Kapitel 11: Putin und seine Feinde

Unter den russischen Liberalen und auch im Westen grassiert die Auffassung, Wladimir Putin habe sehr viele Feinde und könne deswegen nicht von der Macht lassen. Entzöge man ihm den Schutz der Tausenden von Wachschutzleuten unter der Leitung der Generaloberste Murow und Solotow, und entließe man ihn aus der internationalen, diplomatischen Immunität, würde Putin getötet werden oder in einer Folterkammer landen – oder beides: erst die Folterkammer (wie bei General Pinochet) und dann der Tod (wie Oberst Gaddafi).

Durch langwierige wissenschaftliche Nachforschungen bin ich zu einem anderen Schluss gekommen: Putin hat auch ohne ein Amt nichts zu befürchten, weil er keine gefährlichen Feinde hat. Sie werden lachen, aber er hat wirklich keine.

Beginnen wir mit den in Ungnade gefallenen Oligarchen.

a) Wladimir Gussinski, ehemaliger Eigentümer der Holding Media-MOST und insbesondere der Fernsehgesellschaft NTW, Ex-Präsident des Jüdischen Kongresses Russland, Bürger von Russland, Spanien und Israel.

1996 hatte er eine aktive Rolle bei der Wiederwahl von Boris Jelzin gespielt – einer der wichtigsten Ideologen und Kreativen in Jelzins Stab, der damalige Präsident der Fernsehgesellschaft NTW, Igor Malaschenko, war direkter Vertreter von Gussinskis Interessen gewesen.

1999 hatte Wladimir Gussinski aktiv die Allianz Primakow/Luschkow unterstützt und sich ernsthaft ausgerechnet, Jelzin würde letztlich erkennen, dass eine effektive Alternative fehlte und auf seinen betagten Premierminister setzen. Theoretisch gab es eine solche Möglichkeit noch immer. Es war kein Zufall, dass eine weitere Kreatur von Gussinski, Sergei Swerew, der spätere Leiter der großen PR-Firma KROS, von Mai bis August den Posten des stellvertretenden Leiters der russischen Präsidentenadministration für Innenpolitik innehatte. Im August jedoch wurde Swerew aus dem Kreml entlassen, und damit konnte Primakow nicht mehr Jelzins Nachfolger werden. Von diesem Moment an setzte ein Krieg auf Leben und Tod zwischen Gussinski und der Familie des ersten russischen Präsidenten ein.

Wie wir wissen, verlor der Magnat diesen Krieg. Im Jahr 2000 saß er drei Tage im Untersuchungsgefängnis Butyrka (einem der schrecklichsten Orte dieser Welt, wohin man niemanden wünscht). Er verlor sein Eigentum und stimmte dessen Verkauf an Gazprom für 300 Millionen Dollar zu – die entsprechenden Papiere wurden direkt in der Gefängniszelle unterzeichnet. Dabei war Putin wohl eher die Waffe und der Organisator der Racheaktion, nicht aber ihr Auftraggeber oder eigentlicher Nutznießer. Gussinski einen Denkzettel zu verpassen, war vor allem das Interesse der Jelzin-Familie und des dazugehörigen Leiters der Präsidentenadministration der Russischen Föderation (1999 bis 2003) Alexander Woloschin, der in den frühen Putin-Jahren größeren Einfluss auf die Entscheidung vieler politischer Fragen hatte als das Staatsoberhaupt selbst.

Nachdem man ihn aus dem Gefängnis entlassen hatte, emigrierte Gussinski in die USA, distanzierte sich von der Übereinkunft und strengte eine Vielzahl von Gerichtsprozessen an, von denen er die meisten verlor. Allerdings verbüßte er noch – nach einem Auslieferungsantrag der Generalstaatsanwaltschaft Russlands – eine mehrtägige Haftstrafe in einem spanischen Gefängnis, wonach man ihn mit der spanischen Staatsbürgerschaft belohnte. Dabei war unklar, was er mit ihr anfangen sollte: Das Haus des Oligarchen in Sotogrande, Costa del Sol, steht leer, er verbringt seine Zeit lieber im amerikanischen Connecticut auf seiner eigenen Jacht, die überall unterwegs ist, wo man es ihm erlaubt, oder in Israel (wo Gussinski als halachischer Jude mit einer ansehnlichen Dienstzeit ebenfalls Staatsbürger ist). 2003 kam Wladimir Gussinski über Dmitri Medwedew und seinen engen Mitstreiter Konstantin Tschujtschenko (früher Jurist bei Gazprom, seit 2008 Leiter der Kontrollbehörde des Präsidenten der Russischen Föderation) und mit offensichtlicher Zustimmung von Wladimir Putin mit dem verhassten Kreml erneut ins Gespräch. Das Ergebnis: NTW fing wieder an, Fernsehserien zu kaufen, die im Umfeld des »in Ungnade gefallenen Oligarchen« produziert wurden. Und die Moral von der Geschicht’: Putin lässt seine sogenannten Feinde leben und bringt sie fast niemals um.

Als im November 2006 Dmitri Medwedew (inoffiziell bei den Lobbyisten und im Flüsterton) als Nachfolger von Wladimir Putin feststand, gab sich Gussinski dem Traum von einer Rückkehr hin, um sich erneut in die großen Intrigen von Russland einmischen zu können. Denn nur diese Intrigen bringen das große Geld – angefangen von eine Milliarde Dollar aufwärts. Bis heute wurde jedoch nichts daraus, auch wenn das ehemalige Oberhaupt des Jüdischen Kongresses in Russland 2011 seinen verlustbringenden internationalen Fernsehkanal RTVi, der sich verhältnismäßig großer Beliebtheit bei den russischsprachigen Emigranten in Israel und den USA erfreute, an den wenig bekannten, kremlnahen Geschäftsmann und nominalen Inhaber von TV Swesda, Ruslan Sokolow, verkaufte. Hat Putin diesen Deal gebilligt? Am wahrscheinlichsten ist, dass er gar nichts von ihm wusste. Hält sich Gussinski für Putins Feind? »Cholile wechaß«, wie erregte jüdische Mameles sich auszudrücken pflegen – »Verhüte Gott«. Für den kleinen Finger der Freundschaft reicht er ihm immer die ganze Hand.

b) Boris Beresowski und sein Tod

Der Ex-Oligarch, der politisches Asyl im Vereinigten Königreich und einen Nansen-Pass auf den Namen Platon Elenin erhielt, galt als Putins ärgster Feind und Lobbyist vieler Anti-Putin-Aktionen im Westen.

Das stimmte natürlich nicht oder, nichtssagender formuliert: Es traf fast gar nicht zu.

Am 23. März 2013 beging Beresowski Selbstmord (ich bin von dieser Todesursache überzeugt, warum, erkläre ich später), und zwar in einem Haus in Ascot, dass er einst für seine zweite Frau Galina Bescharowa gekauft hatte. Er erhängte sich, nachdem er auf zwei vertrauliche Briefe keine Antwort erhalten hatte, die Wladimir Putin über persönliche Kanäle direkt zugestellt worden waren. Zuvor hatte er sogar einige einflussreiche Journalisten gebeten, sie mögen darüber schreiben, dass BAB (Boris Abramowitsch Beresowski – mit diesem Akronym wurde der Magnat oft angesprochen) keine Gefahr für Putin in Russland darstelle.

Seltsamerweise reagierte das spätputinistische Russland auf den Tod des Oligarchen, der im Grunde als vergessener, ausgemusterter Spielertyp und »abgeschossener Flieger« galt, überaus heftig. In allen führenden Zeitungen erschienen Nachrufe. Oft waren sie kritisch, nahezu zornig, doch zu neunzig Prozent blieben sie respektvoll. Fast niemand zeigte Schadenfreude. Viele Politiker, Journalisten und einfache Beobachter sahen im verstorbenen Beresowski das Symbol einer ganzen Epoche.

Nachdem Beresowski im Herbst 2012 in London den Prozess gegen seinen ehemaligen Partner Roman Abramowitsch verloren hatte und praktisch ohne finanzielle Mittel, dafür mit gigantischen Schulden dastand, dachte er, wie die Menschen aus seiner Umgebung bezeugen, unablässig über zwei Dinge nach. Der eine Gedanke galt einem physischen Selbstmord, den er schließlich tatsächlich beging. Sein zweiter Gedanke war, gegenüber Putin Buße zu tun und nach Russland zurückzukehren, koste es was es wolle. Anfang 2013 schrieb er unserem Helden zwei Briefe, in denen er um Verzeihung bat und detailliert seine Pläne zur Transformation Russlands in eine konstitutionelle Monarchie darlegte. Beide Briefe haben ihren Adressaten seltsamerweise erreicht. Der eine wurde von Roman Abramowitsch übergeben, der andere von dem Deutschen Klaus Mangold, dem ehemaligen Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG. Dieser hatte Beresowskis Firma LogoVAS bereits Ende der 1980er-Jahre geholfen, Generalhändler der Marke »Mercedes Benz« auf dem russischen Markt zu werden. In den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts wurde Herr Mangold als Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft einer der Mittler zwischen Wladimir Putin und Gerhard Schröder. Putin hatte nichts dagegen, beide Briefe zu lesen, was er im Gespräch mit Journalisten kurz nach Beresowskis Selbstmord in Ascot bestätigte. Er sagte, seine Assistenten hätten ihm geraten, den Inhalt der Briefe seines alten Freundes bzw. Feindes an die große Glocke zu hängen, aber der Herr habe ihn vor diesem Schritt bewahrt. Über den Verstorbenen sprach der Präsident eher mitfühlend als gereizt oder gar hasserfüllt. Es wurde klar, dass sie in ihrem tiefsten Inneren immer Kameraden geblieben waren – auch wenn sie sich auf der Bühne der russischen Politik wie Erzfeinde dargestellt hatten.

Beresowski wurde mit Putin in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre durch Pjotr Awen bekannt gemacht, der damals Stellvertreter des Bürgermeisters von Sankt Petersburg (Anatoli Sobtschak) für Fragen der Außenbeziehungen gewesen war. Heute ist Awen Präsident der Alfa-Bank, und 1992 hatte er als Minister für Außenhandelsbeziehungen Russlands Putins Bemühungen hinsichtlich der föderalen Machtorgane betreut. Beresowski ist übrigens von Awen zu verschiedenen Zeiten sowohl mit Roman Abramowitsch und Walentin Jumaschew vernetzt worden, was in vielerlei Hinsicht den steilen Aufstieg und den langsamen, quälenden Fall des Oligarchen vorherbestimmte. Immer gern erzählte Beresowski die Geschichte von WWPs Zuverlässigkeit: Am 23. Januar 1999 hatte dieser sich nicht gescheut, den Unternehmer zu seinem Geburtstag aufzusuchen, auch wenn der Beresowski feindlich gestimmte Ministerpräsident Jewgeni Primakow, der in jenen Tagen bereits als Nachfolger von Boris Jelzin gehandelt wurde, derartige Schritte nicht begrüßen konnte. Und als unser Held im Januar 2000 zum diensttuenden Präsidenten des Landes wurde, fasste Beresowski das in vielerlei Hinsicht als seinen Sieg und sein Verdienst auf. Wie sich bald herausstellte, hatte er sich geirrt. Wie jedoch sein Tod zeigte, nicht zu 100 Prozent.

Der Konflikt zwischen Putin und Beresowski spitzte sich beim Untergang des Atom-U-Boots »Kursk« im September 2000 zu. Putin hatte seinen Urlaub in Sotschi nicht sofort unterbrochen, um zur Unglücksstelle zu eilen. Natürlich war das ein fataler politischer Fehler – ein Staatsoberhaupt ist verpflichtet, sich am Ort der größten Katastrophe seines Landes zu befinden. Sein Verhalten war unverzeihlich, aber wir sollten nicht vergessen, dass WWP Präsident geworden war, ohne dass er sich zuvor je einmal als Politiker in der Öffentlichkeit bewegt hatte. Ganz banal fürchtete er sich, vor den Kameraaugen zu Fragen über die Tragödie Rede und Antwort zu stehen. Er hatte Angst vor dem Umgang mit den erzürnten Seemannswitwen – nicht ohne Grund, wie sich herausstellte. Beresowski jedoch gab sich mit derlei Nuancen nicht ab, und außerdem ärgerte ihn die Reform des Föderationsrats (der höchsten Kammer des russischen Parlaments), die man ohne Rücksprache mit ihm, dem damals großen Oligarchen, im Mai 2000 initiiert hatte. Der von Beresowski persönlich kontrollierte Fernsehsender ORT (heute – Erster Kanal des Russischen Fernsehens) ließ seinen ganzen verbitterten Zorn an Putin aus. Die Nachrichtensendungen des Kanals sowie die analytische Sendung von Sergei Dorenko mit den höchsten Einschaltquoten äußerten sich gegenüber dem Präsidenten alles andere als freundlich. Besonders bemerkte Dorenko die Patek-Philippe-Uhr des Präsidenten im Wert von 50 000 Dollar, die ausgerechnet die linke Hand des neugewählten Staatsoberhaupts zierte.

Putin wertete Beresowskis Verhalten als Verrat, der sich für ein Mitglied eines vereinten Machtkommandos nicht ziemt. Alle direkten Interessenvertreter des Oligarchen bei ORT – zunächst die Leiter für Informationssendungen Tatjana Koschkarjowa und Sergei Narsikulow und dann Sergei Dorenko – wurden entlassen. Danach empfing der Präsident seinen ehemaligen Freund im Kreml und teilte ihm mit, dass der Erste Kanal nun wieder der direkten Aufsicht des Staates unterstellt sei, also seiner eigenen, der von Wladimir Putin. »Leben Sie wohl, Boris Beresowski« waren die letzten Worte des Präsidenten, die aus dem Freund einen Feind machten.

Dennoch wurde mit Beresowski als jemandem, der einen erheblichen Beitrag zu Operation »Nachfolger« geleistet hatte, durchaus menschlich umgegangen und auch nicht ohne den für Putin charakteristischen Edelmut. Man nahm ihm sein Eigentum auf russischem Territorium nicht weg, sondern kaufte es für viel Geld. 1,3 Milliarden Dollar erhielt er für seinen Anteil an Sibneft, 250 Millionen Dollar für den an Aeroflot, 170 Millionen Dollar für ein absolut illiquides Minderheitenpaket (49 Prozent) der Aktien am Fernsehsender ORT, der ohne staatlichen Willen und Zustimmung absolut keinen Wert besaß. Es waren also insgesamt an die 1,7 Milliarden Dollar – nicht schlecht, besonders für die Jahre zwischen 2000 und 2002, als die Preise und Größenordnungen noch ein wenig anders waren als heute. Putin hatte Beresowski nicht einmal sein berühmtes Gästehaus in Moskau (Nowokusnezkaja 40) weggenommen, wo in ihren besten Zeiten die Hautevolee des Kremls und seiner Umgebung zum Schmieden von Ränken und Intrigen zusammengekommen war. Dort befand sich später die Kunstgalerie »Triumpf« der Angehörigen von Beresowski, und heute findet man dort ihr Restaurant unter dem schönfärberischen, wenn auch etwas anmaßenden Namen »Revolution«.

Die Feindschaft dauerte zwölfeinhalb Jahre und endete mit den bußfertigen Briefen und schließlich an dem Schal, mit dem sich der Oligarch in dem von innen verschlossenen Badezimmer im Haus von Galina Bescharowa erhängte.

Wir jedoch interessieren uns weniger für dieses Sujet, das vielen bekannt ist, als vielmehr für die politisch-psychologischen Zusammenhänge. Das Verhältnis zwischen Putin und Beresowski ist für sich genommen ein ziemlich gutes Szenario für einen psychologischen Thriller. Dabei kann ich mich selbst zu den Freunden von Boris Beresowski zählen, auch wenn sich unsere Freundschaft in vollem Sinne dieses Wortes erst nach seiner dritten Ausreise aus Russland ergab. Deswegen erlaube ich mir ein Urteil über die Nuancen, die für einen außenstehenden, wenn auch gut informierten Beobachter nicht leicht zu erkennen sind.

Wenden wir uns also vom Allgemeinen dem Besonderen zu, und nicht umgekehrt.

Als jemand, der die postsowjetische politische Landschaft bereits seit fast 20 Jahren beobachtet und studiert, kann ich mit hoher Gewissheit sagen: Nur selten gehen psychisch gesunde Menschen in die Politik, und zwar im direkten, klinischen Sinne des Begriffs »psychisch gesund«. Das Gehirn eines Politikers ist ein Sammelbecken für alle möglichen Manien und Phobien, mit denen ein sogenannter normaler Mensch (bei aller himmelschreiender Relativität dieses Begriffs) einfach nicht zurechtkommen kann.

Ich möchte sofort hinzufügen, dass ich im gegebenen Fall nicht die Bürokraten meine, die aus einem Missverständnis heraus für Politiker gehalten werden. Ein Bürokrat in einem politischen Amt ist nicht dasselbe wie ein echter Politiker, auch wenn bei der Bestimmung des einen wie des anderen manchmal Verwirrung entsteht.

90 Prozent der Politiker kann man also entweder zu den Schizophrenen oder zu den Paranoikern rechnen, oder genauer: zu denjenigen, deren Denken in schizophrenen beziehungsweise paranoiden Bahnen verläuft. Wir werden hier der Kürze und Einfachheit zuliebe die Wörter »Schizophrener« und »Paranoiker« verwenden, auch wenn wir damit ein wenig Genauigkeit einbüßen.

Die Schizophrenen sind Kreative und Antreiber, die Paranoiker Manager und Wächter. Erstere sind gut für Zeiten der Instabilität und großer Umschwünge. Letztere eignen sich, wenn Stabilität in Mode kommt und Kontrolle wichtiger als Entwicklung wird.

Der Schizophrene lebt streng und ausschließlich in einer von ihm erdachten Welt, in der seine eigenen Gesetze gelten. Deswegen fürchtet er sich nicht. Er kann an einem dünnen Fädchen hängen und auf Messers Schneide wandeln, ohne Panik oder wenigstens Unruhe zu empfinden. Seine Welt empfindet der Schizophrene nicht als feindlich, schon allein deswegen, weil es ein Wunderland hinter den Spiegeln ist, das in der vorhandenen materiellen Realität nicht existiert.

Ganz anders verhält es sich mit dem Paranoiker. Er denkt und handelt in der echten Realität dieser Welt, die er als kalt und feindlich empfindet. Vor vielem hat er Angst, und ständig hegt er irgendeinen Verdacht. Seine wichtigste Aufgabe ist es, sich »vorm Wind, vor der heiligen Lagune durch ein Tuch zu schützen«, wie der große russische Poet Alexander Blok Anfang des 20. Jahrhunderts sagte.

Während für den schizophrenen Politiker eine Leibwache ein Statussymbol und ein Alltagsvergnügen ist (schließlich ist es angenehm, wenn einem jemand die Autotür öffnet und ins nächste Geschäft rennt, um Whisky zu holen), ist sie für den Paranoiker eine Spiegelung seines wahrhaftigen Schreckens vor Erniedrigung und Tod.

In diesem Sinne war Beresowski ein typischer Schizophrener. Putin hingegen ist ein Paranoiker. Darin lag auch der wesentliche und fundamentale Grund für ihren Konflikt. Und zwar eher hierin als in der Politik oder gar beim Geld.

Putin konnte einfach nicht glauben, dass BAB den Skandal im Zusammenhang mit der im September 2000 gesunkenen »Kursk« nicht aus Hass oder aufgrund geheimer Pläne angezettelt hatte, sondern einfach aus Gedankenlosigkeit. Genauso wenig konnte Beresowski lange nicht begreifen, was er so Schlimmes angerichtet haben sollte. Verrat? Dieser Begriff kommt im Wortschatz eines Schizophrenen nicht vor.

Jahrelang habe ich Beresowski gesagt: »Boris, verstehst du nicht, dass die Jelzin-Familie sich von dir abgewendet hat, weil sie dich nicht mehr braucht? Putin ist nur die Waffe, aber nicht die Ursache deiner Probleme.«

»Mein Freund, nichts verstehst du«, antwortete er mir mit der ihm eigenen Gereiztheit eines in Ungnade gefallenen Oligarchen.

Erst 2006 schien er mir zuzustimmen. Damals war auch seine vorläufige Entscheidung gereift, Roman Abramowitsch als Symbol und Kassenwart der berüchtigten Jelzin-Familie den Prozess zu machen. Auch hier war es kein Hass, sondern die Kränkung, die unseren Schizophrenen antrieb. Hätte Abramowitsch BAB, sagen wir, eine Milliarde Dollar gezahlt, so wäre es nicht zu einem Prozess gekommen und wir hätten sie noch auf einem gemeinsamen Urlaub irgendwo auf Saint-Barthélemy gesehen (wo sich das vielen Vertretern der russischen Elite wohlbekannte Anwesen von Abramowitsch befindet).

Der Prozess jedoch gab Boris Beresowski den Rest. Dabei ging es nicht um die 5,5 Milliarden – die Chance auf sie war verschwindend gering, das sehen alle mir bekannten Experten des angelsächsischen Rechts so. Das Problem lag darin, dass die Richterin des Hohen Gerichts der Stadt London, Baroness Elizabeth Gloster, ihn so bloßstellte, wie es bisher niemand getan hatte. Sie erkannte seine Schizophrenie und verkündete das mit aller Macht ihres Richterrechts. Im Verdikt der Baroness tauchte das schreckliche Wort »self-delusion« auf – das Gericht, das in der neuesten Geschichte seinesgleichen sucht, erkannte, dass BAB nicht nur andere, sondern auch sich selbst betrog. Und das ist bereits die Tragödie. Allerdings besteht die Tragödie nicht darin, dass niemand mehr etwas mit dem Opfer dieses Verdikts zu tun haben wollte, sondern darin, dass es der Ex-Magnat nach dieser Entlarvung mit sich selbst kaum noch aushielt. Wie soll man mit dem größten Betrüger aller Zeiten leben, wenn er in einem selbst sitzt wie ein infernalischer Alien aus einem Hollywoodfilm?

Oberflächlich gesehen meinte man, dass Beresowski ein großartiger Macher war, bereit und fähig, jeden zu überrollen, der sich ihm in den Weg stellte. In Wirklichkeit war es nicht ganz so – oder sogar umgekehrt. Ich kenne nicht wenige Leute, die Boris Beresowski ganz professionell übers Ohr gehauen haben, ohne dass er es gleich bemerkte. Von der Jelzin-Familie habe ich in diesem Zusammenhang schon gesprochen, aber es gab noch viele andere, die den »entflohenen Oligarchen« betrogen. Darunter befanden sich verhältnismäßig untergeordnete Figuren wie zum Beispiel Alexander Prochanow, der Eigentümer der konservativ-patriotischen und wichtigsten antisemitischen Zeitung des Landes, Zavtra. 2002 erhielt er von BAB 300 000 Dollar »für die Entwicklung seiner Zeitung«. Er hatte den Schizophrenen mit nebulösen Versprechungen verführt, er könne oppositioneller Präsidentschaftskandidat werden und 2004 gegen Putin antreten. (Damals meinte Beresowski, der charismatische Antisemit mit dem kommunistischen Flair könne den Kremlherrscher herausfordern.) In der Zeitung kam es zu keinerlei »Entwicklung«, stattdessen hatte Herr Prochanow die Bauarbeiten auf seinem Landsitz im Rayon Dmitrowski im Moskauer Verwaltungsgebiet ein gutes Stück vorangebracht. Die Mitarbeiter der Zeitung Zavtra traten damals mit leicht durchschaubaren Andeutungen an mich heran: Warum ist dieser Beresowski so geizig? Wir bringen hier ein dickes, fettes Interview mit ihm und er macht keinen Finger krumm. Durch die Umstände zum Schweigen verpflichtet, konnte ich ihnen im Grunde nicht antworten und nur halbvernehmlich knurren. Heute kann ich, wie sich alte Kriegsveteranen der Spionage gern ausdrücken, »über alles sprechen«.

Doch BABs größter Fehler war meiner Ansicht nach sein Hauptpartner Badri (nach seinem Pass Arkadi Schalwowitsch) Patarkazischwili. Während er Ende der 1980er-Jahre Vertreter der Firma LogoVAS in Georgien gewesen war, stieg er Mitte der 1990er-Jahre im Status auf und übernahm die Funktion des Aktienverwalters von Beresowski. Aus welchem Grund Boris Beresowski ihn für ein Finanzgenie hielt, ist bis heute unklar. Das Genie richtete es scheinbar absichtlich so ein, dass Beresowskis Eigentum diesem nicht mehr gehörte. Das eindrucksvollste Geschäft, das Badri BAB aufschwatzte, war die Investition von 500 Millionen Dollar in die Aktien der Holding Metalloinwest, die vom reichsten Mann im heutigen Russland, Alischer Usmanow, kontrolliert wurde. Übrigens war es auch die Idee und Initiative von Herrn Patarkazischwili, dass Beresowski nur für die Erlaubnis, eine halbe Milliarde Dollar auszugeben, dem jüngeren Miteigentümer von Metalloinwest und Mittelsmann Wassili Anissimow ein Flugzeug schenkte. Genial, oder?

Zu Beginn des Jahres 2008 hatte sich Beresowskis Investition um das Fünffache vermehrt – auf 2,5 Milliarden Dollar. Und da starb Arkadi Patarkazischwili in London als verhältnismäßig junger Gentleman (mit 52 Jahren), ohne besonders krank gewesen zu sein. Das Interesse bestimmter Leute an seinem Tod war so offensichtlich, dass ich die Logik von Scotland Yard nicht recht verstehen kann: Immerhin stellte sich damals auch heraus, dass BAB seine Rechte auf die Aktien der Metall-Holding nicht geltend machen konnte (und es nie würde tun können). Warum niemand der Sache nachgeht, ist rational recht schwer zu begreifen. Schließlich pflegte Badri Patarkazischwili einigermaßen undurchschaubare Beziehungen zu verschiedenen Geheimdiensten, darunter nicht nur zu den russischen.

Im Februar 2008, gleich nach dem Tod von Badri Patarkazischwili, stellte sich heraus, dass Beresowski gar keine Ansprüche erheben konnte. Alle seine teuren Ankäufe – angefangen von der Märcheninsel Fisher’s Island in der Nähe von Miami bis hin zu einem Schloss in Marrakesch (Marokko) gingen auf einmal in das Eigentum von Badris Verwandten über, als hätten sie sich das durch unvorstellbare Anstrengungen verdient. Besonders trauerte Boris Beresowski um seine georgischen Aktiva des Mineralwasserherstellers Borjomi und des Mobilfunkanbieters Magticom. Ganz Georgien war praktisch das letzte Land, dass ihm Hoffnung auf eine Rückkehr und auf das Recht gab, auch außerhalb seines Hauses Russisch zu sprechen.

Ungefähr vor einem Jahr, Anfang 2012, sagte ein gemeinsamer Bekannter von BAB und mir: »Da steige ich ins Flugzeug von Tel Aviv nach London und denke, ich bin verrückt: Da sitzt Beresowski! Ich schaute genauer hin: Er ist es wirklich …«

Für einen Menschen, der seit 1993 nur mit Privatjets unterwegs gewesen war, ist ein Statusverlust überaus schmerzlich. Seine schizophrene Welt verwandelte sich aus einer bunten in eine verdächtig schwarz-weiße. Als habe jemand den verhohlenen Neid in den Augen seiner Gegner ausgeknipst.

Und die ukrainische Revolution des Jahres 2004, für die BAB 38 Millionen Dollar ausgab? Ganz zu schweigen von seinen intellektuellen Investitionen in den Maidan, den wichtigsten Schlüsselort der »orangenen Revolution«, auf dem sich der Machtwechsel und Epochenwechsel vollzog. Die Nutznießer des Maidan versprachen ihm das Kontrollpaket der Aktien der ukrainischen staatlichen Telefongesellschaft Ukrtelecom. Aber danach wollte ihn niemand mehr nach Kiew einladen.

Und der Tod von Alexander Litwinenko? Ja, wir haben die Geschichte vom Polonium und den blutrünstigen Giftmischern der Russischen Föderation schon millionenfach gehört. Aber warum denkt niemand darüber nach, dass Herr Litwinenko eng mit den spanischen Behörden zusammenarbeitete und gegen einige para­kriminelle Partner von Patarkazischwili vor Gericht aussagen wollte? Warum? Immerhin hatte Patarkazischwili BAB mit Schaum vor dem Mund davon überzeugen wollen, dass der Ex-Major vom russischen Geheimdienst liquidiert worden sei. Und er schaffte es auch, ihn davon zu überzeugen. Beresowski begann erst im letzten Jahr seines Lebens daran zu zweifeln, als Patarkazischwilis wahre Rolle in seinem Leben unerwartet deutlich wurde, wie ein aufklarender Aprilhimmel.

Stunde des Lernens! Doch sehen und kennen

Wir anderes Licht – und im Morgenrot schon

Folgt ihm die andere, gesegnet zu nennen

Die Stunde der Einsamkeit – bitteres Los.

Marina Zwetajewa

Einer der Schöpfer und Symbol der vergehenden Epoche, BAB, machte in seinen letzten 13 Lebensjahren eine große Erfahrung. Danach folgte die unvermeidliche Einsamkeit. Aus der es nur einen Ausweg gab – den Schal.

Ein historisch-humanitäres Gesetz besagt, dass ein Mensch nicht wegen des Alters oder an seinen Krankheiten stirbt, sondern dann, wenn seine Lebensaufgabe erfüllt ist. Die ist in der Kartothek des Herrn festgehalten (die man nicht mit denen der Geheimdienste verwechseln sollte).

Es gibt schöpferische und parasitäre Epochen. Was immer man auch von BAB denken mag, er war ein Mensch der ersten Zeitkategorie, wie es sich für einen Schizophrenen gehört. In der Epoche des Parasitismus gab es keinen Platz für ihn. Ganz objektiv. Aber Menschen mit dieser Charakterprägung sind ja nicht in der Lage, objektiv zu denken. Beresowski richtete keine böse Verschwörung zugrunde, sondern die Paranoia der heutigen Zeit.

Ich beweine ihn, weil ich gern mit ihm zusammen war. Wir konnten zusammen nächtelang über die russische Literatur sprechen. Mit welchen Menschen seines Formats könnte man das sonst noch? Ich weiß es nicht.

Wohl kaum mit Wladimir Putin. Aber die Nähe von Putin und Beresowski blieb bis zu den letzten Tagen erhalten. Davon zeugen die unbeantworteten Briefe und WWPs Kommentare zum Ableben seines »Feindes«.

Trotz allem ist Putin eher ein Mensch als ein Politiker, das sollte man nicht vergessen.

c) Zu Putins Gegnern zählt man üblicherweise auch eine Gruppe russischer Geschäftsleute, die sich in ihrer Heimat durch ihr Vorgehen einigen Ärger eingehandelt haben.

Da wäre, zum Beispiel, Jewgeni Tschitschwarkin, der ehemalige Eigentümer von Ewroset, dem größten Netz von Mobilfunkgeschäftsstellen. 2010 wurde gegen Tschitschwarkin ein Strafprozess wegen des Verdachts auf Schmuggel von Mobilfunkgeräten angestrengt. Der Chef des Sicherheitsdienstes von Ewroset, Boris Lewin, kam deswegen sogar für einige Zeit ins Gefängnis. Tschitschwarkin selbst konnte mit seiner Familie unangetastet nach London, dem Mekka des russischen Großkapitals, ausreisen. Dort kehrte er lautstark den Gegner des »blutigen Regimes« von Waldimir Putin hervor. Die progressive Öffentlichkeit in Russland und außerhalb erkannte den Geschäftsmann praktisch als Opfer der Verfolgung durch den Kreml und Putins Feind an.

Tschitschwarkin trat oft bei oppositionellen Mahnwachen vor der russischen Botschaft in Großbritannien in Erscheinung (wobei er übrigens peinlich darauf achtete, dabei nicht zusammen mit Boris Beresowski gefilmt oder fotografiert zu werden.) Bald darauf stellte sich übrigens heraus, dass an der Firma Ewroset einfach nur deutlich einflussreichere Geschäftsleute Interesse gehabt hatten, insbesondere die Gruppe Alfa-Konsortium und Alexander Mamut. Als Tschitschwarkin seine Aktiva an die »richtigen« Käufer für den richtigen, das heißt, gesenkten Preis verkauft hatte, wurde die Strafanklage gegen den Top-Manager von Ewroset zwar nicht rasch, aber zielstrebig niedergelegt. Der Anführer des »blutigen Regimes«, Putin, blieb offensichtlich auch danach in Unkenntnis der ganzen Geschichte. Oder nehmen wir, zum Beispiel, Alexander Lebedew, den Inhaber der Nationalen Reservenbank, eben jener, der 1996 den Mitarbeitern von Boris Jelzins Wahlkampfstab den legendären »Kopier­papierkarton« zur Verfügung gestellt hatte. Herr Lebedew neigt zu allerlei Formen aufständischen Verhaltens. Er gilt als Eigentümer des Verlagshauses Nowaja Gaseta, das Putin und einigen Figuren aus seiner Umgebung durchaus kritisch gegenübersteht. Die dem Bankier gehörende Zeitung Moskowski Korrespondent versuchte 2007/08 das Geheimnis der angeblichen Affäre Putins mit der Sportlerin Alina Kabajewa zu lüften.

Lebedew erlaubte sich mehrfach ziemlich kritische Äußerungen über das in Russland herrschende politisch-ökonomische Regime. Schließlich brachte der Bankier als Minderheitsaktionär der Fluggesellschaft Aeroflot (die größte russische Fluggesellschaft hat überhaupt immer ziemliches Glück mit ihren oppositionellen Aktionären) 2012 einen der Organisatoren der Protestveranstaltungen auf dem Bolotnaja-Platz und dem Sacharowprospekt in den Direktorenrat – den bekannten Korruptionsgegner Alexei Nawalny. Kritiker des »blutigen Regimes« neigen dazu, Lebedews Schicksal vorzeitig zu beweinen und davon auszugehen, dass man den Geschäftsmann sicher bald verhaften und dann auch umbringen werde. Derartige Ereignisse lassen allerdings schon Jahre auf sich warten. Auf jeden Fall gibt es den Verdacht, Lebedews Aufmüpfigkeit werde sich in Luft auflösen (so wie Beresowskis Vermögen in der verzweigten Patarkazischwili-Familie), sobald die Aktiva der Nationalen Reservenbank an die staatliche Korporation Wneschekonombank – Entwicklungsbank verkauft sind.

Derartige virtuelle Als-ob-Feinde hat Putin viele. Nur hält Putin sie nicht für solche. Und auch die Quasifeinde würden einiges geben für ein geneigtes Lächeln des großmächtigen »Opponenten«.

Dennoch hat der Präsident einen ganz realen Gegner, der aus der Sphäre des großen Kapitals kommt, und dem man fast 13 Jahre russisches Gefängnis aufgebrummt hat. Er heißt Michail Chodorkowski. Anders als in vielen anderen Fällen mythischer »Feindseligkeit« liegt die Verantwortung für Chodorkowskis Schicksal voll und ganz bei Putin, unabhängig davon, ob der Präsident sie anerkennt oder nicht. Diese Verantwortung ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine historische.

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