Kapitel 13: Die tschetschenische Internationale

Tschetschenien ist für Putins Russland und für ihn persönlich etwas Heiliges, auch wenn es sich dabei um eine islamische Region handelt und das (zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches) amtierende Oberhaupt des russischen Staates sich als russisch-orthodoxen Christen bezeichnet.

Übrigens sind sowohl die erste wie auch die zweite Behauptung relativ. In der Tschetschenischen Republik – der bekanntesten Region des russischen Nordkaukasus – herrschen bis zum heutigen Tag eher stammesartige, neoheidnische Bräuche, und der entsprechende Gesetzeskodex ist der Adat, der faktisch über dem islamischen Recht (Scharia) steht. (Dennoch kann man nicht leugnen, dass der Präsident der Republik, Ramsan Kadyrow, formal große Anstrengungen für eine Islamisierung der Region unternimmt.)

Ähnliches lässt sich über Putin sagen. Er ist weniger ein hundertprozentiger Christ als vielmehr ein Vertreter der klassischen russischen Religiosität, einer äußerlichen Orthodoxie mit heidnischen Einsprengseln, die darin eingelassen sind wie Brillanten und Rubine in die Zarenkrone. Dank des tschetschenischen Themas und des Wortes »Tschetschenien« wurde WWP überhaupt erst zum Präsidenten von Russland, und er fühlt sich auf dem russischen Thron bis heute recht sicher.

Dabei wissen wir, dass er anfangs gar nicht russisches Staatsoberhaupt werden wollte. Tschetschenien jedoch brachte ihn auf den Weg dorthin, berief ihn auf seinen Posten, kann ihn nicht mehr entlassen. So wie auch er die Bergrepublik – rein formal – nicht aus dem Bestand der Russischen Föderation entlassen konnte.

Auch wenn es für ein weiteres Verständnis seiner Person unabdingbar ist, erinnert sich heute kaum noch jemand daran, dass Putin nicht einen der tschetschenischen Kriege begonnen hat. Beide Kriege (1994 und 1999) entsprachen dem politischen Willen von Boris Jelzin. Ja, der Krieg 1999 war ein Bestandteil der »Operation Nachfolger« und konnte in diesem Sinne geführt werden, um damit auch Aksjonenko oder Stepaschin zu nutzen. Aber eine Entscheidung dieses Niveaus konnte bis zu seinem Abpfiff (am 31. Dezember 1999) nur Jelzin treffen.

Wenn man also jemanden für die beiden »Anti-Terror-Operationen« in Tschetschenien vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bringen will, dann müsste es der selige Jelzin sein.

Faktisch gewann Tschetschenien den zweiten Krieg (1999 bis 2003), was Putin praktisch zugegeben hat. Der andere Krieg von 1994 sollte das Unmögliche möglich machen – eine Wiederwahl Boris Jelzins für eine zweite Amtszeit. Er wurde 1999 erneut entfacht, um Wladimir Putin den Weg in den Kreml als Jelzins Nachfolger zu ebnen.

Vielleicht geht er aber auch auf den Krieg zurück, den das russische Imperium bereits 1817 anzettelte und 1864 fälschlicherweise für siegreich beendet erklärte. Der Krieg um die Kontrolle des Nordkaukasus hatte fast zweihundert Jahre gedauert. Sein Sinn liegt auf der Hand: Für das Imperium war weniger der Nordkaukasus selbst von Bedeutung als vielmehr die verlässliche Verbindung zu dem von ihm kontrollierten Transkaukasus – Georgien, Armenien, das heutige Aserbaidschan. Damit der Hund nicht ausbüchste, brauchte man eine Leine – und zwar die Territorien, die heute zur Russischen Föderation zählen und Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan heißen.

Die Geschichte der jüngeren Tschetschenien-Kriege begann 1991. Zu diesem Zeitpunkt erklärte Tschetschenien, das sich formal Tschetschenisch-Inguschetische Autonome Republik innerhalb des Verbundes von Russland nannte, seine volle staatliche Autonomie. Anführer und Aushängeschild dieses Prozesses wurde Dschochar Dudajew, Generalmajor der sowjetischen Luftstreitkräfte – nicht nur ein beispielhafter sowjetischer Offizier, sondern auch ein typischer Vertreter des »sowjetischen Volkes«. Dudajew hatte einige Jahre im kaukasusfernen Estland gedient, wo er auch eine estnische Frau namens Alla geheiratet und eine nach sowjetischen Maßstäben mustergültige interethnische Familie gegründet hatte. Dann kehrte er in heimatliche Gefilde zurück, um 1991 bei den Republikwahlen zu gewinnen und den Kurs auf eine vollständige Autonomie zu verkünden.

In seiner Entscheidung überwog das Sowjetische sowohl über das traditionell Tschetschenische als auch über das Islamische. Die UdSSR fiel unaufhaltbar auseinander, und der sowjetische Offizier erkannte die verbündete Russische Föderative Republik nicht als legitimen Rechtsnachfolger der Supermacht an. Das hieß: Seine kleine, aber sehr stolze Republik, Erbin des politischen und militärischen Ruhms von Imam Schamil und Scheich Mansur, die dem mächtigen Russischen Imperium im 19. Jahrhundert so viele Probleme bereitet hatten, verdiente die Unabhängigkeit nicht weniger als irgendeine RSFSR. De facto wurde sie ihr auch zugestanden – Ende 1991, Anfang 1992, als die Sowjetunion endgültig zu Gott heimgerufen wurde.

Von diesem Moment an begann der massenhafte Auszug der Russen aus Tschetschenien. Dazu muss man wissen, dass die Hauptstadt Grosny 1991 eine typisch sowjetische Stadt war. Ethnische Russen und Juden machten nicht nur einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Tschetscheniens aus, sondern auch der lokalen Elite. In der Zeit von 1991 bis 1993 verwandelte sich Tschetschenien in eine monoethnische Enklave, die hervorragend mit sowjetischen Waffen ausgerüstet und bereit war, bis zu einem siegreichen Ende für die eigene Freiheit zu kämpfen.

Gegen Boris Jelzin wurden schwere Vorwürfe wegen des Verlusts eines Teils des russischen Territoriums erhoben, mit denen er sich nicht abfinden konnte. Also musste er sich etwas ausdenken und handeln. Doch die Vorbereitung entschlossener Schritte würde eine Weile dauern.

Der Kreml hatte viel Zeit damit zugebracht, die islamischen Regionen an der Wolga, Tatarstan (Tatarien) und Baschkortostan (Baschkirien), in den Dunstkreis seiner Kontrolle zurückzuholen. ­Später, nach dem Beschuss des Parlaments im Oktober 1993, mussten auch noch einige Anstrengungen unternommen werden, um sich die Loyalität des Gouverneurs der Region Primorje (informell das Zentrum des russischen fernen Ostens) Jewgeni Nasdratenko zu sichern, der sich ebenfalls als kleiner Zar einer selbstständigen Region wähnte.

Der Kreml konnte den Gouverneur des Gebiets von Swerdlowsk, Eduard Rossel, in die Schranken weisen, der eine Republik Ural mit unklarem Status innerhalb des russischen Bundes schaffen und in diesem neuen Quasistaat sogar eine eigene Währung namens »Uralfranken« einführen wollte.

Jelzin stand in jenen Jahren also nicht so recht der Sinn nach Tsche­tschenien. Vielleicht hatte Putins Vorgänger mit seiner animalischen Intuition auch begriffen: Tschetschenien und Dudajew sind ein äußerst schwieriges Problem, das man erst dann angehen kann, wenn die Lösung keinen Tag Aufschub mehr duldet.

Im Frühjahr 1994 wurde Arkadi Wolski zu Dudajew nach Grosny geschickt. Wolski war Präsident des Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes und Parteiapparatschik mit langjähriger Dienstzeit – früher hatte er im ZK der KPdSU die Abteilung Maschinenbau geleitet. Ende der 1980er-Jahre kümmerte er sich im Auftrag von Michail Gorbatschow um die Regulierung des Konflikts in Nagorny Karabach, einer von ethnischen Armeniern besiedelten, separatistischen Enklave von Aserbaidschan.

Im Namen von Boris Jelzin bot Wolski dem Anführer der Republik Itschkeria (wie sich Tschetschenien nun nannte) die jordanische Staatsbürgerschaft, eine ordentliche Summe Geldes in amerikanischen Dollars sowie eine Sicherheitsgarantie bei der Übersiedlung des Generals und seiner Angehörigen in den Nahen Osten an. Dafür sollte Dudajew zurücktreten und dem Kreml die faktische Kontrolle über die Republik geben.

Doch Jelzins Emissär stieß auf kategorische Ablehnung. Dudajew sagte ganz direkt, er wolle lieber in seiner Heimat sterben, als sich von der Idee der Unabhängigkeit zu verabschieden. Erzürnt rief er dem Emissär Wolski zu: »Ich habe mich in Ihnen getäuscht.«

Der Tag X, der »Tag der Schlacht«, der als Signal für die politische Kampagne des Jahres 1996 diente, war im November 1994 gekommen. Nach der »Schocktherapie« der Liberalisierungsreformen von Jegor Gaidar und seinen Nachfolgern, nach dem Einsetzen einer Massennostalgie nach der kommunistischen Zeit mit ihrem funktionierenden Sozialsystem und den Institutionen zur Sozialisierung des Menschen generell, nach dem Entstehen einer um sich greifenden Psychose zum Thema »Unter Stalin waren wir jung, da wusste man noch, was Liebe ist«, nach all dem Bedauern darüber, dass man die parlamentarische Demokratie in Russland unter Beschuss gesetzt hatte, konnte sich Boris Jelzin sicher sein, dass er die Präsidentenwahlen 1996 nicht so einfach gewinnen würde.

Was er brauchte, war ein »kleiner siegreicher Krieg«. Arena und Stoßrichtung sollten Tschetschenien sein. Man wollte das separatistische Regime von Dudajew zermalmen und die aufständische Republik in den Mutterschoß des föderalen Zentrums zurückführen – was hätte ein besserer Grund sein können, Jelzin für eine zweite Amtszeit zu wählen?

Viele Mitstreiter des ersten, demokratisch gewählten Präsidenten von Russland wollten ihn von voreiligen Entscheidungen abhalten. Es waren Menschen, die sich konträr gegenüberstanden – ideologisch, mental und kulturell: von Jegor Gaidar bis Alexander Korschakow. Aber Jelzin setzte seinen Willen durch. Erstens lag es daran, dass der »kühne Boris«, der es riskiert hatte, im August 1991 das Staatliche Komitee für außergewöhnliche Zwischenfälle mit seiner gesamten Machtmaschinerie herauszufordern, sein wahres politisches Glück nur in radikalen Lösungen fand und in revolutionären Entscheidungen einen Abglanz seines Leitsterns sah. Zweitens machte dem Kreml-Herren der Verteidigungsminister der Russischen Föderation, Armeegeneral Pawel Gratschow, den Krieg schmackhaft. In den Tagen des Putsches im August 1991 hatte der Oberkommandant der Luftlandetruppen der UdSSR als einer der ersten sowjetischen Offiziere hohen Ranges Jelzin die Treue gehalten und die Anweisungen des Staatlichen Komitees für außergewöhnliche Zwischenfälle ignoriert. Zum Dank wurde er 1991 zum ersten Verteidigungsminister der unabhängigen RSFSR ernannt.

Seine wesentlichen Pluspunkte holte sich General Gratschow jedoch etwas später – am 3. und 4. Oktober 1993 –, als das Staatsoberhaupt, das entgegen der russischen Verfassung das Parlament aufgelöst hatte, auf den bewaffneten Widerstand mehrerer feindlicher Gruppierungen stieß, die sich im Gebäude des Obersten Sowjets verschanzt hatten, dem berüchtigten Weißen Haus an der Krasnopresnenskaja nabereschnaja. Die Konfrontation mit dem aufgelösten Höchsten Sowjet, dessen Anhängern das Weiße Haus als letztes Bollwerk geblieben war, konnte nicht friedlich enden. Das Weiße Haus musste gestürmt werden, andernfalls hätte Jelzin ernsthaft einen Machtverlust und einen Umsturz riskiert.

In diesem Moment gab ihm das Ministerium für Staatssicherheit – der Nachfolger des legendären KGB – zu verstehen, dass seine Interessen nicht mit denen von Jelzin übereinstimmten und es nicht bereit war, Befehle zum Blutvergießen auszuführen. Alle Hoffnung lag nun auf dem Verteidigungsministerium und Gratschows Getreuen. Sie ließen Jelzin nicht im Stich.

Das Weiße Haus wurde am 4. Oktober von Panzern beschossen, wonach Spezialeinheiten ungehindert das Gebäude betreten und alle Anführer der aufständischen Abgeordneten verhaften konnten, einschließlich des Sprechers des Höchsten Sowjets Ruslan Chasbulatow und des Vize-Präsidenten Alexander Ruzkoi. Der Präsident der Russischen Föderation hatte also allen Grund, Gratschow zu vertrauen.

Dieser versuchte nun, Jelzin, sich und die Nation davon zu überzeugen, man könne Grosny quasi mit den Truppen »eines Fallschirmjägerregiments« einnehmen. Dabei war Gratschow nicht nur ein außergewöhnlich gerissener Höfling, der dem politischen Führer lediglich das empfahl, was dieser wollte. (Wir erinnern uns an ein ähnliches Verhalten von Alexander Woloschin im Jahr 2000, als Putin nicht zum Katastrophen-U-Boot Kursk fahren wollte und seine Höflinge ihm erklärten, warum er mit seinem Aufschiebeverhalten absolut richtig lag.) Darüber hinaus muss jede Armee ab und zu einen wie auch immer gearteten Krieg führen, um das Land und die Gesellschaft an ihre Unverzichtbarkeit zu erinnern. Ohne Krieg rostet eine Armee und ähnelt früher oder später einem Nassauer, einem parasitären Gewächs am Staatskörper, das ziellos gigantische Mittel des Steuerzahlers verschlingt.

Im November 1994 setzten sich die föderalen Panzer Richtung Tschetschenien in Bewegung. Die Republik wurde geradezu dem Erdboden gleichgemacht. Vom Schauplatz der Kriegshandlungen kamen die Särge mit russischen Soldaten zunächst zu Hunderten, dann zu Tausenden zurück. Dennoch wollte sich kein Triumphgefühl einstellen, weder bei den Eliten der Gesellschaft noch in den Massenmedien.

Anfang 1996 wusste man, dass Jelzin mit dem Thema »kleiner siegreicher Krieg« politisch nicht weit kommen würde. Daraufhin wurde ein alternatives, zutiefst antikommunistisches Szenario der Wiederwahl des Präsidenten für eine zweite Amtszeit erwogen, erdacht von Boris Beresowski, Anatoli Tschubais und ihren damaligen Gleichgesinnten.

Was Tschetschenien betraf, so meinte Jelzin, ein »schlechter Frieden« sei besser als ein »gerechter Krieg«.

Bereits 1995 hatten in der formal befriedeten, aber in Wirklichkeit keineswegs untertänigen Bergrepublik Präsidentschaftswahlen stattgefunden, die der Günstling des Kremls, der ehemalige Erste Sekretär des Tschetscheno-Inguschetischen Komitees der KPdSU Doku Sawgajew gewann. Doch Herr Sawgajew wurde keineswegs das legitime Oberhaupt von Tschetschenien. Er war nicht einmal in der Lage, seine Residenz in dem von föderalen Fliegern zerbombten Grosny zu errichten, und hielt sich in einem extra abgesicherten Objekt auf – dem Militärflughafen Sewerny in der Nähe der tschetschenischen Hauptstadt.

Im April 1996 fand General Dschochar Dudajew in den Bergen seinen Tod. Er wurde von einer ferngesteuerten Rakete getroffen, die von einem Standort der russischen Truppen abgefeuert worden war. Man konnte Dudajew deswegen anpeilen, weil er im Moment des Angriffs über das System Iridium sprach (das damals als Kommunikationsmittel zu schlecht erreichbaren Orten sehr beliebt war). Er telefonierte gerade mit dem marginalen russischen Politiker und ehemaligen Börsenbroker Konstantin Borowoi, der als einer der wenigen politisch aktiven russischen Bürger mit dem Führer des tschetschenischen Aufstandes sympathisierte. In Wirklichkeit wird Borowoi wohl eine delikate Mission der russischen Geheimdienste ausgeführt haben, wofür er auch die Verbindung zu Dudajew hergestellt haben dürfte.

In der Neujahrsnacht des Jahres 1996 stürmten die Truppen des unabhängigen Itschkerias Grosny und stellten die Kontrolle über ihre Hauptstadt wieder her. Der Kreml, dem die militärischen Argumente ausgegangen waren und der innerhalb der russischen Bevölkerung auf immer mehr Unzufriedenheit mit der militärischen Aktion stieß, musste nun feststellen, dass er den »Ersten Tschetschenien-Krieg« verloren hatte.

Nach Jelzins erzwungenem und fadem Wahlsieg für eine zweite Amtsperiode als Präsident ließ Moskau freie Wahlen in Tschetschenien zu, das nun ohne Dudajew existierte. Erwartungsgemäß siegten die Separatisten. Präsident der Republik und Regierungschef wurde Aslan Maschadow, Oberst der sowjetischen Armee und Leiter von Dudajews Stab. Als Zweiter erreichte der junge Anführer der aufständischen Einheiten Schamil Bassajew das Ziel, der dafür mit dem Posten des ersten Vize-Ministerpräsidenten von Tschetschenien geehrt wurde.

Maschadow und Bassajew mochten sich nicht und waren meist verfeindet, aber einig in ihrem Wunsch nach einer Separierung von Moskau und der Ablehnung einer Mitgliedschaft ihrer Republik in der Russischen Föderation. Gemeinsam lösten sie Dudajews nominalen Nachfolger Selimchan Jandarbijew ab, den Vize-Präsidenten von Tschetschenien, der einige Monate nach dem Tod des Generals die Präsidentenpflichten übernommen hatte.

Auffällig war, dass im Mai 1996, kurz vor dem ersten Durchgang der russischen Präsidentschaftswahlen, Selimchan Jandarbijew und seine tschetschenischen Kollegen Jelzin ganz reale Hilfe leisteten. Die nachvollziehbaren Gefahren missachtend, waren sie nach Moskau gekommen und hatten sich vor laufenden Kameras mit dem föderalen Präsidenten getroffen, wobei sie sich gehorsam und geradezu untertänig zeigten.

Die Anführer des unabhängigen Tschetschenien erwiesen sich als brauchbare Schauspieler – dem tschetschenischen Volk liegt die Verstellungskunst generell im Blut, wie die Geschichte zeigt. Jelzin ließ es im Äther donnern und krachen, schimpfte auf Jandarbijew und seine Gefährten wie ein Rohrspatz, und die tschetschenische Delegation, die kurzzeitig ihre kriegerische Unabhängigkeitsmoral vergaß, verteidigte sich nur matt. Dem russischen Fernsehzuschauer musste ein solches Schauspiel natürlich gefallen.

Wie auch nicht: Wenn Jelzin auch den »kleinen siegreichen Krieg« verloren hatte, machte er die Sieger dennoch nass wie kleine Jungs! Jandarbijew agierte durchaus pragmatisch: Er wusste bereits, dass Moskau nach den Wahlen Friedensverhandlungen führen und einer faktischen Unabhängigkeit Tschetscheniens zustimmen würde. Man hatte ihn vorweg informiert, bereits während der Vorbereitung des äußerlich seltsamen, aber seinem Wesen nach völlig logischen Staatsbesuchs im vermeintlich feindlichen Moskau.

Im Juli 1996 holte Boris Jelzin seinen nominalen Wahlgegner ins Boot, der in Wirklichkeit ebenfalls vom Kreml positioniert worden war, um dem Kommunisten Gennadi Sjuganow Stimmen wegzunehmen. Es war Alexander Lebed, ehemaliger Oberkommandeur der 14. Armee, die im nicht anerkannten Transnistrien der Republik Moldau stationiert war. Der charismatische und brutale General Lebedew, der in seinem tiefsten Inneren alles andere als töricht oder ungebildet war, wurde von Boris Beresowski und Wladimir Gussinski mit allen möglichen finanziellen, organisatorischen und informativen Möglichkeiten ausgestattet und erreichte im ersten Wahldurchgang 15 Prozent der Stimmen. Danach willigte er ein, unter Jelzin Sekretär des Sicherheitsrats und Assistent des Präsidenten für Nationale Sicherheit zu werden, nachdem er seinem älteren Konkurrenten seine Wählerstimmen überlassen hatte.

Teilweise funktionierte das. Denn neben dem langweiligen Sjuganow punktete Lebed beim oppositionellen Wähler durch seine Jugend (obwohl er nur sechs Jahre jünger war als der diensttuende Kommunist, wirkte er einer anderen Generation zugehörig), durch seine unbändige Energie und den groben Glanz seiner zerhackten Sätze. »Hinfallen – reinfallen«, »Wer zuerst schießt, lacht am längsten«, »Mit verbundenen Augen schwimmt es sich schlecht in Salzsäure« – Lebeds Aphorismen werden dem Land noch lange im Gedächtnis bleiben.

Bemerkenswerterweise war General Lebed ein heftiger Gegner von Pawel Gratschow und stellte bei seiner Ernennung zum Sekretär des Sicherheitsrats die Bedingung, der Verteidigungsminister müsse unverzüglich ausgewechselt werden. Im Sommer 1996 stimmte Jelzin der »Auslieferung« seines treuen Ministers leidenschaftslos zu. Die gegebenen politischen Umstände erforderten dies, und Jelzin war bis ins Mark Politiker: in Strategie und Taktik, bestrafend und begnadigend, in Treue und Verrat. Er unternahm wichtige und hoch wichtige Entscheidungen nur aus politischen Motiven, andere Gründe waren für ihn stets zweitrangig.

Dergleichen lässt sich über unseren Helden Wladimir Putin nicht sagen. Sein Leben lang scheint er sich von der Politik freizuboxen und trifft seine Entscheidungen in erster Linie nach persönlicher Sympathie oder Antipathie, aufgrund seines eigenen Verständnisses moralischer Normen (gemäß einem »Mafia-Kodex«, nach dem heute ganz Russland lebt) und natürlich im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen – seine eigenen und die des Staates.

Bald nach Jelzins Amtseinführung machte sich der Sekretär des Sicherheitsrates auf den Weg nach Tschetschenien und initiierte das sogenannte Abkommen von Chasawjurt (einer kleinen Stadt auf dagestanischem Territorium), das am 31. August unterzeichnet wurde und das Kriegsende sowie die Parameter der tschetschenischen Unabhängigkeit festschrieb. Gemäß dem Abkommen wurden die föderalen Streitkräfte vollständig aus Tschetschenien abgezogen, wobei eine Entscheidung über den Status der Republik auf den 31. Dezember 2001 verschoben wurde. Die aufständische Region war damit nicht formal, aber faktisch unabhängig.

Alle waren vom Vorgehen General Lebeds begeistert – von den Ultraliberalen bis hin zu den patentierten patriotischen Kommunisten sowjetischen Musters. Es hatte sich gezeigt: Er war es, der ersehnte Nachfolger des Präsidenten, der künftige zweite demokratisch gewählte Präsident der Russischen Föderation.

Selbstverständlich musste Lebeds jäher politischer Höhenflug, der in vielerlei Hinsicht durch Jelzins Team begünstigt worden war, bei diesem bitteren Neid hervorrufen. Zum Herbstende 1996 schickte der Präsident den Sekretär des Sicherheitsrats in den Ruhestand. Die politische Karriere von Alexander Lebed war damit aber noch nicht vorbei.

Im Frühjahr 1998 gewann er nicht ohne Glanz die Gouverneurswahlen in der Region Krasnojarsk – einer der größten Regionen des russischen Sibirien, berühmt als »russisches New Hampshire«. Hier spiegelt das Wahlverhalten des Elektorats am meisten die allgemeine politische Stimmung in Russland wider. Das Land wollte damals einen coolen Machtmenschen, und in Person von Lebed forderte das »russische New Hampshire« ihn ein.

Die beiden Höhepunkte des Wahlkampfes waren Alain Delons Besuch in der Stadt Krasnojarsk – ihn hatte Lebed während einer Reise nach Paris im Herbst 1996 kennengelernt – und die Fernsehdebatten mit dem Amtsinhaber Gouverneur Waleri Subow, während deren der ehemalige Sekretär des Sicherheitsrats seinen Opponenten gekonnt Paroli bot (und damit die Vorstellung zerstreute, er sei dümmlich). Wieder kam Lebed als möglicher künftiger Präsident ins Gespräch. Im Sommer 1999 schlug Beresowski den General allen Ernstes als Chef des Pro-Kreml-Wahlblocks »Einheit« vor.

Aber der Jelzin-Clan wollte nichts mehr von dem charismatischen Mann wissen, in dessen völlige politische Abhängigkeit er geraten war. Dort, wo auf der Vorbühne eine Putin-Figur auftauchen sollte, konnte ein Politiker des Systems Lebed nicht mehr blühen und gedeihen. Ab dem Jahr 2000 begann Jelzins Nachfolger, den General still, aber konsequent abzudrängen, indem er ihn keinen übernationalen politischen Raum mehr gewinnen ließ. 2002 kam der Initiator des Abkommens von Chasawjurt bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, ohne seine zweiten Gouvernementswahlen erlebt zu haben.

Im Herbst 1996 wurde der gedanken- und willenlose Iwan Rybkin Sekretär des Sicherheitsrats. Er war Sprecher der ersten postsowjetischen Staatsduma gewesen, ein bescheidener Parteiapparatschik aus Woronesh und einer der nominalen Anführer der Agrarpartei. Sein offizieller Stellvertreter war immer noch Boris Beresowski. Dieser befasste sich vor allem mit dem Geiselproblem – der Befreiung von Menschen, die während des Krieges verschwunden waren. Es gelang ihm, einige Dutzend Menschen auszulösen.

Viele Beobachter meinten, die Planung des Zweiten Tschetschenien-Kriegs, der Putin in den Kreml beförderte, ginge auf Beresowski zurück. Daran habe ich meine Zweifel. Wohl kaum haben Jelzins Verwandte, ohne die der Zweite Tschetschenien-Krieg nicht hätte beginnen können, Beresowski eine derart geheime Information zukommen lassen, die, durch ein loses Mundwerk in aller Welt verbreitet, unausweichlich zum Scheitern des Plans geführt hätte.

Wahrscheinlicher ist, dass dieser Krieg ohne Beresowski geplant wurde. Sein Name wurde nur genannt, damit man »im Fall der Fälle«, zum Beispiel bei einem Scheitern, die gesamte Verantwortung auf den anrüchigsten der Beteiligten an diesem Unternehmen zur Sicherung von Jelzins politisch-wirtschaftlichem System abwälzen konnte.

Ich erinnere daran, dass der Zweite Tschetschenien-Krieg formal am 30. September 1999 begann, als die föderalen Streitkräfte wie im Mai 1996 auf das Territorium von Tschetschenien vorrückten. Dies geschah auf Erlass von Boris Jelzin vom 23. September. Der Erlass klang schwammig: »Zu den Maßnahmen einer Erhöhung der Effektivität von Anti-Terror-Maßnahmen auf dem Territorium der Nordkaukasus-Region der Russischen Föderation«. Das heißt, der Krieg wurde wie zuvor nicht offen als solcher bezeichnet und blieb eine »Anti-Terror-Maßnahme«. Dadurch musste der Präsident Russland nicht in den Kriegszustand versetzen oder, wie in der Verfassung vorgesehen, die Erlaubnis des Föderationsrats einholen, der höchsten Kammer des Parlaments, die dem Kreml gegenüber zu diesem Zeitpunkt weniger loyal war als heute. Der Föderationsrat hätte 1999 theoretisch die Ausrufung des Kriegszustandes ablehnen können und damit dem Szenario »Nachfolger« einen herben Schlag versetzt.

Doch Jelzins schicksalhafter Erlass kam nicht aus dem Nichts:

•Das Eindringen der Rebellen unter Schamil Bassajew und des Kriegsfürsten jordanischer Herkunft al-Chattab nach Dagestan (August 1999) war das erste Signal dafür, dass sich der Krieg auf andere Regionen Russlands ausbreiten konnte, wenn man »den Wurm nicht zertritt«, also Tschetschenien einen deutlichen Denkzettel verpasste, wobei diese Gefahr sich nicht auf die islamischen und kaukasischen Regionen beschränkte: aus Dagestan hätten die Rebellen durchaus in die Regionen Stawropol und Krasnodar vordringen können.

•Nach den Sprengungen einiger Wohnhäuser in Moskau sowie in den Kleinstädten Bujnaksk und Wolgodonsk schrieb die öffentliche Meinung, die bereits von Anspielungen der Politiker und Aussagen der Massenmedien vorgewärmt war, diese Aktionen sogleich den tschetschenischen Separatisten zu. Die Logik der damaligen Informationskampagne, die in ihrem hysterischen Ton und Tempo an Fahrt gewann, lautete: Man muss etwas tun, sonst sprengen uns die verfluchten Tschetschenen alle in die Luft!

Daraufhin fing man an, sich auf einen Krieg vorzubereiten, der im Schicksal von Wladimir Putin dieselbe Rolle spielen sollte wie der Putsch des Staatlichen Komitees für außergewöhnliche Zwischenfälle der UdSSR (1991) und der Beschuss des russischen Parlaments (1993) in der Karriere seines Vorgängers. Ja, Putin muss in diesem Sinne ein Präsident genannt werden, der über Leichen ging. Aber es gibt einen großen Unterschied.

Wladimir hatte es nicht nach Macht gedürstet – er willigte nur ein, Jelzins Nachfolger zu werden. Die blutigen Entscheidungen hatte nicht er getroffen, ganz im Unterschied zum Demokraten Jelzin, der niemals Halt machte vor dem Vergießen des menschlichen Lebenssafts. Das nimmt Putin nicht die Verantwortung, lässt den Machtwechsel aber in einem anderen Licht erscheinen.

Heute können wir mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass hinter der Entscheidung für den Krieg sowohl formal als auch faktisch die »Familie« (im weitesten Sinne) von Jelzin stand, wie auch hinter allen vorbereitenden Schritten, die den Krieg vor Russland und der ganzen Welt rechtfertigten, um damit gleichzeitig die Aufmerksamkeit davon abzulenken, warum er in Wirklichkeit geführt wurde.

Ich weiß nicht, wer die Wohnhäuser tatsächlich in die Luft gesprengt hat, deren Bewohner Jelzins Erlass vom 23. September 1999 sowie die folgenden Ereignisse an der tschetschenischen Front mit ihrem Leben rechtfertigen mussten. Aber ich stelle mir seitdem einige Fragen:

•Wenn man der Theorie von der »tschetschenischen Spur« glauben will – warum haben die Terroristen dann Häuser am Stadtrand in die Luft gesprengt, die von armen, unbekannten Menschen bewohnt waren? Beim löchrigen Sicherheitssystem jener Tage hätte man schließlich auch elitäre Gebäude im Moskauer Stadtzentrum sprengen können, was die einflussreichen Russen weit mehr geschockt hätte. Vielleicht hatte da jemand Mitleid mit seinesgleichen?

•Wenn man außerdem glauben möchte, dass die Tschetschenen die russischen Städter einschüchtern wollten, warum haben sie dann nicht den logischen Weg gewählt zu den Wohnstätten jener, von denen viele politische Entscheidungen abhingen? Warum hörten die Sprengungen nach dem Beginn der »erneuten Phase der Anti-Terror-Operationen« auf? Aus Sicht der separatistischen Terroristen hätte man derartige Aktivitäten verstärkt fortführen müssen, um den Kreml damit zu einer Einstellung der Kampfhandlungen und neuen Verhandlungen mit den Aufständischen zu bewegen.

Die wenigen, denen die Antwort auf diese Fragen bekannt ist, möchten sie möglichst lange unter Verschluss halten.

Ich bin mir nicht sicher – obwohl ich es mir vorstellen könnte –, ob Schamil Bassajew und al-Chattab nicht nur deshalb »termingerecht« in Dagestan eingedrungen sind, weil es sie juckte, mal wieder in eine Schlacht zu ziehen. Es mag wohl auch daran gelegen haben, dass sie vor allem das Szenario von 1996 wiederholen wollten. Damals hatte Boris Jelzin die tschetschenische Seite um Hilfe für den Sieg bei den Wahlen gebeten – und im Gegenzug kam es zum Abkommen von Chasawjurt und einer faktischen Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik.

Offenbar machte man Bassajew 1999 einen analogen Vorschlag: Du hilfst uns, den Nachfolger von Jelzin an die Macht zu bringen, und im Gegenzug nimmst du den Platz von Aslan Maschadow ein, wonach sich die ganze Arie mit der Anerkennung/Nichtanerkennung der Tschetschenischen Republik Itschkeria noch unbestimmt lange hinziehen kann. In der Frage der tschetschenischen Unabhängigkeit konnte man schließlich nach der Formel des bekannten europäischen Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts Eduard Bernstein vorgehen: Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles.

Wladimir Putin ist in der Folge so manches Mal öffentlich zu diesem Satz zurückgekehrt, wenn er ihn auch manchmal im Eifer des Gefechts, aus Ermüdung oder Vergesslichkeit Lew Trotzki zuschrieb. Wie eine Analyse seines öffentlichen Auftretens zeigt, erinnert sich Putin oft an das, was in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt oder ihn wenigstens ein bisschen berührt hat.

Dennoch ist der Architekt dieses Krieges und aller seiner ihn begleitenden Vereinbarungen nicht Putin, sondern Jelzins »Familie«. Wenn die Explosionen der Wohnhäuser in den tristen Schlafstädten russischer Städte eine Provokation waren, mit der der Zweite Tschetschenien-Krieg gerechtfertigt werden sollte, dann sind sie wohl kaum von Vertretern, Strukturen oder Unterabteilungen der offiziellen Geheimdienste angezettelt worden. Jelzin und seine nächste Umgebung hatten viel zu wenig Vertrauen in die Staatssicherheit.

Dazu gab es allen Grund: 1991 hatte der KGB der UdSSR, der damals so machtvoll und sowohl im militärischen als auch im juristischen Sinne mit allen Möglichkeiten ausgestattet war, die Sowjetmacht einfach verraten und die Augen vor dem Zerfall der seiner Obhut anvertrauten Supermacht verschlossen. 1993 dann zogen sich die Tschekisten aus der Verantwortung für den Sturm des Weißen Hauses, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass ein Sturz des Präsidenten und die Machtübernahme durch Ruslan Chasbulatow und Alexander Ruzkoi für sie eine völlig normale Entwicklungsmöglichkeit der Ereignisse darstellen würde. 1998, am Vorabend der großen Erschütterungen in der russischen Wirtschaft, entließ Jelzin ohne sichtbare Gründe oder verständliche Erklärungen den KGB-Kader General Nikolai Kowaljow vom Posten des Direktors des FSB der Russischen Föderation und ernannte stattdessen Wladimir Putin in dieses Amt, von dessen Verhältnis zu seiner Alma Mater wir bereits gesprochen haben.

Nein, alle diese Menschen konnten eine so delikate Mission wie die Vorbereitung auf einen tschetschenischen Krieg Nummer zwei nicht den offiziellen Gewaltstrukturen überlassen. All das wurde von informellen Strukturen übernommen, deren Vertreter man danach vernichtete, um alle Spuren zu verwischen.

Nicht ohne Grund habe ich der Jelzin-Zeit, den Beziehungen zwischen Russland und Tschetschenien und der tatsächlichen Genesis des Zweiten Tschetschenien-Kriegs so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn wir Putin so weit wie möglich verstehen wollen, müssen wir uns bewusst sein, dass es keine eigenständige Putin-Epoche gibt. Es gibt eine allgemeine Jelzin-Putin-Epoche, wie es eine einheitliche Jelzin-Putin-Elite und eine durchgängige Logik der Macht gibt.

Jelzin war bereit, viel Blut zu vergießen, damit Putin Präsident werden konnte. Auch wenn Putin sich nicht um das Präsidentenamt riss, schätzte er Jelzins Vorgehen aufrichtig und vergaß es ihm nie. Das, was der zweite russische Präsident nach dem Rücktritt des ersten tat, stellt keine Abweichung vom Kurs seines Vorgängers dar, und schon gar nicht gab es eine »Revanche der Geheimdienste«, wie klischeeverklebte Hirne immer noch meinen, die propagandistische Kon­struktionen anstelle der Realität analysieren.

Putin setzte all das fort, was Jelzin begonnen hatte – jedenfalls das, was objektiv durch den Umsturz im Oktober 1993 und die erzwungene Annahme einer neuen Verfassung im Dezember 1993 konstituiert worden war –, und führte es zu einem logischen Schluss. Das autoritäre Regime totaler Korruption, das wir Putin zuschreiben, ist eine direkte Folge aller Ereignisse, die sich zwischen dem 3./4. Oktober und dem 12. Dezember 1993 ereigneten. Der Zweite Tschetschenien-Krieg ist eine Etappe, kein Ausrutscher in der Gesamtgeschichte der modernen russischen Eliten, wie sehr sich die meisten von ihnen, die heute ihre Kinder in die euroatlantische Welt schicken, damit sie dort studieren und ein »zivilisiertes« Leben führen, auch vom blutigen Hintergrund ihres eigenen Werdegangs distanzieren.

Den eigentlichen Sinn des Zweiten Tschetschenien-Krieges ahnten oder kannten nur wenige. Die Generäle der sowjetisch-russischen Armee Viktor Kasanzew, Gennadi Troschew und Wladimir Schamanow, die den Angriff leiteten, waren ernsthaft davon überzeugt, dass dieser Krieg eine Sache der Ehrbezeugung gegenüber dem künftigen Nachfolger des Präsidenten sei, der den Streitkräften ihre frühere Autorität zurückgeben werde, wie auch einen besonderen Platz im System der Staatsgewalt. Ganz ehrlich sahen sie Putin im Gegensatz zu Jelzin und meinten, es bräche eine neue Epoche an, in der sich Russland »von den Knien erheben« werde.

Ein wörtliches Verständnis des Ausdrucks »Amtsnachfolger« kam ihnen nicht, beziehungsweise erst viel später in den Sinn, als man die durch föderale Fernsehsender stark popularisierten Generäle 1999/2000 auf dem Müllplatz der Geschichte entsorgte.

Viktor Kasanzew, der gewaltigste und erfahrenste von ihnen, befand sich 2000 bis 2004 auf dem herausragenden, aber ohne reale Befugnisse ausgestatteten Posten des Generalbevollmächtigten des russischen Präsidenten im Föderationskreis Südrussland, wonach er sich in der politischen Landschaft auflöste.

Der gewitzteste und feinsinnigste von ihnen – Gennadi Troschew – kam bei einem Flugzeugunglück in der Nähe von Perm 2006 ums Leben.

Der aktivste und aggressivste – Wladimir Schamanow –, der bereits 2000 gewisse Ambitionen auf den Präsidentenposten hatte verlauten lassen, vollzog 2001 eine durchdachte und zukunftsweisende politische Geste: Er stellte sich den Gouvernementswahlen im Gebiet Uljanowsk (einer depressiven Region an der Wolga, vor allem bekannt als Wahlheimat von Wladimir Iljitsch Lenin) und gewann sie bereits im ersten Wahlgang.

In Uljanowsk jedoch blieb Schamanow das Glück nicht hold. Auf dem Gouverneursposten gab er sich offen dem Alkohol hin und kooperierte mit einigen dubiosen Figuren des Business mit kriminellem Hintergrund. Die Sache endete damit, dass Schamanows Frau 2004 in einem Brief an Putin darum bat, ihren trinkfreudigen Mann vom obersten Posten des Verwaltungsgebiets abzuziehen.

Der Präsident kam der armen, notleidenden Frau sofort zu Hilfe: Der Held des zweiten tschetschenischen Krieges bekam einen bescheidenen Posten in der Hauptstadt als Assistent des Ministerpräsidenten Michail Fradkow. 2010 kehrte der General zwar als Kommandant der Luftlandetruppen zu den Streitkräften zurück. Aber da war er bereits ein anderer Schamanow: ohne Ambitionen und kämpferischen Glanz in den Augen.

Der Kreml tat alles, damit die Generäle, die man ohne besondere Mühe als wichtigste Polittechnologen von Putins Sieg 1999/2000 bezeichnen kann, sich nicht zu viel einbildeten und keine Wünsche hinsichtlich der politischen Macht hegten. Darin war er zweifellos überaus erfolgreich. In politischer Hinsicht haben in Russland nur zwei Menschen den Zweiten Tschetschenien-Krieg wirklich gewonnen – Wladimir Putin und natürlich Ramsan Kadyrow.

Ganz zu Beginn des Krieges gelang es Moskau, einige einflussreiche Tschetschenen auf die eigene Seite zu ziehen, die, angefangen bei Dudajews Zeiten, einen kompromisslosen Kampf für Russlands Unabhängigkeit geführt hatten. Darunter waren vor allem Mufti Achmat Kadyrow und Familie Jamadajew. Über diese außergewöhnlichen Persönlichkeiten ist gesondert zu sprechen – die meisten von ihnen kamen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gewaltsam zu Tode, nachdem sie Ramsan Kadyrow den Weg zur absoluten Macht in Tschetschenien geebnet hatten.

Achmat-Hāddsch Kadyrow (»Hāddsch« bezeichnet einen Moslem, der den Haddsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, unternommen hat) wurde wie die älteren Brüder der Familie Jamadajew in Kasachstan geboren. Dorthin waren 1944 einige Hunderttausend Tsche­tschenen auf Stalins Befehl deportiert worden – wegen ihrer Kollaboration mit den »deutsch-faschistischen Okkupanten«. Während der vegetarischen Phase des kommunistischen Regimes in den Tagen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU Leonid Breschnew kamen sie alle in ihre ursprüngliche Heimat Tschetschenien zurück.

Dort wurde am 5. Oktober 1976 im Dorf Zentoroi Achmat Kadyrows jüngster Sohn Ramsan geboren, der heute weit über die Grenzen Russlands als Herrscher der Bergrepublik von sich reden macht. Die Kadyrows und die Jamadajews gehören zu ein und derselben Sippe – dem sogenannten Tejp Benoi (Tejps sind die ursprünglichen Formen der kollektiven Organisation der tschetschenischen Ethnie).

Während des Ersten Tschetschenien-Krieges waren die Brüder Jamadajew Militärkommandanten, die auf der Seite von Dschochar Dudajew gegen Russland kämpften – für die absolute Unabhängigkeit. Achmat-Hāddsch Kadyrow war ein Mufti, der Russland den Dschihad erklärte. In der Folge wollte man Kadyrow Senior den Vorwurf machen, er habe angeblich dazu aufgerufen, dass jeder Tschetschene 150 Russen töten solle. Der Religionsführer wusste sich zu verteidigen: Nach eigenen Worten hatte er nicht dazu aufgerufen, jede tschetschenische Seele solle eine konkrete Zahl von Subjekten vernichten, sondern das Maximum – so viele wie möglich.

Für seine großen Verdienste in der Sache des tschetschenischen Widerstands wählten die Imams der Bezirke der Republik Achmat-Hāddsch Kadyrow 1995 zum Obermufti von Tschetschenien. Nach dem Tod von Dschochar Dudajew beschloss der ambitionierte Islamist, er könne Tschetschenien nicht schlechter lenken als der betagte Oberst. Er erreichte seine Wahl zum militärischen Amir – dem obersten Feldherren der Republik, dem der Idee nach alle Streitkräfte untergeordnet sind.

Maschadow erkannte eine solche Eigenmächtigkeit verständlicherweise nicht an und entfernte seinen aggressiven Opponenten vom Posten des Obermuftis. Gleichzeitig erklärte er ihn zum Feind des tschetschenischen Volkes, was in der Tradition des Bergvolkes einem Todesurteil gleichkam, das jeder tschetschenische Mann, der eine Abneigung gegenüber Abtrünnigen und Meuterern empfindet, vollstrecken darf.

Achmat-Hāddsch Kadyrow erkannte seine Enthebung nicht an und erklärte, er könne nur von denen abgesetzt werden, die ihn gewählt hätten – also von den Imams der Bezirke, jedoch nicht von einem islamfernen Oberhaupt der Republik. Parallel brachte der Mufti eine propagandistische Kampagne ins Rollen, mit der er beweisen wollte, dass Aslan Maschadow die Situation in Tschetschenien nicht im Griff habe und man seinen Entscheidungen nicht unbedingt Folge leisten müsse.

In Wirklichkeit jedoch war ihm klar, dass das Spiel gegen Dudajews Nachfolger im Alleingang eine gefährliche und vielleicht sogar undankbare Angelegenheit war. Kadyrow Senior wurde bewusst, dass er verlässliche Partner brauchte – innerhalb von Tschetschenien und seines Tejps Benoi –, die Jamadajews. Zu dieser Zeit machten vor allem die beiden älteren Brüder Ruslan (Chalid) und Sulim (Sulejman) von sich reden. Außerhalb sollten die föderalen Streitkräfte seine Partner sein, die es gerade nach einem Krieg dürstete, der allerdings diesmal nicht so wie 1994/96, sondern siegreich enden sollte.

Bald nach Beginn des Zweiten Tschetschenien-Krieges erklärten Achmat-Hāddsch Kadyrow und die Jamadajews die tschetschenischen Bezirke Gudermes und Kurtschalojewsk zu Gebieten außerhalb von Maschadows Machtbefugnissen und übergaben den anrückenden föderalen Truppen die zweitgrößte Stadt der Republik Gudermes. Diese Ereignisse versetzten den sich zur Wehr setzenden Adepten der Unabhängigkeit einen herben moralisch-politischen Schlag. Von nun an standen Kadyrow und seine Partner auf der Seite Moskaus. Eine Ablösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation brauchten sie nicht mehr.

Achmat-Hāddsch wurde bewusst, dass er viel mehr bekommen konnte als nur den formalen Status eines unabhängigen Staates auf einem heruntergewirtschafteten, zerschossenen und schwer lenkbaren Bergterritorium. Er konnte eine faktische Unabhängigkeit bekommen, die mit gigantischen finanziellen Geldflüssen aus Moskau fundiert war. Im Gegenzug musste er nur einen formalen Schwur der Loyalität gegenüber dem »weißen Zaren«, dem Hausherren des Moskauer Kremls tun.

Wie sagt der altchinesische Weise Kuàiliáng, eine Figur aus Luó Guànzhōngs bekanntem Roman Die Geschichte der drei Reiche, in dem er seinen Herrscher überredet, sich dem mächtigen Feind zu ergeben? »Gehorsam und Ungehorsam sind relativ, Stärke und Schwäche jedoch absolut.« Die Weisheit des mittlerweile verstorbenen Muftis Kadyrow lag darin, dass er sich optimal den Realitäten im russischen Nordkaukasus Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts anzupassen vermochte.

Entscheidend war nicht, die Unabhängigkeit auszurufen. Es reichte, Gehorsam anzudeuten und dafür irdisches Wohlergehen zu erlangen, von dem seine Vorfahren und auch er selbst, ein Kind der kasachischen Aussiedlung, nur hatten träumen können. Die Übersetzung der These von Kuàiliáng in die moderne Sprache der Monetokratie (der Allmacht des Geldes) konnte für Achmat-Hāddsch lauten: Gehorsam und Ungehorsam sind relativ, das große Geld und sein Fehlen jedoch absolut.

Der Sturm von Grosny setzte kurz vor Neujahr 2000 ein und endete am 6. Februar 2001. Von der tschetschenischen Hauptstadt war nur ein Haufen rauchender Trümmer übrig geblieben. Aber wer trauerte schon um die zerstörte Stadt, wenn dank des Krieges Wladimir Putins Umfragewerte 52 Prozent erreichten? Und das bei einem Ausgangswert von 6 Prozent im August 1999! Das alles hatte der Zweite Tschetschenien-Krieg bewerkstelligt. Und der wollte nicht aufhören – es ging immer weiter. Aslan Maschadow, Schamil Bassajew und Ruslan Geljajew hatten Grosny im Februar 2000 verlassen und dachten nicht daran aufzugeben. Immerhin verfügten sie über die erfolgreiche Erfahrung des Ersten Tschetschenien-Krieges. Erfahrung ist ein schrecklicher Lehrmeister des Menschen.

Nach den Präsidentschaftswahlen 2000, die Putin als Präsidenten des Landes legitimierten, stellte sich endgültig die Frage nach den bürgerlichen Gewalten in Tschetschenien. Im März wurde die Republik – vorübergehend für die Zeit einer ausgedehnten Anti-Terror-Operation – einer direkten föderalen Verwaltung unterstellt. Wladimir Putin musste ein Oberhaupt für die Republik wählen. Und das tat er recht schnell: Achmat-Hāddsch Kadyrow.

Der 48-jährige Mufti, der kurz zuvor noch als Ideologe des antirussischen Dschihad aufgetreten war, schlug ein System strenger Verabredungen nach dem »Mafia-Kodex« vor: Ihr im Kreml gebt mir das Mandat für eine ungeteilte Macht in Tschetschenien, die Lizenz, alle meine Feinde zu töten, sowie ein reichhaltiges Finanzierungsbudget. Ich werde stets den Anschein erwecken, dass die Republik ein unverzichtbarer Teil von Russland ist. Ihr lasst mich den Krieg de facto gewinnen, und ich gebe euch das Recht zu behaupten, dass ihr den Krieg gewonnen habt.

Der Mufti hatte Glück: Er musste sich nicht mit dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten der Russischen Föderation abgeben, sondern hatte es bereits mit dem zweiten zu tun. Auch wenn Boris Jelzin während seines Lebens im Amt einige Transformationen hatte erdulden müssen, war er doch bis zum Schluss Ideologe geblieben. Wladimir Putin, der als Staatslenker den logischen Übergang von der sowjetischen Ideokratie zu einer postsowjetischen Monetokratie vollenden sollte, fühlte und wusste hingegen, dass Geld und »Mafia-Kodex« stärker sind als jede Ideologie. Darin waren sich der Kreml-Herr und der tschetschenische Mufti einig.

Allerdings sparte Selimchan Jandarbijew in jenen Tagen nicht mit Offenbarungen über die tiefgreifende Zusammenarbeit zwischen Kadyrow Senior mit dem KGB der UdSSR, die angeblich bereits in den 1980er-Jahren begonnen hatte. Äußerst seltsam war beispielsweise das Studium des künftigen Muftis in der Koranschule von Buchara (Usbekistan), die er ab 1981 besuchte und bereits nach zwei Jahren abschloss, obwohl die volle Ausbildung ganze sieben Jahre in Anspruch nahm. Da passte einiges nicht zusammen. Kadyrow behauptete, dass er die Mauern der Koranschule dreieinhalb Mal so schnell hinter sich lassen konnte, weil er sich seit seiner kasachischen Kindheit inbrünstig dem Koranstudium gewidmet hatte, doch das glaubten nur wenige.

Nach Jandarbijews Theorie hatten die Kriegsfürsten Schamil Bassajew und Ruslan Geljajew bei der Rückeroberung von Grosny während des Ersten Tschetschenien-Krieges das KGB-Archiv der Republik gefunden, in dem sich auch sehr viele den Mufti belastende Dokumente befanden. Allerdings ist nicht klar, warum die Separatisten so lange schwiegen – vielleicht hatten sie in ihrem Kampf um die Macht gegen Aslan Maschadow auf Achmat-Hāddsch gezählt? Wie auch immer, die Folgen seiner Offenheit bekam der ehemalige Vize-Präsident von Tschetschenien 2004 in vollem Maße zu spüren, als ihn russische Agenten in Doha, der Hauptstadt von Katar, in die Luft sprengten.

Zunächst meinte man, ein ethnischer Russe und direkter Abgesandter Moskaus könne als Ministerpräsident von Tschetschenien die Macht von Achmat-Hāddsch Kadyrow halten, begrenzen und kontrollieren. Als Ersten in dieses Amt wählte man 2003 den stellvertretenden Gouverneur des Verwaltungsgebiets von Wolgograd Anatoli Popow. Doch das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik zeigte ihm bald, was man im Nordkaukasus von Kontrolle und Rechenschaft hält.

Zwischen Kadyrow Senior und Popow kam es zu einem Zerwürfnis anlässlich der Finanzierung für den Bau einer großen Moschee aus dem föderalen Budget. Der Erste meinte, die Moschee müsse unbedingt gebaut werden, der Zweite hielt ihm entgegen, das Geld dafür sei im Budget nicht vorgesehen, und eine nicht zielgerichtete Verwendung von Staatsgeldern sei eine Straftat.

Das Ergebnis des Disputs: Auf einem Bankett in Grosny wurde Anatoli Popow vergiftet. Er konnte gerade noch gerettet werden, nachdem man ihn auf schnellstem Wege in ein Krankenhaus seiner Heimatstadt Wolgograd gebracht hatte. Sein Nachfolger auf dem Posten des Ministerpräsidenten der Republik Sergei Abramow zeigte sich hinsichtlich seiner Polemik bei Verhandlungen mit dem Präsidenten zu wichtigen wirtschaftlichen Fragen etwas zurückhaltender.

Zur selben Zeit wuchs auch die Bedeutung der Familie Jamadajew, in der neben Ruslan-Chalid und Sulim-Sulejman bereits jüngere Brüder in Erscheinung traten – Issa und Badrutdin. Die Jamadajews integrierten ihre Brigaden in die föderale Armee: Sulim wurde Kommandeur des offiziellen Bataillons der Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab Wostok. Allem Anschein nach sollte er nach dem Plan seiner Brüder die Rolle des wichtigsten militärischen Führers der Tschetschenischen Republik übernehmen. Für die Liquidierung des in Tschetschenien kämpfenden, besonders gefährlichen arabischen Söldners Abu l-Walid durch die Truppe Wostok wurde er 2005 als »Held Russlands« geehrt.

Ruslan hingegen steuerte politische Macht an: 2003 wurde er Abgeordneter der Staatsduma von Tschetschenien und nahm damit die erste Stufe der Karriereleiter. Der Weg zur Herrschaft über Tschetschenien – zunächst parallel mit Kadyrow Senior, dann unabhängig von ihm – schien einfach und klar.

Die Jamadajews wussten noch nicht, dass aus dem fauligen Schatten der Geschichte bald Ramsan Kadyrow treten würde, der vielen seiner Opponenten ein baldiges Wiedersehen mit den Huris an paradiesischen Orten bescheren sollte. Doch noch war Ramsan ein bescheidener Bewacher seines Vaters, der eilig eine eigene Garde zusammengestellt hatte: Verständlicherweise konnte er weder den föderalen Streitkräften noch den ehemaligen tschetschenischen Kriegsfürsten trauen, die von Zeit zu Zeit mit dem Mufti-Präsidenten in einem Boot saßen.

Noch ergaben sich die Separatisten nicht. Am 23. Oktober 2002 nahmen 44 Terroristen unter dem Anführer Mowsar Barajew, einem getreuen Adepten der tschetschenischen Unabhängigkeit, während einer Vorstellung des beliebten Musicals Nord-Ost in Moskau mehr als 800 Geiseln. Der Anschlag erschütterte ganz Russland. Wladimir Putins Macht hing einige Tage buchstäblich am seidenen Faden. Wie ein aus meiner Sicht recht zuverlässiges Apokryph sagt, betete der Präsident in jenen Tagen in der Hauskirche des Kremls. Am Abend des 25. Oktober stimmte der Leiter der russischen Präsidentenadministration Alexander Woloschin dem Plan zu, das Theaterzentrum zu stürmen.

Die Terroristen wurden mit einem Nervengift betäubt und dann erschossen. Aber auch viele Geiseln erlitten Gasvergiftungen. Die schwache Organisation von Krankentransporten führte dazu, dass 129 Opfer des Anschlags auf dem Weg in die Krankenhäuser oder in den Lazaretten starben. Die Ereignisse schockierten die russische Öffentlichkeit zutiefst. Dennoch hielt Putin stand. Und die »Befriedung« Tschetscheniens ging weiter.

Einen weiteren schweren Schlag musste WWP am 9. Mai 2004 hinnehmen. An diesem Tag fand im Stadion Dynamo in Grosny ein Konzert statt, das dem 59. Jahrestag des Sieges der UdSSR im Zweiten Weltkrieg gewidmet war. Die frisch renovierte VIP-Tribüne war von Präsident Kadyrow und seinem Gefolge besetzt. Noch bevor das Konzert begann, kam es hier zu einer starken Explosion. Sechs Menschen kamen ums Leben, darunter auch Achmat-Hāddsch Kadyrow und der Sprecher des tschetschenischen Parlaments Hussein Issajew. Sherlock Holmes, Hercule Poirot und Kommissar Maigret hätten endlos nach den Gründen für den Tod von Kadyrow Senior forschen können, ohne eine Antwort zu finden.

Die progressive Öffentlichkeit gibt immer gern den föderalen Streitkräften die Schuld an allem – angeblich wollten sie nicht die Kontrolle über Tschetschenien verlieren, was immer unvermeidbarer wurde, je mehr der Kadyrow-Clan sich festigte. Man weiß doch, dass seit Stalin und der Erschießung der Gruppe von hochrangigen Verschwörern beim Militär mit Marschall Michail Tuchatschowski an der Spitze im Jahre 1937 russische Offiziere keine Politik mehr machen – sie führen lediglich politische Entscheidungen aus, die sie nicht getroffen haben.

Ramsan Kadyrow, der an die Macht kam und sich dort mauserte, wies in Richtung Familie Jamadajew – sie seien es gewesen, die Achmat-Hāddsch Kadyrow schnellstens ablösen wollten. Quellen aus dem Umfeld der empörten Jamadajews hingegen deuteten auf eine mögliche Beteiligung von Kadyrow Junior selbst hin – angeblich habe sein Vater den zweiten Sohn nicht sonderlich geschätzt, und so sei Ramsan nur ein Weg geblieben, um handlungsfähig zu werden …

Nach offiziellen Angaben war der Mord natürlich von den übrig gebliebenen Separatisten geplant und durchgeführt worden. Bereits kurz vor seinem Tod 2006 hatte Schamil Bassajew auf der Internetseite Kawkas-Zentr erklärt, er übernehme die Verantwortung für dieses Verbrechen. Man weiß allerdings nicht, ob man diesem Geständnis Glauben schenken soll. Immerhin nehmen Terroristen ja immer ganz gern die Verantwortung für fremde Sünden auf sich – als weltweite Werbemaßnahme. Nach dem Verschwinden von Bassajew (der Ausdruck »Tod« kann hier nicht ganz zutreffend und richtig sein – wer weiß schon, ob der bekannte Terrorist tatsächlich getötet wurde?) konnte man dem »tschetschenischen Übeltäter« sowieso alles anhängen und alle realen und irrealen Beteiligten an diesem Drama zufriedenstellen. Zumindest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Am selben Tag, dem 9. Mai, wurde Ramsan Kadyrow von Putin im Kreml empfangen. Er erschien im wichtigsten Empfangszimmer des Landes in Trainingsanzug und Turnschuhen – als habe er es nicht geschafft, sich umzuziehen. Damit demonstrierte er ganz deutlich, dass er sich nicht für einen gehorsamen Ziehsohn der föderalen Macht hielt und es auch nie tun würde. Im Kaukasus haben derartige Zeichen, Symbole und Botschaften eine besondere Bedeutung.

Putin drückte Ramsan an seine liebende Brust und gab ihm zu verstehen, dass er in ihm die Fortführung der Sache des Vaters sehe, des Garanten und Wahrers des ursprünglichen »Mafia-Kodex« aus dem Jahr 2000. Intuitiv hat sich WWP kein bisschen geirrt. Sah er in Ramsan vielleicht auch einen eigenen Sohn? Konnte er sich endlich als Vater eines erwachsenen, starken Mannes fühlen? War dieses besondere Zusammentreffen nicht eine Bewusstwerdung seiner Pflicht als Waise gegenüber einer anderen Waise, die nun allein auf sich gestellt mit der harten Realität konfrontiert war? Ob dies zutrifft oder nicht – am 9. Mai 2004 begann die Epoche von Kadyrow Junior, die bis zum heutigen Tag anhält.

Man kann nicht sagen, dass die Mitstreiter und Weggefährten des entschlafenen Mufti-Präsidenten die Erhöhung von Kadyrow Junior mit Begeisterung aufgenommen hätten. Im Gegenteil. Sowohl die Brüder Jamadajew als auch andere Rebellen, die mit Beginn des Zweiten Tschetschenien-Krieges zur föderalen Seite gewechselt waren – der FSB-Offizier und Kommandant der Abteilung Gorez Mowladi Baissarow, der Leiter des Spezialbataillons Wostok der Hauptverwaltung für Aufklärung Bislan Elimchanow und einige andere –, stimmten darin überein, dass man Ramsan aufhalten müsse, solange es nicht zu spät sei.

Aber die föderalen Machtstrukturen verrieten im entscheidenden Moment sowohl Mowladi Baissarow, die Jamadajews als auch Elimchanow. Damit zeigte sich wieder einmal, wie trügerisch der Mythos vom »tschekistischen Russland« ist, das sein Präsident angeblich baut (oder nahezu fertiggestellt hat).

Kadyrow Junior konnte seine Macht recht schnell konsolidieren – sowohl in Fragen der Gewaltstruktur als auch in solchen der Wirtschaft. Ministerpräsident Sergei Abramow, der tschetschenischen Gesellschaft fremd und formal der direkte Vorgesetzte von Ramsan, störte ihn bereits nach kurzer Zeit. Aber Abramow verstand die Anspielungen nicht, die ihm andeuteten, dass er seinen Posten räumen solle. Im November 2005 hatte er einen Autounfall und wurde in kritischem Zustand in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert, von wo aus er Anfang 2006 das heiß ersehnte Entlassungsgesuch abschickte.

Bereits 2006 zeigte sich Kadyrow Junior als aktiv handelnde Person im großen russischen Maßstab. Im September entzündete sich im Norden Russlands unweit der finnischen Grenze in der kleinen Stadt Kondopoga ein Aufstand der Einwohner gegen die tschetschenische Diaspora, die einen unangemessenen Einfluss auf die lokale Wirtschaft gewonnen hatte. Die dort lebenden Tschetschenen waren mit einer realen physischen Bedrohung konfrontiert. Die Situation wurde von Ramsan reguliert, ohne dass dieser die im Süden seines Landes gelegene Stadt Grosny verlassen hätte. Im entscheidenden Moment formulierte er das Rezept eines richtigen Vorgehens.

Der Premier von Tschetschenien engagierte … russische Nationalisten, angeführt von dem zu dieser Zeit recht populären Spitzenmann der »Bewegung gegen illegale Immigration« Alexander Below (Potkin). Nachdem er von Ramsan eine Sicherheitsgarantie und sogar eine schriftliche Vollmacht in der Art »Alles, was vom Überbringer getan wird, geschieht auf meine Anweisung und zum Wohle des tschetschenischen Volkes« erhalten hatte, ging Below-Potkin nach Kondopoga und verteidigte unter dem Vorwand, die russische Bevölkerung schützen zu wollen, in Wirklichkeit die Tschetschenen, indem er die Protestierenden dazu überredete, sich zu zerstreuen.

Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Kadyrow seitdem einen bedeutenden Teil der russischen nationalistischen Bewegung kontrolliert. Mit ihrer Hilfe kann er jederzeit realen nationalistischen Protest neutralisieren, wenn dieser wie auch immer geartete tschetschenische Interessen bedroht. Es ist kein Zufall, dass Below-Potkin und der Nationalist Dmitri Demuschkin (Bewegung »Russkie«) 2011 eine regelrechte Werbetour nach Tschetschenien unternahmen, wobei sie Ramsans Politik über den grünen Klee lobten und sich die Bemerkung erlaubten, das russische Russland müsse sich hinsichtlich der Verteidigung seiner Interessen und der seiner Nation ein Beispiel an der Bergrepublik nehmen.

Durch den gekonnten und schlauen Einsatz von selbst ernannten Führern des russischen Straßennationalismus kann das Oberhaupt Tschetscheniens demonstrieren, dass die interethnischen Widersprüche zwischen Russen und Tschetschenen im modernen Russland eigentlich gar nicht existieren – es gibt lediglich Intriganten (wie zum Beispiel den Autor dieses Buches), die auf die Erfolge der Tschetschenischen Republik neidisch sind und versuchen, einen Konflikt ohne objektive oder subjektive Prämissen aus dem Nichts zu schaffen.

Am 7. Oktober 2006 wurde die bekannte Journalistin Anna Politkowskaja im Eingang zu ihrem Wohnhaus in Moskau getötet. Viele Jahre hatte sie sich mit Tschetschenien befasst und Kadyrow Junior offen der Menschenrechtsverletzungen und anderer Verbrechen bezichtigt. Wie aus den Machtstrukturen durchsickerte, richtete der Premier von Tschetschenien kurz vor dem Tod der Journalistin eine Anfrage an eine juristische Firma, die durch eine seltsame Verkettung der Umstände ebenfalls den einflussreichen russischen Nationalisten nahesteht.

Kadyrow wollte eine Einschätzung zu der Frage, ob man Politkowskaja für ihre Aussagen über Kadyrow vor Gericht zur Verantwortung ziehen kann. Die Antwort der Juristen war nicht sonderlich beruhigend für Ramsan: Nein, die Journalistin habe ausschließlich fachkundige, umschreibende Formulierungen gewählt, die keinen Anlass für eine formale gerichtliche Verfolgung böten. Kurz danach krachte der Schuss im Hauseingang.

Unter den nennenswerten Theorien zu diesem Verbrechen gehören sowohl ein Mord auf Bestellung Kadyrows als auch eine Provokation gegen ihn. Politkowskaja hatte in einem Interview gesagt, Kadyrow drohe ihr mit Mord. Kadyrow selbst stritt dies ab und meinte, dass »jene, die diesen Mord bestellt haben, ihn wieder einmal in den Dreck« ziehen wollten. Am 14. Dezember 2012 wurde im Mordfall Politkowskaja das erste Urteil gesprochen: Der ehemalige Leiter der Abteilung operativer Fahndung der Hauptverwaltung des Innenministeriums von Moskau D. Pawljutschenkow wurde zu elf Jahren Gefängnis verurteilt; der Auftraggeber des Mordes war zu diesem Zeitpunkt immer noch unbekannt.

Besonders pikant ist das Verbrechen durch den Umstand, dass Anna Politkowskaja ausgerechnet am Geburtstag Wladimir Putins getötet wurde. Viele Beobachter sahen das nicht einfach nur als Zufall, sondern als rituelle Opfergabe. Denn die Journalistin hatte sich oft kritisch über den russischen Präsidenten geäußert. Übrigens wurde dem tschetschenischen Anführer weder offiziell noch halb offiziell eine Beteiligung an diesem Mord zur Last gelegt. Die Auftraggeber dieses Verbrechens sind bis heute unbekannt.

Heute ist Ramsan bekannt und einflussreich, und es bleibt nur wenigen vorbehalten, ihn der Beteiligung an schweren Verbrechen zu verdächtigen. Er ist schließlich nicht Putin, dem nur ein äußerst träger Vertreter der russischen Opposition nicht längst alle schrecklichen Vergehen im Russland des 21. Jahrhunderts angehängt hätte. Zum Beispiel kann man heute bei uns ganz offen darüber räsonieren, dass Putin die Terroranschläge im Theaterzentrum an der Dubrowka (Nord-Ost) und in der Schule Nr. 1 im nordossetischen Beslan speziell in Auftrag gegeben hat, um damit seine Macht zu festigen, insbesondere durch Unterstützung der Gewaltorgane. Niemand, der so etwas behauptet, ist bisher umgekommen oder ins Gefängnis geraten. Man sollte einmal versuchen, etwas Ähnliches über Ramsan Kadyrow zu verbreiten!

In jenem schrecklichen Oktober des Jahres 2006 wurde Kadyrow Junior 30 Jahre alt. Damit war für ihn juristisch der Weg frei zum Posten des Präsidenten von Tschetschenien. Im Februar 2007 verkündete der amtierende Präsident Alu Alchanow völlig freiwillig seinen Rücktritt und wechselte auf den bescheidenen Posten des stellvertretenden Justizministers von Russland. Ramsan Kadyrow brachte daraufhin seine faktischen Befugnisse mit seiner formalen Stellung in Übereinstimmung. In den folgenden Jahren verschwanden alle Gegner des jungen tschetschenischen Anführers, die eine potenzielle Gefahr für ihn darstellten, mit fataler Unausweichlichkeit vom Antlitz dieser Erde.

•Als der Ex-Kommandeur der Einheit Gorez und Oberstleutnant des FSB Mowladi Baissarow am 18. November 2006 in Moskau aus seinem Auto stieg, wurde er erschossen. Fünf Tage zuvor hatte das tschetschenische Innenministerium ihn wegen Raubes und Mordes zur Fahndung ausgeschrieben. Vor seinem Tod wollte er angeblich in seiner Sache und gegen seine politischen Feinde eine Aussage bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft machen. Nach Angaben der tschetschenischen Gewaltorgane war man gezwungen zu schießen, weil Baissarow angeblich eine Granate zünden wollte. Baissarows Anhänger und eine Reihe von Journalisten werteten den Vorfall als geplanten Mord. Am 29. November stellte der Südliche Verwaltungsbezirk von Moskau die Strafverfolgung ein und schloss, die tschetschenischen Milizionäre seien gesetzestreu vorgegangen. Allerdings konnte Sulim Jamadajew noch öffentlich aussagen, dass mit der Abrechnung niemand anderes betraut worden war als Adam Delimchanow, ein Vertrauter von Ramsan Kadyrow und seine »rechte Hand«. Delimchanow habe geschossen, ohne dass irgendjemand eine Granate hatte zünden wollen. Aber niemand wollte hören, was der »Held Russlands« und Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung zu sagen hatte.

•Bei einem Entführungsversuch wurde am 13. Januar 2009 in Wien der ehemalige Mitarbeiter von Kadyrows Leibwache Umar Israilow getötet. 2008 war er nach Österreich geflohen und hatte erwähnt, es gäbe eine Liste mit 300 Feinden des tschetschenischen Anführers, die man vernichten wolle. Am 27. April 2010 erklärte die österreichische Staatsanwaltschaft, Ramsan Kadyrow habe die Entführung in Auftrag gegeben. 2011 befand ein österreichisches Gericht drei Personen des Mordes schuldig, einer von ihnen wurde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Nach Worten des Staatsanwalts kam die Anklage zum Schluss, der Überfall sei im Auftrag von Kadyrow erfolgt, aber es gäbe nicht ausreichend Beweise für eine Anklage gegen ihn.

•Am 15. Juli 2009 wurde in Grosny eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation »Memorial« entführt – die Journalistin Natalja Estemirowa. Am selben Tag fand man ihre Leiche in einem Wald unweit des Dorfes Gasi-Jurt in Inguschetien. Der Vorsitzende von »Memorial« Oleg Orlow erklärte: »Ich weiß, wer den Mord an Natalja Estemirowa zu verantworten hat. Wir kennen diesen Menschen sehr gut. Er heißt Ramsan Kadyrow, er ist Präsident der Tschetschenischen Republik.« Kadyrow legte bei Gericht Klage gegen Orlow und »Memorial« ein, »Memorial« musste öffentlich dementieren. In inoffiziellen Gesprächen sagten Menschen aus dem Umfeld von »Memorial«, Estemirowa habe über das Schicksal der Ältesten verschiedener tschetschenischer Familien recherchiert, die Kadyrow ins Jenseits befördert habe. Ein Durchsickern solcher Informationen, zudem in der entsprechenden Form, hätte überaus schmerzlich für den tschetschenischen Anführer und für ganz Tschetschenien sein können, wo man die ältere Generation immer noch ehrt. Und der Tod ist in bestimmten Kulturen die beste Medizin gegen Schmerzen.

Schließlich waren auch Kadyrows gefährlichste Gegner an der Reihe – die Brüder Jamadajew.

•Im September 2008 wurde Ruslan Jamadajew auf der Smolenskaja nabereschnaja in Moskau getötet. Der Mörder hatte mehrere Male aus einer Maschinenpistole in das halb geöffnete Fenster des Mercedes gefeuert, in dem Jamadajew in Begleitung von Sergei Kisjun unterwegs war. Generaloberst der Hauptabteilung Aufklärung Kisjun war früher Kriegskommandant von Tschetschenien und hatte die Schaffung der Bataillone Wostok, Sapad und Jug ermöglicht. Bemerkenswert ist, dass Ruslan Jamadajew und Herr Kisjun nicht von irgendwoher kamen, sondern aus dem Kreml. Dort hatten sie sich mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidentenadministration für Innenpolitik Wladislaw Surkow getroffen. Einer der Theorien zufolge wurde über eine Begrenzung der sich auswachsenden Macht und der politischen Ambitionen von Ramsan Kadyrow gesprochen. Surkow, der aus seiner tschetschenischen Herkunft keinen Hehl machte (und sie sogar manchmal herausfordernd betonte), zeigt gegenüber dem Oberhaupt Tschetscheniens immer eine besondere Loyalität. Es ist nicht auszuschließen, dass der föderale Beamte den Inhalt dieses geheimen Gesprächs an Kadyrow weitergegeben hat. Auch danach kreuzten sich die Wege von Wladislaw Surkow und Ramsan Kadyrow noch öfter. Quellen aus dem Kreml behaupten, es sei Kadyrow gewesen, der Surkows Ernennung zum Assistenten des russischen Präsidenten für Kontakte mit den GUS-Staaten sowie mit den halb anerkannten Staaten Abchasien und Südossetien (September 2013) bewirkt habe, nachdem er bei Putin in Ungnade gefallen und aus den einflussreichen Strukturen entfernt worden war.

•Im April 2010 berichteten die russischen Massenmedien, Issa Jamadajew habe Aussagen gemacht, in denen er Ramsan Kadyrow der Organisation eines Mordversuchs gegen ihn (29. Juni 2009) sowie des Mordes an seinen Brüdern Sulim (ehemaliger Kommandeur des Bataillons Wostok) und Ruslan (ehemaliger Abgeordneter der Staatsduma) bezichtigte. Die mit Kadyrow verfeindeten Brüder Jamadajew, die sich im Zweiten Tschetschenien-Krieg auf Seiten der föderalen Streitkräfte hervorgetan hatten, waren die letzte große Kraft in der Republik geblieben, die sich gegen Kadyrow zur Wehr setzte.

Der verfassungsmäßige russische Präsident Putin, unter dessen strengem Blick sich Berge verneigen und Flussläufe verbiegen, wagt es nicht, auch nur ein Wort gegen Ramsan Kadyrow zu sagen. Nur der Generalbevollmächtigte des Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus Alexander Chloponin wagte es Anfang 2010, kaum dass er diesen Posten eingenommen hatte, von Tschetschenien-Führer Kadyrow frech Rechenschaft über die Verwendung föderaler Mittel zu verlangen. Aber durch einen seltsamen Zufall kam es am 29. März 2010 zu den Explosionen in den Moskauer Metrostationen Lubjanka (ganz in der Nähe des allmächtigen FSB) und Park kultury. Seither interessiert sich der Generalbevollmächtigte des Kremls nicht mehr sonderlich für die finanziellen Flüsse zwischen Russland und Tschetschenien.

All diese Tatsachen kann man unmöglich mit Putins Wunsch erklären, dem Westen sein Verantwortungsgefühl für das Schicksal dieser kleinen Region Russlands zu demonstrieren. Die neuere Geschichte Tschetscheniens begann im Mai 2004 – am Todestag von Achmat-Hāddsch, der bei dem Bombenanschlag in einem Stadion in Grosny getötet wurde. Tschetschenien tat so, als habe Russland den Krieg gewonnen, ohne allerdings zu präzisieren, gegen wen. Als habe Russland einfach gewonnen und fertig, gegen »eine nicht identifizierte Person«, wie es in der UdSSR in den Milizprotokollen bei Festnahmen von Menschen hieß, die aus Dummheit bei eigens ausgesandten KGB-Provokateuren verbotene Westvaluta gekauft hatten. Dafür wurden die Tschetschenen zu einer privilegierten Ethnie innerhalb Russlands. In der Mehrheit der Regionen ist die tschetschenische Diaspora ein eigenständiges Zentrum, das in seiner Mächtigkeit viele andere übertrifft.

Wladimir Putin betrachtet Ramsan Kadyrow immer häufiger als eine Art Schiedsrichter, der bereit und informell berechtigt ist, größere Wirtschaftskonflikte zu lösen. Dabei geht es keineswegs immer um Konflikte, in die Tschetschenen oder Kaukasier involviert sind.

Wie es sich der unterlegenen Kriegspartei geziemt, zahlt Russland dem Sieger Tschetschenien Tribut aus dem föderalen Haushalt: fast 2 Milliarden Dollar pro Jahr, das sind 48 000 Rubel pro Kopf. (Zum Vergleich: Die Region Stawropol erhält 6 000 Rubel pro Einwohner.) Aber das ist noch gar nichts. Im Frühjahr 2011 erklärte der Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel der Tschetschenischen Republik Abdulla Magomadow, dass seine Republik für die Realisierung verschiedener Investitionsprogramme von Russland 500 Milliarden Rubel (oder 18 Milliarden Dollar) erhalten müsse.

Der Anteil föderaler Mittel innerhalb der Einnahmen des Staatshaushalts von Tschetschenien beträgt 90 Prozent. (Zum Vergleich: in Moskau sind es 3,6 Prozent der Einnahmen, in Baschkirien 19 Prozent, in der Region Rostow 34 Prozent.) Dazu kommt, dass Tschetschenien für die Verwendung diese Mittel nicht rechenschaftspflichtig ist. Der Fuhrpark von Präsident Kadyrow besteht aus 50 Autos mit einem Gesamtwert von mehr als 3 Millionen Euro. Das wichtigste Gefährt ist ein Rolls-Royce. Dazu kommen acht Porsche Cayenne, acht Lexus LX 470 und noch einiges mehr. (Das ist um einiges abgehobener als bei Putin und Medwedew.) Bereits vor Langem wurden im Internet Fotos des neuen Palasts veröffentlicht, der nach glaubwürdigen Quellen für den tschetschenischen Präsidenten gebaut wurde. Schauen Sie sie sich an – er ist erheblich luxuriöser als die berühmte Residenz Praskowejewka am Schwarzen Meer, die Wladimir Putin gehören soll.

Ramsan Kadyrow erlaubt sich ein Pferde-Hobby und kauft die besten Galopper auf, die Siegen auf internationalen Wettbewerben entgegenstürmen. Deswegen wird in Grosny jetzt eine neue Pferderennbahn von 59 Hektar mit Ställen für 360 Tiere, einem Hotel, einem Parkplatz mit 2 000 Stellplätzen und zwei Hubschrauberlandeplätzen gebaut.

Die zweite Leidenschaft des Führers des Siegerlandes ist der Fußball. Als Trainer der Mannschaft Terek von Grosny wurde der legendäre Holländer Ruud Gullit eingeladen. Im Mai 2011 wurde in Grosny ein neues ultramodernes Stadion eröffnet, das zu Ehren von Achmat Kadyrow »Achmat-Arena« heißt und Platz für 30 500 Zuschauer bietet. Bei der Eröffnung trat die tschetschenische Auswahlelf, für die sich bekannte russische Politiker und Fußballveteranen eingesetzt hatten, gegen die »Auswahlmannschaft der Welt« an. Für sie spielten Fußballlegenden wie Maradona, Figo, Baresi, Barthez, Fowler, Papin, Costacurta. Nach unbestätigten Angaben bekam allein der große Argentinier für die Veranstaltung 1 Million Euro.

Können Sie sich jetzt vorstellen, wie die 500 Milliarden Investitionstribut ausgegeben werden? Ich auch. Für die militärische Niederlage werden wir uns nicht revanchieren können. Dafür fehlt es dem heutigen Russland mit seinen Selbstzweifeln an Kräften – sowohl Streit- als auch psychischen Kräften. Aber etwas müssen wir doch tun. Wir können ja nicht ewig Tribut zahlen und Augen und Ohren verschließen, wenn in Russlands Innerem erneut ein Scharmützel gegen jene stattfindet, die es den Siegern nicht recht machen.

Offenbar gibt es nur einen Ausweg. Man muss Tschetschenien das geben, was es schon so lange anstrebt und faktisch bereits erreicht hat – die Unabhängigkeit. Es ist Zeit, den zweihundert Jahre dauernden Krieg im Nordkaukasus zu beenden, der uns letztlich nichts gegeben hat außer Blut und Tränen. Zu Zeiten des Imperiums – unter den Romanows und den Kommunisten – konnte man wenigstens verstehen, wozu wir das Territorium brauchten: um die Kontrolle über Transkaukasien zu behalten. Aber nun, da es kein Imperium mehr gibt und wir Transkaukasien verlassen haben? Die frei werdenden Mittel könnte man nicht nur dafür ausgeben, um die wenigen, im Nordkaukasus versprengten Russen nach Russland umzusiedeln, sondern auch für die Entwicklung Zentralrusslands, des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens. Das sind Gebiete, die wir tatsächlich verlieren können, wenn wir nicht aufhören, sie so gering zu schätzen wie jetzt.

Wenn diese Probleme nicht von der heutigen Generation von Politikern gelöst werden, dann werden sie an die folgenden weitergegeben. Und die werden es viel schwerer haben, sie zu lösen. Putin jedoch hat keine Feinde zu fürchten, denn im Großen und Ganzen hat er keine. Er kann gehen. Wenn sich die Umstände so fügen. Erinnern wir uns an die schicksalhafte Regel des modernen Autoritarismus: Man darf nicht zu lange verweilen, aber zu gehen ist ebenfalls unmöglich.

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