributen, nicht die Familie. Der unserem Volk fehlende Familiensinn – der eher den Deutschen und Angelsachsen zu Eigen ist – ist vielen russischen Denkern aufgefallen, vor allem dem bekannten Philosophen Konstantin Leontjew in seinem Essay Byzantismus und Slawentum; wobei dieser fehlende Familiensinn nicht nur für Männer typisch ist, die a priori etwas leichtfüßiger sind, sondern auch für die Frauen. Leontjew sagte auch, dass bei einer Legalisierung der Freudenhäuser sich die deutsche Frau empören und versuchen würde, sie zu schließen, während die russische Frau sich diese Auswüchse wohl eher von innen und mit eigenen Augen würde anschauen wollen. Und schließlich: Warum sollte man eine Verurteilung einer Scheidung auf höchster Ebene in einem Land erwarten, in dem Anna Karenina von Lew Tolstoi der wichtigste Familienroman ist – die Erzählung vom Ehebruch der Protagonistin.
Die russischen Zaren waren daran gewöhnt, ihre Frauen auf Biegen und Brechen zu betrügen (zum Beispiel Alexander I., Nikolai I., Alexander II.) oder sogar zu töten (Iwan der Schreckliche, Stalin). Dasselbe gilt für die weiblichen Monarchen. Man erinnere sich nur daran, welche Rolle die Zarin Katharina die Große bei der Entthronung und dem Mord an ihrem rechtmäßigen Ehemann Pjotr III. gespielt hat, in dessen Adern eigentlich das Blut der Romanows floss.
Das alles hatte jedoch kaum Auswirkungen auf die Autorität der Herrscher. Putin musste also am Tag seiner Scheidung weder sinkende Umfragewerte noch einen tiefen Seufzer eines enttäuschten Volkes befürchten.
So ist Putin also allein geblieben, in der Stille seiner Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau, wo einst Ende der 1980er-Jahre der letzte Regierungschef der UdSSR, Michail Gorbatschow, als Herrscher des untergehenden Imperiums wohnte.
Übrigens reagierten einige Truppenteile und Scharen der Elite im Unterschied zum Präsidenten auf das Ende der langjährigen Ehe der Putins nervös. Und auch das ist erklärlich.
Die Ballettvorstellung Esmeralda und die Ankündigung der Scheidung ergaben sich ausgerechnet am Vortag der schicksalhaften verfassungsgebenden Sitzung der Gesamtrussischen Nationalen Front – der großen Schirmorganisation, die dazu berufen ist, alle oder fast alle Mitstreiter Putins zu vereinigen, ob sie nun zur Partei »Einiges Russland« gehören oder nicht. Die Gesamtrussische Nationale Front hatte von Anfang an erklärt, dass sie fest beabsichtige, auf traditionelle familiäre Werte zu setzen, weil sie zu den wichtigsten geistig-materiellen Grundfesten der Russischen Föderation gehörten. (»Grundfesten« ist ein Wort, das die Kreml-Politikmacher aus der Mottenkiste geholt haben, um damit die Nation zusammenzuschweißen. Damit soll dem russischen Volk, das in der postsowjetischen Zeit durch eine in seiner Geschichte einzigartige Periode der Individualisierung und Atomisierung gegangen ist, eine gewisse einheitliche mental-inhaltliche Form gegeben werden.)
Ganz offen litt auch die legendäre Abgeordnete der Staatsduma Jelena Misulina, die in den 1990er-Jahren ihre Karriere in der linksliberalen Partei »Jabloko« begann (deren Chef und Gesicht Grigori Jawlinski ist) und mittlerweile der kremlnahen, wenn auch nominell oppositionellen sozialdemokratischen Partei »Gerechtes Russland« angehört. Mit ihrem eigenwilligen Verständnis der Vorbildfunktion von Wladimir Putin sowie der Aufgaben, die ein Anführer seinem Land bei einer weiteren Etappe seiner öden Entwicklung vorstellen soll und kann, erarbeitete Frau Misulina 2012/13 ein in aller Welt bekannt gewordenes Gesetz gegen die Propaganda von Homosexualität. Außerdem ist die Abgeordnete Misulina Urheberin des Programms zur Stärkung familiärer Werte in Russland, zu dessen Schlüsselpunkten die Bekämpfung von Scheidungen zählt. Und nun dieser Affront!
Ja, und der Vorsteher der Russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats Kirill (Gundjaew) hatte sich auch ziemlich aus dem Fenster gelehnt. Viele Monate vor dem schicksalhaften Kreml-Ballett hatte Patriarch Kirill in Predigten, in den Zeitungen und im Fernsehen, im Internet und in privaten Gesprächen auf alle eingeredet, dass ein ordentlicher russisch-orthodoxer Mensch nicht das Recht habe, sich von seiner gesetzmäßigen Gattin zu trennen. Denn Mann und Frau müssten bis zum Ende ihrer Erdentage Freud und Leid miteinander teilen.
Nach dem 6. Juni 2013 muss der Kirchenfürst nun Wladimir Putin als unordentlich und unorthodox bezeichnen (schrecklich auszusprechen, noch schrecklicher zu denken!) oder seine früheren Ansichten über das Übel einer Scheidung desavouieren. Er zog einen normalen Kompromiss vor, wofür die russisch-orthodoxe Kirche in schwierigen Situationen schon immer gerühmt wurde – er schwieg. Als hätte es keine Putin-Scheidung gegeben. Der Patriarch war im entscheidenden Moment zu beschäftigt, um sich mit derartigen Kleinigkeiten abzugeben.
Mit seiner radikalen Geste hatte der Präsident natürlich einmal mehr bewiesen, wie sehr er seine formalen Mitstreiter und Wegbegleiter schätzt und welcher Preis für seine Gala-Rhetorik zu zahlen ist. Was soll’s, jeder, der in den Genuss der Kreml-Vorzüge unter den Bedingungen des modernen Russland kommen will, sollte rechtzeitig die Kunst der Selbsterniedrigung lernen.
Diejenigen, denen aufgetragen ist, sich um Putins Image als Macho und Sexbombe zu sorgen, versuchen dennoch, dem Bewusstsein der Welt ein ganz anderes Bild einzupflanzen.