Am 7. Mai 2012 geschah etwas gleichermaßen Erstaunliches wie Gewöhnliches – die Amtseinführung des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin. Es war das dritte Mal seit dem Jahr 2000, dass WWP den Kreml-Thron bestieg.
Eine Amtseinführung auf die erste Maiwoche zu legen, ist für das moderne Russland keine besonders gute Idee. Denn die Zeit zwischen dem 1. und dem 8. Mai ist in meinem Land traditionell ein »verlängertes Wochenende«, an dem alle wegfahren, um sich vom beschwerlichen russischen Alltag zu erholen – die einfachen Menschen in ihre Datscha, die Vertreter der Elite meist ins Ausland an warme Meere, wo man surfen oder sich einfach nur sonnen und Mojito trinken kann. Die einen verlassen Moskau in Vorortbahnen mit ihren zerschlagenen Scheiben und zerbrochenen Holzsitzen, die anderen mit dem eigenen Businessjet.
Als Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 vorzeitig in den Ruhestand ging, hatte er die Präsidentschaftswahlen für den 7. März 2000 ausrufen lassen. Außerdem sagt die Verfassung, dass die Amtseinführung des neuen Staatsoberhaupts am 30. Tag nach der offiziellen Verkündigung der Wahlergebnisse durch die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation erfolgen muss, die wiederum einen Monat nach den Wahlen stattfindet. 1993, als das jetzige Grundgesetz geschrieben wurde, dachten Jelzins Juristen sich diese Vorschrift eigens für den Fall aus, dass der erste demokratisch gewählte Präsident die Wahl verlieren sollte: Man hätte dann Zeit gebraucht, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen und die Spuren zu verwischen, nötigenfalls auch einen militärischen Umsturz anzuzetteln, wozu der Liebling der progressiven Öffentlichkeit, Boris Jelzin, von Zeit zu Zeit geneigt war.
Es ist also nicht möglich, einen neuen Präsidenten sofort nach der Niederlage seines Vorgängers in den Kreml zu lassen, solange »das Nest noch warm und der Vogel nah« ist. Und deswegen wird dem Präsidenten erst ganze zwei Monate nach der Wahl der Schwur abgenommen.
Selbstverständlich mussten sich alle geladenen Vertreter der Elite am 7. Mai in Moskau einfinden. Nicht einmal diejenigen, die mit Linienflügen kommen mussten, verspäteten sich. Alle wussten, wie wichtig es ist, sich in Gesellschaft des Präsidenten zu zeigen, der erneut sein Amt antritt, und, falls es sich ergibt, von ihm gesehen zu werden. Da durfte man nicht fehlen! Das Protokoll und der Sicherheitsdienst des Präsidenten hätten es dem Staatsoberhaupt auf jeden Fall gemeldet, und keine Ausrede wäre akzeptiert worden.
Zur Amtseinführung 2012 wurden fast zweitausend offizielle Gäste geladen. Darunter befanden sich gewohnheitsmäßig alle Abgeordneten beider Kammern des russischen Parlaments, Regierungsmitglieder und hochgestellte Mitarbeiter der Präsidentenadministration, die Richter der höchsten Gerichte, Vertreter der wichtigsten Konfessionen sowie die Vorsitzenden aller offiziellen Parteien einschließlich der parlamentarischen Opposition. (Die außerparlamentarische Opposition, die bei der Organisation von Großdemonstrationen gegen Putin mitwirkt, war natürlich nicht geladen.)
Der Präsident hatte auch alle seine sogenannten Vertrauensleute eingeladen – Künstler, Wissenschaftler, Sportler und sonstige lokale Größen, die Putin bei seiner Wahlkampagne zur Seite gestanden hatten, indem sie mit ihrer hohen Popularität die dankbare Wählerschaft bearbeiteten. Wohl kaum jemand im Westen kennt solche Namen wie Stass Michajlow oder Grigory Leps (der eigentlich Lepsweridse heißt und einer der wenigen Georgier ist, die Putin ertragen kann) – im heutigen Russland sind sie die angesagtesten Popsänger. Als Extraröschen auf der Torte fungierten der geschlagene Expräsident Dmitri Medwedew mit seiner Gattin Swetlana und das ebenso gestürzte, erste und letzte Oberhaupt der UdSSR, der Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow.
Besonders pikant wurde die Veranstaltung auch durch die Anwesenheit persönlicher Freunde Wladimir Putins aus dem Ausland, von denen vor allem der ewige Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi zu nennen sind. Für ihre Ankunft wurde im Regierungsflughafen extra ein Terminal reserviert. Schröder und Berlusconi nahmen am Empfang im Kreml entgegen der Amtseinweihungstradition statt, die sich bereits unter Boris Jelzin herausgebildet hatte: ausländische Gäste möglichst nicht zuzulassen. Damit zeigte Putin, dass ihm die persönliche Freundschaft um einiges wichtiger ist als Formalitäten oder Anstand.
Der offizielle Teil der Zeremonie verlief nach dem üblichen Muster und war langweilig. Die Organisatoren des Präsidialamts verwiesen darauf, dass eine Tradition erst entstehen muss und deshalb zunächst einmal nichts verändert werden sollte. Es begann damit, dass die russische Staatsflagge, die Standarte des Präsidenten, die Verfassung und die Kette mit dem symbolischen Anhänger des russischen Präsidenten feierlich in den Andrejewski-Saal des Großen Kremlpalasts getragen wurden.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Große Kremlpalast ist nicht der Ort, an dem der russische Präsident arbeitet. Die dunklen Interieurs aus Nussbaumholz, die man oft im Fernsehen zeigt, gehören zum ehemaligen Senatsgebäude des Imperiums. Der Palast dagegen wird heute vor allem für feierliche Zeremonien und VIP-Exkursionen genutzt. Man kann ihn komplett für ein Fest oder eine Hochzeit mieten, und zwar zum Preis von etwa 1 Million Euro.
Dann legte der gewählte Präsident seinen Treueschwur gegenüber dem russischen Volk ab, wobei er beteuerte, die Verfassung »zu achten und die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger zu wahren« (die Versammelten fingen nicht an zu lachen, sonst hätte man es bis weit hinter die Kreml-Mauern gehört), wonach der Vorsitzende des Verfassungsgericht, Waleri Sorkin, den Eintritt Wladimir Putins in das Amt des russischen Staatsoberhaupts verkündete.
Waleri Sorkin ist überhaupt eine bemerkenswerte Figur der neueren russischen Geschichte. 1993 versuchte er, Boris Jelzin in den Ruhestand zu schicken, weswegen er aus der hohen Richterschaft entlassen wurde und in eine lang andauernde Ungnade fiel. 2002 holte ihn Wladimir Putin wieder aus der Mottenkiste hervor, und seitdem ist er für seine Fähigkeit berühmt, alle für den Kreml unabdingbaren Entscheidungen durchzudrücken, egal ob sie verfassungswidrig sind oder nicht. So befand das Hohe Gericht des Landes unter dem Vorsitz von Herrn Sorkin die Abschaffung der Gouvernementswahlen für verfassungstreu, obwohl sie sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist des Grundgesetzes des föderalen Staates widersprach.
Nachdem er offiziell zum Präsidenten ernannt worden war, hielt Putin eine Rede, in der er nicht ohne Ironie Dmitri Medwedew für die Gewährleistung der Machtfolge dankte. Er bezeichnete die nächsten Jahre als entscheidend für das Schicksal der kommenden Generationen und sprach von der Notwendigkeit, das Land zum Zentrum der Anziehungskraft von ganz Eurasien zu machen, die Demokratie, die Menschenrechte, die Freiheit zu stärken und für die Einbeziehung der Bürger in die Lenkung des Landes zu sorgen. Keiner glaubte ihm.
Danach fand auf dem Kathedralenplatz der Aufmarsch der Präsidentenwache statt, die an diesem Tag ihr 76-jähriges Bestehen feierte. Die Amtseinführung im Kreml endete mit einem epochalen Ereignis, das von vielen, wenn nicht allen Anwesenden mit hängendem Magen erwartet wurde – einem Bankett. Ein Bankett ist in Russland mehr als nur ein Festschmaus. Alle meine Mitbürger, die älter als dreißig Jahre sind, leiden, auch wenn sie wohlhabend oder sehr reich sind, am Syndrom einer kargen Kindheit. Ständig befürchten wir, in unserem Land, unserer Stadt oder unserem Dorf könnten die Nahrungsmittel ausgehen oder es könnte eine Zeit kommen, in der man Essen für kein Geld der Welt kaufen kann.
Die Älteren unter uns können sich noch an die Zeit unter Chruschtschow oder sogar an die späte Stalin-Zeit erinnern. Ich wiederum erinnere mich gut an die Jahre 1990/91 unter Präsident Michail Gorbatschow, als die Lebensmittel komplett aus den Regalen verschwanden und es nur noch Buchweizen und Hering in Tomatensoße gab. Und wenn auf einmal Wurst auftauchte, egal von welcher Qualität, musste man dafür eine Stunde oder länger in der Schlange stehen. Überhaupt nahm nach Angaben von Soziologen die Wartezeit eines Sowjetmenschen in Lebensmittelschlangen ungefähr 20 Prozent seiner Freizeit und 5 Prozent seiner Lebenszeit ein. Wenn also jemand siebzig Jahre lebte, stand er davon dreieinhalb Jahre in Warteschlangen.
Deswegen ist jeder Empfang oder jedes Bankett, bei dem man sich kostenlos bedienen kann, selbst wenn das Essen nur mittelmäßig ist, ein großes Glück und ein Fest für alle, die am Syndrom einer kargen Kindheit litten. Wir sind es, die Kinder des sowjetischen Hungers, die der russischen Sprache das Wort chaljawa eingepflanzt haben, was bedeutet: Man kann sich ungestraft und ungehindert auf fremde Kosten den Bauch vollschlagen.
Die chaljawa bei Putin 2012 war überaus erlesen, oder wie sich der Pressesprecher der Kreml-Küche ausdrückte: Es wurde die Crème de la Crème der russischen Küche gereicht, jedoch auf europäische Art serviert. Das ist so zu verstehen, dass die Kellner keinen Sekt in den Borschtsch schütteten und den Gästen keine Julienne auf die Knie kippten. Die kalten Vorspeisen: Kammmuschel mit Gemüseblinys und einer Edelpilzsoße, geräucherter Heilbutt mit jungen Salatblättern, Rollbraten aus gebratener Ente mit Rosmarin an Kirschsauce, Meeresfrüchtesalat mit Avocadopüree. Warme Vorspeisen: gebratene Kamtschatkakrabbe mit Miniratatouille und einem Cappuccino aus Kokosmilch. Hauptspeise: Störsteak, gefüllt mit Gemüse und Sauce de Champagne.
Abgesehen von Fruchtsäften und anderen kühlen Getränken standen der Wodka Kremlin, der zehn Jahre gelagerte und ebenfalls in Russland hergestellte Cognac Kremlin sowie der russische Weißwein Pinot Aligote Selection Château le Grand Vostock 2009 und der russische Auslesechampagner Abrau Djurso 2008 zur Wahl. Alle genannten Getränke werden in Russland hergestellt und haben mit Cognac und Champagner im eigentlichen Sinne (also als Getränken, die in den französischen Provinzen Champagne und Cognac hergestellt werden) nichts zu tun. Ob man sie konsumieren kann, ohne den Verlust der Verdauung und später auch des Sehvermögens zu riskieren, weiß ich nicht, ich habe es nicht ausprobiert. Wenn Putin sein Amt antritt, ist wahrscheinlich alles möglich.
Ich kann nur sagen, dass der Abfüller des Abrau Djurso, Boris Titow, schon bald nach der Zeremonie mit dem Posten des Beauftragten für die Rechte der Unternehmer in Russland belohnt wurde. Das Amt ist fiktiv, es handelt sich um einen Ruheposten, da die Rechte der Unternehmer im gegenwärtigen Russland nur von korrumpierten Vertretern der staatlichen Organe gewahrt werden können und nicht von einem Sekthersteller. Aber Herr Titow hat sich sicher trotzdem gefreut – er konnte seinen Trank an den Mann bringen und hat sogar noch ein Pöstchen erhalten.
Übrigens wurde die chaljawa großzügig vom russischen Steuerzahler finanziert. Das Budget für das Bankett betrug 26 Millionen Rubel (fast 800 000 Dollar), das sind 400 Dollar für jeden Gast. Sie werden mir zustimmen, dass man selbst in Paris nach einem Restaurant mit drei Michelin-Sternen suchen muss, das solche Rechnung aufstellt. Organisiert wurde das Festmahl zu Wahnsinnspreisen von dem bekannten Moskauer Gastronom Arkadi Nowikow, dem Besitzer der allerteuersten Lokale der russischen Hauptstadt. Wenn Sie für Essen ein Vermögen ausgeben und dabei trotzdem hungrig bleiben wollen, sind Sie dort an der richtigen Adresse.
Das Wichtigste am 7. Mai 2012 war jedoch, dass Putin zur Amtseinführung aus seiner Vorstadtresidenz Nowo-Ogarjowo elf Kilometer durch eine absolut leere Stadt in den Kreml fuhr. Kein Mensch war in der Hauptstadt zu sehen. Das lag nicht nur daran, dass die Fahrtroute bis zum Spasski-Tor des Kremls lange vor Putins Fahrt für alle Formen menschlicher oder motorisierter Bewegung gesperrt worden wäre. Der Grund war auch, dass die gesamte Stadt Putin mit dieser vielsagenden Leere etwas zeigen wollte. Niemand wollte die Eskorte begrüßen, niemand schrie »Hurra«, niemand winkte mit Fähnchen. Niemand zeigte ihm auch nur den ausgestreckten Mittelfinger. Der Präsident befand sich in absoluter Einsamkeit – als fahre er durch die Hauptstadt eines okkupierten Landes.
Davon war in den staatlichen russischen Fernsehsendern natürlich nicht die Rede. Aber man konnte es an den Fernsehbildern leicht erkennen. Unsere Blogger luden in den sozialen Netzwerken Hunderte von Fotografien hoch, die Putins Amtseinführung ähnlichen Prozeduren in den USA oder in Frankreich gegenüberstellten, wo es große Menschenansammlungen und aufrichtigen Jubel gab. Am 7. Mai 2012 herrschte in Moskau Grabesstille.
Und all das geschah in der Stadt, wo nach offiziellen Angaben fast 47 Prozent der Wähler für Putin gestimmt hatten! Niemand ließ sein Wochenendgrundstück, sein Wodkagläschen oder den allerneusten Superthriller stehen und liegen. Das Volk zeigte für seinen gewählten Herrscher keinerlei erkennbares Interesse. Selbst in den sozialen Netzwerken – von Facebook bis Twitter – wird man kaum ein Grußwort für den zurückgekehrten Präsidenten finden. Zu 99 Prozent sind es bissige, ironische, sarkastische, teilweise offen beleidigende Anmerkungen und Kränkungen.
Vielleicht war es Putin auch gleichgültig – wer weiß? Vielleicht waren für ihn nur die Tatsache seines Sieges und seine absolute Unanfechtbarkeit in juristischer und amtlicher Hinsicht wichtig? Zumal ihm trotzdem alle Staatsoberhäupter weltweit gratulieren und alle Fragen der Legitimität seiner neuen Amtszeit im Kreml von selbst wegfallen würden. Und das Volk? Was soll mit ihm schon sein? Das Volk war schon immer das Volk.
Das mag so sein oder auch nicht. Putin ist ein zielstrebig alternder Autokrat. Und ein Regent dieses Typs möchte nicht einfach nur die Macht, deren er nach all den Jahren ohnehin überdrüssig ist. Er will Liebe. Doch stattdessen bekam er am 7. Mai nur die absolute Gleichgültigkeit seiner Hauptstadt Moskau zu spüren.
Es muss doppelt kränkend für ihn gewesen sein. Im Jahr 2000, als der Abkömmling der Sümpfe an der Ochta zum ersten Mal russischer Präsident wurde, gab es viele Erwägungen und Gerüchte über eine vollständige oder teilweise Verlegung der Hauptstadt nach Sankt Petersburg. Auch ich war ein Anhänger dieses Konzepts, und zwar aus einem einfachen Grund: Petersburg ist der russische Schlüssel zu Europa, die Stadt ist das Tor, das nach Westen weist. Moskau hingegen ist durch seine Hauptstadtfunktionen nicht nur überlastet, es symbolisiert auch viel zu deutlich die mongolische Herrschaftstradition und die Eigenarten des russischen Staatswesens. Schließlich geschah es ja unter der Mongolenherrschaft, dass Moskau zum politischen Zentrum wurde.
Deswegen hätte ich es sinnvoll gefunden, einige staatliche Organe in die nördliche Hauptstadt zu verlegen, die nicht jeden Tag tagen – den Föderationsrat, den Sicherheitsrat, die hohen Gerichte. Gleichzeitig hätte ich es aus historischer, politischer, logistischer und infrastruktureller Sicht richtig gefunden, der Stadt den offiziellen Status einer Hauptstadt Nummer zwei zu verleihen, die formal der Hauptstadt Nummer eins gleichgestellt ist, und dort eine zweite Residenz des Staatsoberhaupts einzurichten.
Eine solche Entscheidung hätte dem Geist von Petersburg, der schönsten Stadt Europas, eine Renaissance beschert. »Wenn Petersburg keine Hauptstadt ist, dann ist es nicht Petersburg«, sagte Andrei Bely, der berühmte russische Dichter und Schriftsteller des sogenannten Silbernen Zeitalters (der ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts). Anna Achmatowa schrieb, dass der Verlust des hauptstädtischen Geistes die Stadt »St. Pete« schlicht und einfach zu einem »besiedelten Ballungsraum« gemacht hat. Lew Oserow, der heute halb vergessene Versdichter aus sowjetischen Zeiten, nannte Petersburg »eine große Stadt mit regionalem Schicksal«. Eine teilweise Verlegung der Hauptstadt in den Nordwesten hätte Petersburg geholfen, diesen Provinzfluch zu überwinden.
Putins Leute hatten sich bereits darauf vorbereitet, wobei ihre Motive selbstverständlich völlig andere waren als die des Autors dieser Zeilen. Wladimir Koschin, dem Leiter des Präsidialamts, lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er sich auf Schmierzetteln ausrechnete, wie viele Milliarden Dollar man über das Projekt »Neue Hauptstadt« aus- und abschreiben konnte. (Damals konnte sich noch niemand vorstellen, welche Ausmaße das Projekt »Winterspiele 2014« in Sotschi haben würde, das mittlerweile fast mehr als 50 Milliarden Dollar geschluckt hat, wobei sich die tatsächliche Höhe der Ausgaben und Unterschlagungen erst nach Ende der Spiele zeigen wird.)
Aber Putin brachte es nicht fertig. Fast nicht fertig. Nach der Hälfte seiner zweiten Amtszeit (2006) genehmigte er nicht ohne Schwierigkeiten den Umzug des Verfassungsgerichts in die nördliche Hauptstadt. Und erst 2012, nachdem er zum dritten Mal Präsident geworden war, bewilligte er etwas weniger als 2 Milliarden Dollar für den Umzug zweier weiterer Gerichte nach Sankt Petersburg – des Obersten Gerichtshofs und des Höchsten Schiedsgerichts – nach Petersburg (eine lächerliche Summe im Vergleich zu den sonstigen Unterschlagungen von Staatsgeldern). Unter Putin war und blieb Moskau die Hauptstadt in vollem Sinne. Mehr noch – Putin brachte der großen und ihm fremden Stadt das Kapital seiner Petersburger Freunde, das sie durch Öl, Gas und andere wertvolle Bodenschätze unseres unendlichen Sibirien verdient hatten. Es waren Dutzende, Hunderte Milliarden von Dollar.
Moskau erwies sich als undankbar. Ausgerechnet hier bildete sich unter Putin eine neue soziale Gruppe heraus und ballte sich zusammen – die Gruppe der RuBiBü (Russische Bildungsbürger). An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs in die russische Geschichte angebracht.
Nach der vorherrschenden Geschichtstheorie wurde das russische Staatswesen 862 durch die Normannen (Wikinger) Rjurik, Truwor und Sineus gegründet. Damit gibt es also einen skandinavischen beziehungsweise westeuropäischen Ursprung. Doch die mongolische Eroberung des 8. Jahrhunderts und die folgenden zweihundert Jahre asiatischer Herrschaft veränderten die weitere Entwicklung. Es war im Grunde der Anfang des Moskauer Staatswesens, das folgende Voraussetzungen schuf: a) eine grausame Unterdrückung des Einzelnen durch den Staat und b) die ständige Vertiefung eines Schuldkomplexes des Einzelnen gegenüber der Macht, der von der Überzeugung genährt wird, dass der Mensch der Macht verpflichtet ist, die Macht jedoch nicht dem Menschen.
Die Russen waren seit der Mongolenzeit ihrer Freiheiten beraubt, sowohl im Alltag als auch in der Politik. Deswegen bildeten sich in Russland der Kult der »geheimen Freiheit« und ein diesbezüglicher Mythos heraus. Gemeint ist jene Freiheit, die entsteht, wenn man vor dem alles sehenden Auge des Staates verborgen ist, wenn dieser einen nicht belauschen kann und man allein ist mit Gottvater. Das ist eine höchst innere Freiheit.
Als größter Europäisierer Russlands gilt Peter I., der erste russische Kaiser (1721) und Gründer von Sankt Petersburg (1703). Tatsächlich hat er dem Russland seiner Zeit viel Europäisches gebracht – von einer geordneten Bürokratie und Armee bis hin zur Ästhetik des russischen Adelsstandes. Dennoch kann man ihn keinesfalls einen Zaren und Befreier nennen. Er setzte die äußerliche Versklavung des Volkes fort, die Bekämpfung der Vorstellung vom Menschen als einem Träger von Werten, Ideen und Praktiken staatsbürgerlichen Verantwortungsbewusstseins.
Sowohl unter den Zaren als auch unter den Kaisern und den Kommunisten strebte der russische (von 1922 bis 1991 der sowjetische) Staat auf härteste Weise eine Kontrolle des Menschen in allen seinen Äußerungen und Bedürfnissen an: was er isst, trinkt, liest, hört, was er anzieht, welches Sexualleben er führt, was er träumt und so weiter. Der Staat war stets ein strenger Lehrer. Dem Volk hingegen kam die Rolle des notorisch nachlässigen Schülers zu: Schlägt man ihn mit dem Lineal auf die Finger, ist das ein Zeichen von Zuneigung. Schlägt man ihn nicht, dann wird nichts aus ihm. Dann verschwindet er in den unermesslichen Weiten des harten russischen Winters, der bei uns ein halbes Jahr dauert, in manchen Gegenden im Norden auch länger.
Der Russe ist historisch gesehen nicht daran gewöhnt, ein Staatsbürger zu sein. Und die Russen im Ganzen haben sich immer am ehesten als Bevölkerung gesehen, mehr als Verwaltungsobjekt denn als Volk, Subjekt und Machtquelle.
Obwohl das totalitäre Imperium 1991 gescheitert war, hatten sich die leibeigenschaftlichen Tendenzen unter dem ersten Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, aus Trägheit immer noch erhalten. 1990 gab es in vollem Maße ein aktives und passives Wahlrecht. Gleichwohl wurde es spezifisch angewandt: Nur äußerst zynische oder völlig blauäugige Beobachter sind nicht der Auffassung, dass die Präsidentschaftswahlen 1996, bei denen Jelzin zum zweiten Mal Staatsoberhaupt wurde, gefälscht waren.
Aber auch unter Jelzin war das russische Volk in vielem noch den alten Zwängen unterworfen. Denn über das postsowjetische Russland brach eine himmelschreiende Armut herein, der Feind Nummer eins für Freiheiten des alltäglichen Lebens. Die offizielle Propaganda, die, entgegen der späten liberalen Mythenbildung, in den 1990er-Jahren in Russland quicklebendig war, vermittelte mal deutlich, mal unterschwellig eine konkrete Botschaft: Wie schlimm es auch sein mag, die einzige Alternative zu Jelzin ist die kommunistische Hölle mit dem dazugehörenden Gulag.
Und dann tauchte zum Jahreswechsel 1999/2000 auf einmal Putin auf. Er wirkte wie ein gewöhnlicher Bürger, der wie ein moderner westlicher Mensch leben will. Natürlich konnte er das nicht richtig zum Ausdruck bringen, vor allem nicht am Anfang. Um sich als Träger einer bestimmten historischen Tradition zu legitimieren, musste WWP ständig zur imperialen Rhetorik greifen und demonstrativ dem unermesslichen Schlachtkörper Russland von den zerschundenen Knien aufhelfen. Das forderten die Spielregeln. Denn Putin war durch das Blut und den Schmutz der detonierten Hochhäuser der Moskauer Vorstadt und durch die Kanonade des zweiten Tschetschenien-Kriegs in den Kreml gedrungen.
Praktisch jedoch tat der zweite Präsident alles, um die russischen Bürger den Geschmack alltäglicher Freiheiten kosten zu lassen. Er führte eine einheitliche Einkommenssteuer von 13 Prozent ein – das war damals der niedrigste Steuersatz in Europa. Sicher kam dies vor allem den Superreichen und den Begünstigten der großen Privatisierung der 1990er-Jahre zugute, die nun einen Teil ihres Geldes innerhalb von Russland legalisieren konnten. Aber es waren auch die im Vorteil, die wenigstens etwas Geld verdienten oder verdienen wollten.
Putin erlaubte den Russen, im Ausland uneingeschränkt Konten zu eröffnen (unter Jelzin hatte es in dieser Hinsicht noch Einschränkungen gegeben). Damit rieselte auf das ungefestigte Haupt des russischen Bürgers das längst vergessene Geld: Der Erdölpreis begann zu steigen, und auch die Gehälter wurden wieder rechtzeitig ausgezahlt (unter Jelzin konnte sich die Zahlung bis zu einem halben Jahr oder länger verzögern). Und schließlich wurde auch ein System von Verbraucherkrediten geschaffen. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten oder den 1990er-Jahren musste der russische Mittelständler nun nicht erst lange für eine ausländische Waschmaschine oder ein Auto sparen – er konnte alles sofort haben, auf der Stelle.
Im Gegenzug bat Putin den russischen Bürger leise, aber deutlich vernehmbar, nur auf eines zu verzichten: auf ernst zu nehmende Wahlen. Wozu wollt ihr wählen und gewählt werden?, schien er seine Mitbürger zu fragen. Denn die Macht in Russland kommt schließlich auf eine außerirdische, marsianische Weise zustande und nicht in den Wahlbezirken. Und wenn ihr jemanden wählen wollt, was Gott verhüten möge, und es tatsächlich tut, dann wird alles nur schlimmer – denkt an Jelzin!
Putins Pakt der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts bestand entgegen der Meinung vieler oberflächlicher Analytiker also durchaus nicht in einem Tauschangebot Freiheit gegen Wurst. Es war ein Tausch der Freiheit gegen Freiheit. Der Freiheit im Alltag, die das russische Volk vor Putin nie gesehen hatte, gegen die politische, von der es während Gorbatschows Perestroika (1987 bis 1991) gekostet hatte und trunken geworden war, wobei der Kater danach recht unerfreulich ausfiel.
Die Menschen, denen man diese Alltagsfreiheit zugebilligt hatte, fingen nicht nur an, ihre Socken in guten Waschmaschinen von AEG und Bosch zu waschen. Sie begannen auch zu reisen, und zwar durch die ganze Welt. Unter der sowjetischen Macht war das Reisen politisch reglementiert – es gab Ausreisevisa, und die bekamen nur wenige. Unter Jelzin gab es keinerlei Notwendigkeit für Reisevisa mehr, aber es fehlte das Geld. Daher blieben für den russischen Durchschnittsbürger nur Länder übrig, die die Visaregelung mit der Russischen Föderation rechtzeitig geändert hatten, um damit ihre eigene Tourismusbranche zu kultivieren: Ägypten, die Türkei und im besten Fall Zypern.
Unter Putin gingen wir dann schließlich auf große Fahrt: von Deutschland bis in die USA, von den Cook Islands bis nach Jamaika. Die Russen bekamen zum ersten Mal Europa zu Gesicht – im breiten, globalen Sinne des Wortes. Und wer Glück hatte, begriff über Europa die drei wichtigsten, unabdingbaren Tatsachen:
•Eine real funktionierende Demokratie ist möglich, sie macht aus dem Menschen einen Bürger und muss nicht unbedingt in Chaos und Zerstörung enden.
•Ein Mensch kann sich nur dann achten, wenn er sich selbst für einen Bürger hält und der Staat und die Gesellschaft es ebenso tun.
•Die grundlegende europäische Idee besteht in der Banalität des Guten. Um ein Gefühl der eigenen Würde zu entwickeln, muss man nicht unbedingt Heldentaten vollbringen und sich selbst ans Kreuz schlagen; es ist vollkommen ausreichend (und unabdingbar), sich um seine Kinder zu kümmern, rechtzeitig Steuern zu zahlen und den Müll zu trennen, die Verkehrsregeln und auch sonst alle Gesetze zu beachten, und zwar deshalb, weil man es für unabdingbar hält, und nicht, weil man bei einer Übertretung hart bestraft wird.
Letztere These war den Russen immer besonders schwer zugänglich. Nicht umsonst sagte der bekannte Denker Konstantin Leontjew, dass der Russe zwar ein Heiliger sein kann, aber dabei nicht redlich sein muss. Damit entstand ein qualitativ neuer Stand, den es kurz zuvor noch nicht gegeben hatte. Oft nennt man ihn den »zornigen Bürger«, aber ich würde einen soziologisch genaueren Begriff vorziehen: der Russische Bildungsbürger (RuBiBü).
Alle drei Wörter sind hier gleichermaßen wichtig.
Russisch – das heißt, sich der russischen Kultur zugehörig fühlend und das Russische als Muttersprache betrachtend, unabhängig von der ethnischen Herkunft: Zu den Russischen Bildungsbürgern kann man sowohl Juden als auch Georgier oder Aserbaidschaner zählen. Wichtig ist nur, dass das Russische Bildungsbürgertum den Mainstream bildet und keine Diaspora.
Bildung – sie verfügen über eine humanistische Bildung in dem Umfang, der in der sowjetischen Bildungstradition angelegt ist, darunter auch durch Autodidaktik, die in der russischen Gesellschaft schon immer eine besondere Bedeutung hatte. Die Nachfrage nach Bildung als höchster Ausdruck der europäischen Moderne war im sowjetischen Totalitarismus besonders groß, und zwar unabhängig davon, inwieweit die Sowjetmacht selbst bereit war, für das Bildungsniveau zu garantieren.
Bürger – das ist überhaupt das Schlüsselwort. Aus der europäischen Geschichte wissen wir, dass die Stadt als Zentrum sowohl der Entstehung als auch der Existenz eines Phänomens gilt, das wir als »bürgerliche Gesellschaft« kennen. Auf dem Dorf, wo die Zeit nicht nach Stunden, sondern nach dem Sonnenstand gemessen wird, kann es keine bürgerliche Gesellschaft geben.
Die Städte waren die Entstehungsorte des modernen Kapitalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Entgegen der weit verbreiteten und allgemein bekannten Theorie von Max Weber bestand die Zauberquelle des Kapitalismus weniger in der protestantischen Ethik, die sich über alles ergoss, als vielmehr in der Wiedergeburt der italienischen Stadtstaaten (Florenz, Venedig, Mantua und andere). Die Stadt verhält sich zum Imperium primär und ist einerseits sein Antagonist und andererseits sein Prototyp und Vorläufer. Nicht umsonst wurden alle »alten« Imperien nach den Städten benannt, die sie hervorgebracht hatten (Römisches Reich, Byzantinisches Reich und so weiter).
Auch wir waren bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zunächst die Kiewer Rus und dann eher Moskowien als Russland (und die Russen waren Moskowiter). Erst mit dem Zerfall des »ersten Kreises« der Imperien tauchte der Begriff »Land« auf, der seinem Sinn und Wesen nach »Außenbezirk«, »Provinz«, »Dorf« bedeutet. Das lässt sich ebenso leicht in den europäischen Sprachen nachvollziehen: country, pays, paese sind gleichzeitig »Land« wie auch »Dorf, ländliche Gegend«.
Zwei russische Modernisierungsbewegungen – die von Peter dem Großen und die der Kommunisten – begünstigten die Urbanisierung, wenn auch in verzerrter Form (eine unverhältnismäßig große Rolle und Aufmerksamkeit wurde den Hauptstädten zuteil, was zulasten einer infrastrukturellen Entwicklung anderer Städte ging). Die Sowjetmacht schaufelte Russland als Bauernland endgültig das Grab: Viele Millionen Menschen zogen aus den Dörfern in die Städte, es entstand eine große Anzahl städtischer Siedlungen. Während sich die Revolution von 1917 in einem Agrarland vollzog, waren es in der späten UdSSR bereits die klassischen Städte, von denen das Diktat der Mode und der grundlegenden Bedürfnisse ausging. Das führte schließlich zum Zerfall des sowjetischen Imperiums, das genetisch auf Autarkie und Isolierung gepolt gewesen war.
Die erste postsowjetische Macht in Russland, nämlich die von Jelzin zu Beginn der 1990er-Jahre, war eine städtische. Mit der Zeit jedoch hat sich die Situation qualitativ verändert. Die heutige Macht (Putin, »Einiges Russland« und andere Elemente dieses Machtgebildes) stützt sich im Wesentlichen auf das Dorf (das immer noch existiert, wenn auch in schwer depressivem Zustand bis hin zum augenscheinlichen Absterben), auf Desadaptierte der Stadt (das Lumpenproletariat und andere, die nicht in den modernen Kapitalismus integrierbar sind, auch wenn er dreimal so sozial wäre), auf nationale Randbezirke (also faktisch andere Länder im russischen Verbund).
Aktive, denkende Städter, die in diesem Staat die städtische Mentalität verkörpern, werden automatisch der Opposition zugerechnet und gehören sogar dann zu ihr, wenn sie selbst davon nichts wissen. Das trifft auch auf das RuBiBü zu. Zum ersten Mal nach langer Zeit gibt es in Russland echte Bürger, die fähig und bereit sind, eine bürgerliche Gesellschaft von unten aufzubauen. Allein. Ohne Kopfnuss und ohne in den Rücken geschubst zu werden. Ohne hysterisches Geschrei und ständige Mahnungen, für ein »kommendes Morgen« Entbehrungen zu ertragen.
Und so erklärten sie Putin am Tag seiner Amtseinführung den Boykott und Moskau zur »geschlossenen Stadt«. Warum? Weil die Präsidentschaftswahlen 2012 ein Witz waren, der ihre Würde verletzte. Und sie gaben Putin ihre Antwort, in vollem Bewusstsein ihrer eigenen Stärke und nicht mehr dem treu ergebenen Untertanengeist folgend, den er erwartet hatte.
Auch die Dumawahlen von 2011 hatten sie so eingeschätzt. Deswegen versammelten sich am 10. Dezember 2011 50 000 Menschen auf dem Bolotnajaplatz und am 24. Dezember 100 000 auf dem Sacharowprospekt, den beiden Schlüsselpunkten im Zentrum Moskaus. Weder die Regierung noch die Opposition hatte eine solche Zahl von Demonstranten erwartet. Die letzten Massenversammlungen hatte es in Moskau 1990 gegeben, als die von den Kommunisten schwer enttäuschte, spätsowjetische Gesellschaft auf dem Manegeplatz zusammengekommen war. Allerdings hatte es sich dabei noch nicht um einen durchdachten Protest des Russischen Bildungsbürgertums gehandelt, sondern um einen gewöhnlichen russischen Aufstand, der, wenn auch zutiefst friedlich, auf ein gewöhnliches russisches Wunder gehofft hatte, dessen Verkörperung zu diesem Zeitpunkt Boris Jelzin gewesen war. Seither hatte es nichts Vergleichbares gegeben.
Dem Kreml jagte das RuBiBü einen realen Schrecken ein.
Ich erinnere mich daran, wie ich am 10. Dezember 2011 nach der Demonstration auf dem Bolotnajaplatz halb Moskau zu Fuß durchquerte – von der ehemals legendären Schokoladenfabrik Krasnyj Oktjabr, wo sich der Kultsender Doschd der Russischen Bildungsbürger befindet, bis zu einer Reihe von Imbissen auf dem Twerskoi-Boulevard. Und nachdem ich insgesamt nicht weniger als eine Flasche Wodka getrunken hatte, geriet ich, ohne eingeladen gewesen zu sein oder ein Geschenk mitgebracht zu haben, in ein ehrenwertes Haus, wo ich bis in die Morgenstunden Gedichte rezitierte. In dieser Runde klang nicht einmal der sonst so schwergewichtige Chodassewitsch allzu pathetisch – »ach Russland, du Riesenreich, saugend deine Zitzen fassend, erwarb ich unter Qual das Recht, zu lieben dich oder zu hassen«. Aber meine Glanzrolle hatte ich mit Boris Slutzki:
Gut und Böse sitzen am Tisch.
Gut will gehen, und Böse steht auf …
(Den Bezugsschein habe ich frisch
für den Apfel, Erkenntnis zu kaufen.)
Gut trägt einen knittrigen Hut.
Böse zieht Dienststiefel an.
(Ich glaube, die Last bin ich los
Und alles auf der Erde ist klar.)
Ich höre, wie Böse laut redet:
– Diesmal hattest du Glück. –
Und reicht Gut die helfende Hand,
Und hört: – Ich brauche sie nicht.
Böse kneift die Lippen zu,
Gut zeigt seinen löchrigen Mund,
Zähne zerbrochen, oder sie fehlen,
eine Ruinenlandschaft ist da.
Gut reißt den Mund noch weiter auf,
Gut lacht mit zahnlosem Mund.
Und ich erlebe ein Glücksgefühl –
dass ich diesen Tag erleben darf.
Da begriff ich, dass Moskau nie wieder Putins Stadt sein würde. In seiner Hauptstadt war er nun ein einsamer Mann, nur in Gesellschaft seiner zwei Hunde, des Labradors Conny und des Schäferhunds Baffy, sowie zweier getreuer Gespenster, Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi. Sie winken ihm aus der Ferne zu und flüstern mit satten Lippen: Lass es und halt durch, alles wird sich beruhigen und festigen!
Aber nichts beruhigt und festigt sich. Das russische Bildungsbürgertum nimmt Putin nicht mehr an. Sie werden einen Zusammenbruch des Putinismus erreichen, sowohl als politisches System wie auch als Philosophie der Lenkung der »Bevölkerung«. Wie viel Zeit ihm bleibt, das werden wir sehen. In der Geschichte ist die Qualität einer Entwicklung oft wichtiger als ihr Tempo.