Putin kehrte Anfang 1990 aus Dresden nach Leningrad zurück. Sein Arbeitsplatz war nun ein schmaler Tisch in einem kleinen Zimmer für drei Personen an der Leningrader Universität. Mit ihm im Raum saßen ebenfalls rangniedere und halb verabschiedete Offiziere des Geheimdiensts. Wie bereits dargelegt, war entgegen den offiziellen biografischen Darstellungen Putins unmittelbarer Vorgesetzter nicht der Rektor der Leningrader Universität, sondern der Prorektor für internationale Beziehungen Juri Moltschanow.
Unter Putins Präsidentschaft wurden Juri Moltschanow und sein Adoptivsohn Andrei zu einflussreichen Politikern und Geschäftsmännern. Einer der Zöglinge von Moltschanow senior, Sergei Mironow, leitete von 2000 bis 2010 den Föderationsrat (Senat), die Höchste Kammer des russischen Parlaments. Heute ist er Chef der Partei »Gerechtes Russland«, die im Parlament vertreten ist und als »sozialdemokratische Opposition Seiner Majestät« gilt.
Mit Putins Karriere war es praktisch vorbei. Der Mann zählte 37 Jahre und war Major. Unter sowjetischen Verhältnissen, bei denen ein faktischer Rausschmiss aus den Staatssicherheitsbehörden einem Wolfspass gleichkam, hatte er nichts mehr zu erwarten. Zu Hause saß seine zänkische, zutiefst vom Schicksal und den fehlenden Zukunftsaussichten ihres Mannes enttäuschte Ehefrau Ljudmila, die bis dahin praktisch keiner Arbeit nachgegangen war, weil sie sich fast ausschließlich um die Erziehung der in der DDR zur Welt gekommenen Töchter Maria und Jekaterina kümmerte, ohne eine eigene Karriere anzustreben.
Putins Gehalt war miserabel, deshalb war er gezwungen, sich als Fahrer etwas dazuzuverdienen, und zwar mit dem unangesagtesten sowjetischen Auto überhaupt – einem Saporoschez des ukrainischen Herstellers SAS. (Fahrzeuge dieser Marke stellte der sowjetische Staat Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Angehörigen der Sowjetischen Armee kostenlos für sieben Jahre zur Verfügung. Mein Vater war Versehrter der sowjetischen Armee, und ich erinnere mich noch gut daran, was das für ein Transportmittel war.) Hätte er also über eine etwas lebhaftere Psyche verfügt, wäre das der richtige Moment gewesen, um sich zu erschießen. Doch da tauchte am Horizont Anatoli Sobtschak auf, der frisch gewählte Vorsitzende des Leningrader Sowjets – des gesetzgebenden Machtorgans in der nördlichen Hauptstadt. Nach der offiziellen Version richtete er an den Rektor Merkurjew der Leningrader Universität die Bitte, ihm einen Assistenten für sein Empfangszimmer mit Aufgaben im Personenschutz zu empfehlen.
Zu diesem Zeitpunkt konnte sich Sobtschak nur schwer in seine neue Rolle einer öffentlichen Führungspersönlichkeit einleben, die dazu berufen und verpflichtet war, in ständigem Kontakt mit den nach Gnade und Versprechungen darbenden Volksmassen zu stehen. Nach eigenem Bekenntnis fürchtete er sich, sein Vorzimmer zu betreten, wo ihn theoretisch ein Irrer mit einem Beil oder eine exaltierte Verehrerin mit einem Glas Schwefelsäure in der Hand erwarten konnten. Glaubt man dieser Version, dann war es Merkurjew, der Putin empfahl, woraufhin dieser die Frage mit seiner Tschekistenleitung abstimmte und beim KGB kündigte.
Es gibt jedoch auch eine alternative Legende. Demnach war WWP im Frühjahr 1990 aus eigenem Antrieb nach einer Massenveranstaltung in Leningrad auf Sobtschak zugegangen und hatte ihm seine Dienste als Fahrer angeboten, und zwar geradezu kostenlos (was nicht ganz zu unseren Vorstellungen über Putins materielle Schwierigkeiten in dieser Zeit passt).
Wie auch immer, im Sommer 1990 wurde Putin Mitarbeiter im Empfangsbüro des Vorsitzenden des Leningrader Stadtsowjets, und nun bekam er den Vater, den er sein Leben lang gesucht hatte. Nachdem er seine Vorzüge erkannt hatte, betrachtete Sobtschak seinen neuen Assistenten wie einen Sohn, er nutzte Putins beste Eigenschaften und ignorierte die schlechten. In nur vier Jahren machte WWP eine schwindelerregende Karriere: Der Referent mit Aufgaben im Personenschutz wurde bereits 1992 Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen bei der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg, 1993 stellvertretender Bürgermeister und 1994 erster Stellvertreter des Bürgermeisters und praktisch Sobtschaks rechte Hand. Dabei war Sobtschak ein Demokrat, der alles, was mit dem KGB zu tun hatte, ablehnte und sogar die schreckliche Abkürzung aus drei Buchstaben fürchtete.
Dazu war es aus verschiedenen Gründen gekommen, die wir später in diesem Kapitel analysieren werden. Zunächst jedoch sollten wir den Ausgangspunkt nicht aus den Augen verlieren. Wurde Sobtschak Putins Vater, so trifft auch das Umgekehrte zu. Putin tat alles, um für Sobtschak ein guter Sohn zu sein, der absolut treu ergeben ist und sich vor allem um den Komfort seines Chefs und Vaters kümmerte – physisch und, was noch wichtiger war, auch psychisch. Sobtschak hielt in der linken Hand stets die nötigen Papiere, und irgendwo rechts im Plüschpolster auf den hinteren Sitzen des Dienstwagens steckte ein Flachmann mit seinem Lieblingswhisky.
Die »professionellen Demokraten«, mehrheitlich selbstverliebte und nicht allzu gescheite Leute, die offensichtlich unfähig waren, sich psychologisch den Partnern und Situationen anzupassen, konnten Sobtschak hier nicht von Nutzen sein. Also nahm Putin wie eine Flüssigkeit oder ein Gas nach und nach (und übrigens recht schnell) praktisch den gesamten ihm zugewiesenen Raum ein.
Auf dieselbe Weise und in derselben Zeit wurde Boris Jelzin von seinem Chefleibwächter Alexander Korschakow »in Gebrauch genommen«, nachdem er seinen »Leib« für viele andere Mitstreiter unerreichbar gemacht hatte. Vom Charakter ihrer Wechselbeziehung erinnert das Paar Korschakow–Jelzin überhaupt in vielem an die Allianz Putin–Sobtschak, insbesondere was die Anfangsphase ihrer Zusammenarbeit betrifft. Allerdings kam Putin danach noch ziemlich weit, während Korschakow sich mit seinem Chef überwarf und von der Bühne der Geschichte in den Orchestergraben hinabstürzte.
Nachdem die Rostwasserdusche sowjetischer Privilegien überstanden war, forderte die halbhungrige Zeit Anfang der 1990er-Jahre für eine neue Kaste von Herrschern ein Minimum an Komfort und Bequemlichkeit. Man wollte einen Biberpelz anstelle einer Kalbfellkappe und ein ordentliches Bankett mit einer Flasche Cognac pro Nase statt eines Herings für drei. Die Geliebte sollte nicht mehr in einem Schiguli herumkutschiert werden, sondern zumindest in einem gebrauchten, aber dicken Westauto. Deswegen waren nun Profis in Sachen Komfort und Bequemlichkeit gefragt, und zwar nicht einfach nur als Gehilfen, sondern als »Hausmeister« mit den Zusatzfunktionen eines Offiziers der Staatssicherheit.
Als Mitte der 1990er-Jahre der erste Hunger der neuen Landesväter der Russischen Föderation gestillt war, wurden die Massenmedien das Hauptproblem. Den etwas klügeren Kammerjunkern (Putin, Patarkazischwili) gelang es, sich kurzerhand umzustellen. Korschakow hingegen kam es nicht in den Sinn, im Juni 1996 aus eigenem Wunsch Pressesprecher der Familie Jelzin zu werden – sonst wäre ihm das Glück bis heute treu geblieben.